Lucretia war immer noch beleidigt, auch wenn inzwischen einige Tage vergangen waren. Sie pfiff auf Quintus und seine Ermittlungen! Eigentlich konnte sie sich über ihr bequemes Dasein doch nicht beklagen, redete sie sich ein. Warum hatte sie sich in die Leben anderer eingemischt, die sie nichts angingen, wenn die eigentliche Herausforderung darin bestand, das eigene in den Griff zu bekommen? Vielleicht lag ihre Mutter doch richtig, und was ihr zur Zufriedenheit fehlte, war nie Anerkennung oder ein Beruf gewesen, sondern tatsächlich ein Ehemann. So hatte sie sich an diesem Morgen spontan auf einen neuerlichen Verkupplungsversuch eingelassen. Cäcilia, die das Arrangement dieses Mal immerhin angekündigt und nicht wie einen Hinterhalt inszeniert hatte, war froh, dass ihre Tochter offenbar endlich den törichten Widerstand aufgegeben hatte. Sie hatte höchstpersönlich die Rolle der Ornatrix übernommen und zwei Stunden lang an Lucretia herumgepinselt. Dabei herausgekommen war eine sehr konservative Aufmachung, die Lucretia älter wirken ließ, als sie war. Auch wenn die Mutter ihr Bestes gegeben hatte, so war sie doch kein Ersatz für ihre schmerzlich vermisste Nephele – weder als Kosmetikerin noch als Vertraute.
Doch als sie das Forum betraten, versuchte Lucretia, zuversichtlich zu sein. Sie wollte weg von den Ermittlungen, von Quintus und den Gedanken, die sie mit ihm verbanden. Es gab eine Menge attraktiver junger Männer in der Colonia, und nach so vielen Reinfällen schuldete ihr das Schicksal eine anregende Begegnung, befand sie. Doch der Bursche, den Cäcilia für ihre Tochter ins Auge gefasst hatte, entpuppte sich charakterlich als Totalausfall. Während er sich das ganze Gespräch hindurch mit Naschereien den Magen vollschlug, konnte er nicht aufhören, mit dem Reichtum seiner Familie zu protzen, wobei er so tat, als habe er mit ihm eine große Bürde zu tragen. In diesen unsicheren Zeiten gliche ein solcher Wohlstand einer Zielscheibe auf der Brust. Und mit der Hygiene nahm es der Prahlhans auch nicht genau, seine ungepflegten Fingernägel und die Angewohnheit, die schmierigen Hände an seiner Toga abzuwischen, widerten Lucretia an. Ihr wurde klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und sie musste ihre gesamte Willensstärke aufwenden, nicht immer wieder mit den Augen zu rollen. Stattdessen ließ sie das Gespräch stoisch über sich ergehen, bis es zu einem förmlichen Abschied kam. Selbst Cäcilia musste nach diesem Reinfall zugeben, dass sie auf den Falschen gesetzt hatte, und das wollte schon einiges heißen. Lucretia war nicht nach weiteren Begegnungen zumute, und während ihre Mutter noch einkaufen ging, steuerte sie lieber den sicheren Hafen der eigenen vier Wände an.
Als sie ins elterliche Haus zurückkehrte, überraschten sie unerwartete Geräusche. Sie vernahm ein lautes Krachen und die Stimme eines fremden Mannes. Ihr Herz pochte.
Die Germanen , schoss es ihr durch den Kopf, jetzt rauben sie uns auch noch aus!
Doch als Lucretia genauer hinhörte, war es weder das Zerbersten von Geschirr noch Wolfsgeheul, das an ihr Ohr drang, sondern vielmehr ein rhythmisches Stampfen, das sich anhörte, als würde ein gewaltiger Hammer auf eine harte Oberfläche schlagen.
Lucretia ließ sich von ihren Ohren leiten, und das dumpfe Klopfen wurde immer lauter, je näher sie dem Schlafzimmer ihrer Eltern kam.
