Knapp drei Minuten dauerte es, um von der Hovenäsbrücke zum Haus auf dem Kärleksvägen – dem »Liebesweg« – zu fahren. Eine magische Adresse, in die sich August sofort verliebt hatte. Was ein Glück war, denn er hatte ziemlich schnell eine Unterkunft finden müssen. In dem Haus, das er dem Bestatter abgekauft hatte, befand sich im oberen Stockwerk auch eine große Wohnung, und August hatte ursprünglich den Plan gehabt, sich dort einzurichten. Doch eine Woche nach Vertragsabschluss hatte der Makler angerufen und von schlechten Nachrichten gesprochen.
»Der Verkäufer hat im Badezimmer im oberen Stockwerk einen Wasserschaden entdeckt«, hatte er gesagt, »aber Sie haben Glück im Unglück. Er hat eine Firma gefunden, die schon morgen anfangen kann, daran zu arbeiten.«
August war richtig wütend geworden. Das war sonst eigentlich nicht seine Art, doch der freche Ton des Maklers ließ ihn an die Decke gehen. »Glück im Unglück« war kein Ausdruck, den er passend fand.
Einen Wasserschaden zu reparieren, das brauchte Zeit. Man würde Trockenventilatoren aufstellen müssen, das Leck musste behoben werden, und am Ende musste die Wand wieder verputzt werden. Er fragte sich, was der Gutachter gemacht hatte. Wie hatte er einen so offensichtlichen Schaden übersehen können?
»Wie wäre es denn, wenn Sie in Hovenäset wohnen würden«, hatte der Makler gesagt. »Ich habe einen Tipp für ein Haus am Kärleksvägen bekommen.«
Der Vorschlag hatte August direkt ins Herz getroffen. Der Liebesweg. Und dann auch noch auf Hovenäset. August war kein Freund langer Bedenken, sondern hatte sich wenige Stunden später entschieden. Er wollte gern das Haus auf Hovenäset mieten, doch nicht nur für wenige Wochen, sondern für ein Jahr. Es würde zu aufwendig werden, so kurzfristig zwischen verschiedenen Adressen hin und her zu ziehen, und außerdem wollte er Hovenäset wirklich eine Chance geben. Die Eheleute Jansson freuten sich, einen längeren Vertrag abschließen zu können, und jetzt würde er also gleich vor Ort sein.
Während sie fuhren, saß August auf dem Rücksitz und sah die unbewohnten dunklen Sommerhäuser draußen vorm Autofenster vorbeiziehen. Er war schon immer gern allein gewesen, aber möglicherweise würde das hier doch etwas zu viel Einsamkeit sein.
»Bin ich der Einzige, der hier wohnt?«, fragte er in dem Versuch, so zu wirken, als würde er einen Witz machen.
»Aber Nein«, antwortete Esmeralda, »es gibt fast einhundertachtzig Leute, die ständig hier wohnen.«
Sven grinste.
»Sie sind also in eine richtige Metropole gezogen«, ergänzte er.
August lächelte.
»Ich hoffe, das Haus entspricht Ihren Erwartungen nach den Bildern«, sagte Esmeralda besorgt, als sie aus dem Auto ausstiegen.
»Ganz bestimmt«, beruhigte August sie.
Das Haus war von derselben Art wie die meisten in der Umgebung. Ein weißes Holzhaus, auf einem Felsen gebaut, der fast so hoch war wie August lang. Viel Schnitzwerk um Fenster und Türen. Ein Balkon im Süden und eine Terrasse im Schatten des Nachbarhauses.
Ihm wurde warm ums Herz. Das hier würde gut werden.
Esmeralda ging vor ihm die Treppe hoch und schloss die Tür auf.
August und Sven folgten mit den Reisetaschen.
Im Haus roch es muffig, und zwar nicht diese Art Sommerhausmuff, der auf feuchte Stellen und Schimmel hindeutete, sondern mehr, als hätte jemand vergessen zu lüften.
»Es ist nicht sonderlich groß«, sagte Esmeralda, immer noch mit besorgter Miene, »aber ich hoffe, es genügt Ihnen.«
Mehr als das. Im Obergeschoss gab es Badezimmer, Aufenthaltsraum, ein kleines Gästezimmer und ein Schlafzimmer mit Balkon und Aussicht übers Meer. Und im Erdgeschoss eine Küche, ein weiteres Bad, dann ein größeres Wohnzimmer mit Esszimmer und einen kleineren Raum, von dem August sofort beschloss, dass es sein Homeoffice werden würde. Das Haus war nicht frisch renoviert, aber auch nicht verkommen oder unmodern. Allerdings hatten die Eheleute Jansson einen völlig anderen Einrichtungsgeschmack als er. Es gab keine einheitliche Linie in der Auswahl der Möbel. Alte Sessel drängten sich um neuere Couchtische und Bücherregale, und auf dem Boden lagen alte Flickenteppiche. Das hätte charmant sein können, wenn die Auswahl nicht so zufällig wirken würde.
Esmeralda und Sven sahen sich kurz an.
»Die Küche«, sagte Sven, »der Herd.«
»Ja, genau«, erwiderte Esmeralda.
Sie lief aus dem Zimmer, und August nahm an, dass er folgen sollte.
»Diese Platte hier ist ein wenig langsamer als die anderen«, sagte sie und zeigte auf die kleinste Herdplatte. »Wenn das ein Problem ist, dann können Sie das natürlich sagen.«
Sie wechselte einen Blick mit ihrem Ehemann. Sven verzog keine Miene.
