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Schockierende Wahrheiten
»Oh mein Gott!«, rief Polina, als Siggi ihr von ihrem Versuch berichtet hatte, die Alarmanlagenfirma anzurufen. »Die Firma gibt es nicht? Und ich habe den Typ auch noch überall herumgeführt und ihm sogar den Code gegeben. Ich habe mir überhaupt keine Gedanken gemacht. Ich dachte, das hätte alles seine Richtigkeit. Ich hätte Magda noch einmal fragen sollen, doch ich wollte sie nicht damit belästigen. Sie hatte ja gerade genug Stress mit der Trennung, der Tournee und allem.«
»Hat Lenka Ihnen erzählt, dass sie schwanger war?«
Polina riss erschrocken die Augen auf. »Woher wissen Sie …?«
Siggi erzählte von dem Buch im Strandkorb und der Ultraschallaufnahme, die sie darin gefunden hatte. »Und da die Polizei offenbar Bescheid wusste, habe ich es für mich behalten.«
»Das ist sehr anständig von Ihnen, Siggi. Kommen Sie, ich muss mich dringend setzen. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.« Polina ging voraus ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Sie stützte den Kopf schwer in die Hände. »Das darf doch alles nicht wahr sein«, sagte sie. »Möglicherweise habe ich den Mörder meiner Schwester ins Haus gelassen und ihm gezeigt, wie er die Alarmanlage abschaltet.«
Siggi wusste nicht, was sie sagen sollte. Es stimmte, allerdings wollte sie es nicht so hart ausdrücken und Polina noch mehr aufwühlen. »Sie wussten von Lenkas Schwangerschaft?«, fragte sie stattdessen noch einmal.
»Nein. Ich habe es erst von der Polizei erfahren. Ich war vollkommen schockiert. Ich konnte kaum glauben, dass Magda sich umgebracht haben sollte – schon gar nicht, wenn sie schwanger war -‍, und dann dachte ich, möglicherweise fühlte sie sich mit allem überfordert und hat nur noch schwarzgesehen. Sie hatte schon früher zeitweise mit Depressionen zu kämpfen und hatte Probleme mit Medikamenten. Ich hab mir Vorwürfe gemacht, weil ich nichts gemerkt habe. Sie haben sie ja auch erlebt. Sie wirkte nicht verzweifelt oder niedergeschlagen. Ich habe mich ständig gefragt, wie ich so etwas übersehen konnte. Aber ich habe nie an der Version der Polizei gezweifelt, doch jetzt … Warum sonst sollte jemand sich als Mitarbeiter der Alarmanlagenfirma ausgeben und sich von mir alles zeigen lassen?«
»Na ja, es könnte auch ein verrückter Fan gewesen sein, der Ihre Schwester zu Hause stalken wollte.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, sie hat möglicherweise Fabian von der Schwangerschaft erzählt, und der ist in seiner Eifersucht durchgedreht.«
»Sie glauben, Fabian Guldsteen hat Ihre Schwester getötet?«, fragte Siggi zweifelnd.
»Na ja, wer sollte sonst einen Grund gehabt haben?« Polina schniefte. Ihre tränenfeuchten braunen Augen hefteten sich auf Siggi und musterten sie eindringlich. »Sie wissen noch irgendetwas, nicht wahr?«
Siggi überlegte krampfhaft, was sie Polina erzählen konnte, ohne Ärger zu riskieren. Sie nickte nur.
»Bitte sagen Sie mir alles, was Sie wissen«, drängte Polina. »Wenn jemand meine Schwester getötet hat und es auch nur die kleinste Chance gibt, dass wir ihn erwischen, muss ich einfach alles versuchen. Bitte halten Sie nichts vor mir zurück.«
Siggi begann zu erzählen. Von ihren Zweifeln an der Selbstmordtheorie der Polizei, ihrem Entschluss, sich selbst ein Bild zu machen, und der Spur, die über den Fund des Buches im Strandkorb und die Information aus der Bücherkiste direkt zu Gabriel von Gnietschfleth geführt hatte. Polina hörte staunend zu. Ab und zu flammte ein wütender Ausdruck in ihrem Gesicht auf, doch sie ließ Siggi erzählen, ohne sie zu unterbrechen.
»Ich kann das alles gar nicht fassen!«, rief sie schließlich. »Sie hatte eine Affäre mit diesem von Gnietschfleth, und dieses Schwein hat …« Sie schluchzte trocken auf und wischte sich über die Augen. »… er hat sie umgebracht, um seine Karriere und seine Ehe nicht zu gefährden?«
»Für mich deutet alles darauf hin«, bestätigte Siggi leise.
»Das würde auch erklären, warum es keine Einbruchspuren gab. Entweder, er hat den Schlüssel aus dem Versteck benutzt, oder Lenka hat ihn selbst hereingelassen. Wir müssen sofort die Polizei verständigen. Moment, Kommissar Christiansen hat mir doch seine Karte gegeben«, sagte Polina und stand auf. Sie suchte in ihrer Handtasche, fand die Visitenkarte und ging hinüber zum Küchentresen. Dort nahm sie das Telefon aus der Ladeschale und wählte die Nummer. »Polina Rybakova. Ich muss dringend mit Kommissar Christiansen sprechen. Es geht um den Tod meiner Schwester. Ich habe den dringenden Verdacht, dass sie ermordet wurde … Sicher, ich bleibe dran.«
Es dauerte eine Weile, dann begann sie wieder zu sprechen. Sie legte dem Kommissar in knappen Worten dar, was sie herausgefunden hatten. »Sie müssen sich Gabriel von Gnietschfleth sofort vornehmen. Ich bin mir sicher, dass er dahintersteckt.« Polina hörte Christiansen zu, der ihr offenbar etwas erklärte. »Ich habe verstanden. Ja. Vielen Dank, Herr Kommissar.«
»Und? Was hat er gesagt? Hat er Ihnen geglaubt?«
»Ich bin nicht sicher. Er meinte, dass er jemanden zu den von Gnietschfleths rausschickt, doch wenn Sie mich fragen, hörte er sich nicht überzeugt an.«
»Und jetzt?«
»Ich weiß nicht, was mit Ihnen ist, Siggi, aber ich sitze hier nicht dumm herum und warte. Ich werde diesen Mistkerl selbst zur Rede stellen!«, rief Polina und griff nach ihrer Tasche.
»Sie wollen hinfahren?« Siggi schüttelte den Kopf. »Aber Polina, das könnte gefährlich sein! Sie wissen doch nicht, wie er reagiert, wenn Sie ihm auf den Kopf zusagen, dass Sie ihn für einen Mörder halten.«
»Na und? Er muss zur Rechenschaft gezogen werden. Ich glaube nicht, dass er mich offen aggressiv angehen würde. Dass er Magda betäubt und dann erst ertränkt hat, zeigt doch zur Genüge, was für ein elender Feigling er ist. Siggi, ich muss einfach! Ich möchte es von ihm selbst hören. Er soll mir dabei in die Augen sehen.« Polina wandte sich zum Gehen.
Siggi seufzte. Sie konnte Polina auf keinen Fall allein zu einem Mörder fahren lassen, auch wenn es klüger gewesen wäre, auf die Polizei zu warten. Sie ahnte jedoch, dass es ihr nicht gelingen würde, die aufgebrachte Polina davon abzuhalten, von Gnietschfleth aufzusuchen, also war es wohl besser, sie wenigstens zu begleiten. »Warten Sie, ich gehe noch schnell zur Toilette, und dann komme ich mit.«