Lucretia sah sich um, das Haus war wie ausgestorben. Vorsichtig lugte sie ins elterliche Schlafgemach. Sie erblickte ihren Vater, der mit verschränkten Armen in einer Ecke stand, und einen zweiten Mann, einen Fremden, beobachtete – kleingewachsen mit massiven Oberarmen. Offenbar war er ein Handwerker und gerade dabei, die Wand hinter dem Ehebett, das etwas zur Seite gerückt worden war, mit einer Spitzhacke zu bearbeiten. Putz und Steinchen flogen bei jedem mächtigen Hieb, den der Mann der Wand zufügte, umher, und es war so, als würde das ganze Haus unter den kräftigen Schlägen erzittern.
»Vater, was ist denn hier los?«, fragte Lucretia überrascht.
Magnus drehte den Kopf und sah sie an. Er wirkte ertappt.
»Bist du nicht mit deiner Mutter unterwegs?«, fragte er unwirsch, obwohl er die Antwort ja vor sich sah.
»Was soll das, Vater? Wozu die Geheimniskrämerei?«, wollte Lucretia wissen.
»Je weniger Leute hiervon wissen, desto besser«, murmelte Magnus, während er näher kam.
Der Handwerker wischte sich kurz den Schweiß von der Stirn und schlug dann weiter auf die Wand ein. Dort bildete sich, etwa auf Brusthöhe, eine Ausbuchtung im Gemäuer. Der Mann stellte die Hacke mit einem lauten Ruck ab und nahm nun einen Hammer und einen Meißel aus einem Beutel, der auf dem Bett lag, um mit der Feinarbeit zu beginnen.
»Was hier geschieht, darf keiner wissen. Ich möchte, dass du niemandem davon erzählst«, mahnte Magnus.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß doch gar nicht, worum es geht.«
Da erblickte sie auf dem Bett, neben dem Werkzeugbeutel des Handwerkers, ein metallisches Objekt. Einen dickwandigen Kasten aus Eisen, etwa einen Fuß lang und einen halben breit, mit einer offen stehenden, dicken Tür an einer Seite.
»Ist das ein Tresor?«, fragte Lucretia und kam interessiert näher. Sie hob den Kasten an. Er war sehr schwer. Was auch immer darin verborgen werden würde, würde sicher sein.
»Ich werde unsere wertvollsten Besitztümer darin deponieren«, nickte Magnus.
Lucretia sah den Handwerker an, der ganz in seine Arbeit vertieft war. Die Aushöhlung für das Geheimfach nahm langsam Gestalt an.
»Der Handwerker ist aus Bonna, er kennt hier niemanden, also wird er auch nichts ausplaudern«, flüsterte Magnus ihr zu. Sie war erstaunt, ihren Vater so ängstlich zu sehen.
»Meinst du, dass das wirklich nötig ist?«
»Natürlich! Du weißt doch, was in den letzten Wochen geschehen ist. Wer keine Vorsichtsmaßnahmen ergreift, wird es vielleicht bald bereuen«, raunte er. In seinem Blick lag eine Besorgnis, wie Lucretia sie nur ein einziges Mal bei ihm gesehen hatte – damals, als ihre Schwester vor ein paar Jahren eine sehr große Dummheit angestellt hatte.
»Nun, schaden kann es sicher nicht«, lenkte Lucretia ein.
»Noch wichtiger als unser Gold ist mir euer aller Leben«, fügte der Vater hinzu, »deshalb kommt morgen ein Schlosser. Er wird ein gusseisernes Tor vor der Haustür installieren, dann können es die Schurken nicht aufbrechen. Jeder, der in meinem Haus lebt, soll sicher sein. Wenn die Stadtwache schon unfähig ist, unsere Leben zu schützen, dann müssen wir das eben selbst tun!«
Magnus nahm seine Tochter in den Arm und drückte sie fest an sich. Sie verstand, dass er große Angst hatte, und das Gefühl verwirrte sie. Sie hatte ihren Vater, der als Soldat so viel durchlebt hatte, der durch die Hölle des Krieges gegangen war, immer als furchtlos empfunden. Aber hier und jetzt, unter diesen Umständen, hatte ihn die fast wahnhafte Vorstellung ergriffen, dass er jeden, den er liebte, und alles, was er sich erarbeitet hatte, verlieren würde. Und er war wahrscheinlich nicht der Einzige in der Colonia, der so dachte.
»Ich will euch nicht weiter stören. Ich habe nichts gesehen und ich weiß von nichts«, sagte sie schnell, und ihr Vater nickte ihr dankbar zu.
Lucretia lief unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. So fest sie sich vorgenommen hatte, keine Zeit mehr mit der Ermittlung zu verschwenden, so sehr nagte der Gedanke an den Tresor an ihr. Quintus hatte doch bei ihrem Streit, der mittlerweile fast eine Woche her war, darüber geredet, dass in der Villa der Bulbos ein Geheimfach gewesen war, das die Räuber geplündert hatten. Irgendetwas sagte Lucretia, dass das wichtig war. Doch warum? Und was übersah sie? Noch dazu beschlich sie zunehmend ein schlechtes Gewissen. Hatte sie sich nicht geschworen, Nepheles Tod zu rächen? Durfte sie so einfach aufgeben?
Das Rätsel ließ ihren Jagdinstinkt wieder aufflackern – und plötzlich wusste sie, was sie störte: Was, wenn auch Aemilius Bulbo ein solches Geheimnis um seinen Tresor machte wie ihr Vater? Wie hatten die Einbrecher dann das Geheimfach der Bulbos finden können? Außer … Sie schüttelte den Gedanken ab. Sicherlich gab es eine logische Erklärung.
Eine Stunde später saß Lucretia im Tablinum des prunkvollen Anwesens der Bulbos dem Hausherrn gegenüber. Das Licht, das durch das extravagante gläserne Deckenfenster fiel, erleuchtete den Schreibtisch des Händlers, machte Staubpartikel in der Luft sichtbar und ließ das graue Haar von Aemilius Tullius Bulbo glänzen. Lucretia kannte die Familie schon lange, und der Mittvierziger mit dem etwas trüben Blick und den Tränensäcken unter den Augen, die ihn ein bisschen wie einen freundlichen alten Hund wirken ließen, freute sich, Lucretia wiederzusehen.
»Es ist lange her. Du bist eine richtige Frau geworden«, sagte er anerkennend.
»Ich weiß selbst nicht, wo die Zeit hin ist.«
»Du bist längst verheiratet, nehme ich an? Eine Schönheit wie du …«, schmeichelte ihr der Dominus.
»Bisher nicht. Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden«, antwortete Lucretia freundlich, hatte aber nicht vor, das Thema zu vertiefen, bevor Bulbo noch versuchen würde, ihr seinen Sohn Titus schmackhaft zu machen. Mit Grauen erinnerte sie sich an die Begegnung bei dem Fest von Claudia.
»Kann mich noch erinnern, als du so groß warst.« Er machte eine Geste mit der Hand neben der Tischkante. »Du bist beim Spielen mit Titus einmal ins Becken gefallen, und als ich dich rausgezogen habe, hattest du eine Seerose auf dem Kopf. Stand dir gut«, lachte er.
»Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen«, entgegnete Lucretia mit einem bemühten Lächeln, hoffend, dass der peinliche Moment nicht breiter ausgewalzt würde.
»Wie kann ein alter Mann wie ich dir helfen?«, kam er nun glücklicherweise zum Punkt. Er schien zu spüren, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.
»Es geht um den Überfall von vor einer Woche«, setzte Lucretia an.
»O ja, meine Frau ist immer noch ganz mitgenommen. Titus und ich waren verreist, und als wir zurückgekommen sind, war bereits alles wieder hergerichtet, so als sei nichts passiert. Aber auch meinen Sklaven steckt die Angst noch in den Knochen. Es muss schrecklich gewesen sein, plötzlich Fremde im Haus zu haben und so hilflos zu sein. Diese verdammten Barbaren, warum hält die auch keiner auf?«, empörte sich Bulbo.
»Nun, vielleicht gelingt es, sie dingfest zu machen, wenn wir mehr über die Vorgänge wissen«, sagte Lucretia.
Bulbo sah sie überrascht an.
»Wie ungewöhnlich, meine liebe Lucretia. In welcher Funktion stellst du denn solche Nachforschungen an?«
Das war eine gute Frage, dachte sie, denn es gab für das, was sie tat, keine Bezeichnung.
»Meine Sklavin Nephele wurde von den Räubern getötet, und ich will Gerechtigkeit für sie. Ich weiß, wie tief die Betroffenen von den Überfällen erschüttert sind. Deshalb bin ich auch gleich nach der Attacke hergekommen, um nach deiner Frau zu sehen«, erklärte sie Bulbo.
»O ja, davon hat sie mir erzählt«, sagte der, »danke nochmals für deine Anteilnahme. Es war wichtig, dass in dem Moment jemand für sie da war. Und du warst in Begleitung von … wie heißt er noch?«
»Tibur. Ein … flüchtiger Bekannter.«
Bulbo nickte: »Ich habe von Quintus Tibur gehört. Er soll ein heller Kopf sein.«
»Das ist er«, bestätigte Lucretia, auch wenn sie gerade nicht gut auf ihn zu sprechen war. »Rechtsanwalt Tibur hat mir von einem Geheimfach erzählt«, tastete sie sich an den Kern der Sache heran. Sie sah, wie der Blick des Hausherrn reflexhaft zu dem Mosaik auf dem Boden sprang. Sie fuhr fort: »Das Fach stand nach dem Überfall offen und war leer. Einer der Küchensklaven hatte es so vorgefunden.«
Bulbo nickte bitter. »Ich verstehe es nicht. Nicht einmal meine Frau wusste davon.«
»Aber einer der Räuber muss darüber im Bilde gewesen sein. Das Fach ist so gut wie unsichtbar. Man muss schon wissen, wo es sich befindet«, sagte Lucretia.
Bulbo sah sie einen Moment durchdringend an, lächelte dann.
»Lucretia Veturius, schau dich an! Was für ein kluges Kind du bist. Minerva hat ihre Weisheit großzügig über dir ausgeschüttet.«
Lucretia lächelte. Ein Kompliment für etwas zu erhalten, das einmal nichts mit ihrem Aussehen zu tun hatte, war ein unerwartet gutes Gefühl.
Bulbo war ein kluger Mann, der mitdachte, und er spann den Faden weiter: »Ein Zufall ist ausgeschlossen. Die Eindringlinge müssen von dem Fach gewusst haben. Es kann nicht anders sein. Die Frage ist, wer wusste noch von dem Tresor, obwohl ich so penibel darauf geachtet habe, niemandem etwas davon zu verraten?«
»Vielleicht hat doch einmal ein Sklave, der dir Essen oder Trinken an den Schreibtisch brachte, das Fach gesehen.«
»Ausgeschlossen«, wischte Bulbo den Erklärungsvorschlag beiseite, »darauf habe ich genau geachtet. Sklaven kann man nicht trauen, da bin ich doppelt misstrauisch.«
Lucretia überging diese Bemerkung. Sie wusste, dass ihre Beziehung zu Nephele außergewöhnlich gewesen war. Aber sie hatte nie schlechte Erfahrungen mit Sklaven gemacht und wunderte sich über die unterschwellige Angst vieler Mitbürger vor ihnen.
»Vielleicht ist es auch schon lange her. Oder es war ein überraschender Besucher?«, bohrte Lucretia nach.
Bulbo lehnte den Kopf zurück und kramte in seinen Erinnerungen. Plötzlich hielt er inne, es schien ihm etwas eingefallen zu sein. Lucretia beugte sich erwartungsvoll in dem Gästestuhl vor, auf dem sie Bulbo auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß.
»Marcus!«, flüsterte Bulbo, und in seiner Stimme schwang Unglauben mit.
»Wer ist Marcus?«
»Marcus Vorenus!«, entfuhr es dem Hausherrn, und Verärgerung schwang in seiner Stimme mit. Er ergänzte: »Er ist mein Neffe. Er kommt ab und zu zu Besuch. Er ist Offizier bei der Marine, im Flottenkastell südlich der Colonia.«
»Und ihm hast du von dem Tresor erzählt?«
»Nein, nein. Aber er hat ihn gesehen. Ja …! Er war hier bei uns, er hat sich schon immer gut mit unserem Sohn Titus verstanden. Der ist wie ein kleiner Bruder für ihn. Es ist vielleicht … ein halbes Jahr her. Marcus wollte mich begrüßen, und als er ins Arbeitszimmer eintrat, war ich gerade dabei, die Klappe des Tresors zu schließen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das noch gesehen und sich seinen eigenen Reim darauf gemacht hat.«
Lucretia bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl. Das waren spannende Neuigkeiten. Und zugleich welche, die sie tief beunruhigten. Denn dieser Verdacht bedeutete vor allem eines: dass Quintus mit seinen Vermutungen, die Lucretia so sehr zuwider waren, vielleicht doch recht haben konnte. Stimmte es wirklich, dass sich hier Römer gegen Römer wandten, noch dazu aus den Reihen der Armee, die die Aufgabe hatte, das Imperium zu schützen? Lucretia versuchte, den Gedanken zu verdrängen, der drohte, ihr Weltbild ins Wanken zu bringen.
Es konnte nicht sein. Durfte nicht sein!
Nach einer Pause wurde dem Hausherrn die Tragweite dessen bewusst, was er gerade eben gesagt hatte.
»Aber dann …«, stammelte Bulbo, »… dann würde das ja heißen, dass Marcus mit den Germanen gemeinsame Sache macht. Ein Verräter in der Familie! Bei Jupiter!«
Fassungslos sah er Lucretia an, während die Erkenntnis sich in ihm verfestigte. Sie versuchte, äußerlich gelassen zu bleiben, wenngleich das eben Gehörte sie ebenfalls aufwühlte.
»Vielleicht ist es doch einer der Sklaven gewesen«, mutmaßte sie halbherzig. Denn das war es, was sie selbst unbedingt glauben wollte.
»Nein, Marcus war es, jetzt bin ich mir ganz sicher!«, rief der Hausherr.
Lucretia straffte sich, sie dachte nach. Sie hatte die emotionale Tragweite ihrer Recherche unterschätzt. Auf keinen Fall wollte sie einen Keil zwischen Bulbo und seinen Verwandten treiben. Oder ihn zu unüberlegten Handlungen motivieren. Diese Verbrecher waren gefährlich. Unberechenbar. Sie musste sehr behutsam vorgehen.
»Es ist ja noch nichts erwiesen«, beruhigte sie ihren Gastgeber schnell. »So etwas hätte Marcus als Marineoffizier doch gar nicht nötig, oder? Und was sollte ihn überhaupt mit diesen primitiven Kriminellen verbinden?«
Geschweige denn mit germanischen Dörfern auf der anderen Seite des Rhenus, deren Bewohner nicht einmal Latein sprechen , fügte sie hilflos in Gedanken hinzu. Es schien ihr unrealistisch, dass jemand aus den Familien Bulbo oder Vorenus, konservativ und seit Generationen römisch, gemeinsame Sache mit Menschen machen würde, wie Lucretia sie in Quintus’ Heimatdorf angetroffen hatte. Diese Welten passten nicht zusammen. Lucretia schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken aus ihm zu vertreiben. Wie sehr sie es hasste, dass Quintus vielleicht recht behalten sollte …
»Aber was, wenn es doch so ist?«, sagte der Hausherr leise, und etwas Wehklagendes schlich sich in seinen Ton. »Was habe ich denn Marcus angetan, dass er mich so betrügt, so verrät? Ich war immer gut zu ihm, ich liebe ihn wie einen Sohn!« Seine Verzweiflung schlug in Wut um: »Ich werde mein Testament ändern und ihn enterben, kein As wird der Schuft von mir bekommen!«
»Bitte handele nicht vorschnell, Aemilius Bulbo«, bekniete ihn Lucretia, der mulmig zumute wurde. »Ich bitte dich, noch zu warten, was weitere Untersuchungen in der Sache ergeben. Selbst, wenn die Information von ihm kam, vielleicht hat er sich nur aus Versehen irgendwo verplappert.«
Bulbo erklärte sich einverstanden, und sie war erleichtert. Sie hielt ihn auch ausdrücklich dazu an, den Verdächtigen nicht zu kontaktieren und sich, sollte sein Neffe ihm zufällig begegnen, so zu verhalten, als sei nichts vorgefallen. Auch in diesem Fall sollte eine Regel des römischen Rechts gelten, die Lucretia einst von ihrem Hauslehrer gelernt und als Zuschauerin bei Gerichtsverhandlungen oft angewandt gesehen hatte: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.