»Ich koche leidenschaftlich gern«, antwortete August, »aber es gibt ja noch drei andere Platten auf dem Herd.«
Er lächelte wieder.
Trotzdem schienen die Eheleute Jansson sich nicht entspannen zu wollen. August besah sich die weißen Küchenschränke und den hellen Holzfußboden. Die großen Fenster sahen aus, als wären sie frisch geputzt. Übersah er etwas? Irgendeinen Mangel, von dem sie befürchteten, er könnte ihn entdecken?
Das glaubte er nicht.
Und wenn, dann konnte er sich ja bei ihnen melden.
»Nun gut«, sagte Esmeralda, »dann wollen Sie jetzt vielleicht mal Ihre Ruhe hier haben.«
»Zögern Sie nicht, uns anzurufen, wenn irgendetwas ist«, sagte Sven. »Wir wohnen ja bloß in Kungshamn und sind in wenigen Minuten hier.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich wohlfühlen werde«, erwiderte August und begleitete sie hinaus in die Diele.
Esmeralda schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
»Aber etwas neugierig ist man ja doch«, sagte sie. »Wie kommt es, dass Sie das Bestattungsinstitut gekauft haben und hierher gezogen sind? Ich meine, von Stockholm nach Kungshamn ist ja weit. In mehrfacher Hinsicht. Stockholm ist eine Großstadt und Kungshamn … also, schon viel kleiner.«
Ohne es zu wissen, hatte sie die Frage schon selbst beantwortet.
Es waren die geografische Entfernung und der Kontrast zwischen den beiden Orten, die ihn angezogen hatten. Er hatte eine Veränderung gebraucht, und das umgehend. Ein Sommerhaus wäre da nicht ausreichend gewesen, das wurde ihm jetzt klar.
Denn August hatte das schlimmste Jahr seines Lebens hinter sich.
Ein annus horribilis .
So hatte sein ältester Freund und Kollege Henrik Mohlin es genannt, und das war eine gute Beschreibung eines widerwärtigen Jahres. Selbst wenn August rein intellektuell begriffen hatte, dass alle Menschen in ihrem Leben ein solches Jahr durchmachten, hätte er doch erst später im Leben damit gerechnet. Er war für sein schlimmstes Jahr einfach nicht bereit gewesen, da er doch erst auf halbem Weg zum Neunzigsten war.
Vor allem zwei Ereignisse hatten das Jahr so elendig gemacht.
Zuerst eine Trennung. August war von der Frau verlassen worden, mit der er mehr als zwanzig Jahre zusammengelebt hatte. Sie hieß Helene und gehörte jetzt der Vergangenheit an.
Nur wenige Monate später starben Augusts Eltern. Ein schlimmer Verlust, den er immer noch nicht bewältigt hatte. Beide Eltern waren am selben Tag gestorben. Augusts Umzug an die Westküste war also vor allem von der Tatsache getrieben, dass er Mutter und Vater verloren hatte.
Doch all das verschwieg er lieber. Es war zu privat, zu sensibel. Deshalb hatte er eine alternative Antwort vorbereitet, um für den Fall, dass ihm Fragen über seinen Umzug gestellt würden, etwas sagen zu können.
»Ich möchte etwas Neues ausprobieren«, erklärte er Esmeralda, »und zwar dort, wo ich mich zu Hause fühle. Kungshamn und Hovenäset erschienen mir als eine gute Wahl, weil ich einen Teil meiner Kindheit hier verbracht habe.«
Das klang so klug, so durchdacht. Und befreiend weit von der Wahrheit entfernt.
»Ah, ich verstehe«, sagte Esmeralda. »Und was haben Sie in Stockholm gemacht?«
»Ich habe als Vermögensverwalter gearbeitet«, antwortete August.
»Was ist das denn?«, fragte Sven. »Jemand, der Geld aus Geld macht?«
»So ungefähr«, antwortete August.
Er war gut darin gewesen.
Ausreichend gut, um einer der Allerbesten zu werden.
Ausreichend gut, um vermögend zu werden.
Aber war er glücklich gewesen? Die Antwort lautete Nein.
Der Beruf des Vermögensverwalters war nichts gewesen, was er sich erträumt hatte, es war einfach so gekommen. Zwei Jahrzehnte hatte er in der Finanzbranche verbracht, ohne davon begeistert zu sein. Er hatte vermieden, darüber nachzudenken, was das mit der Seele eines Menschen machte. Ungefähr so wie er lieber nicht zu viel darüber nachdachte, was die Jahre mit Helene ihn rein mental gekostet hatten.
»Und wann werden Sie Ihr Geschäft in Kungshamn eröffnen?«, fragte Esmeralda, die ansonsten für die Finanzbranche nicht viel übrigzuhaben schien.
»In einer Woche bekomme ich die Schlüssel zu den Räumen«, sagte August.
Es ärgerte ihn immer noch, wenn er an den Wasserschaden dachte, wegen dem er sieben Tage warten musste, bis er das Haus übernehmen konnte, und deshalb lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
»Bald wird eine Anzeige im Bohuslänningen erscheinen«, sagte er. »Ich hoffe, dass die eine rasche Wirkung haben wird.«
»Eine Anzeige?«, fragte Sven.
»Ja, die Leute sollen doch erfahren, was ich hier vorhabe«, meinte August.
Esmeralda und Sven sahen ihn an.
»Jetzt dürfen Sie uns aber nicht länger auf die Folter spannen«, bat Esmeralda. »Was werden Sie mit dem alten Bestattungsinstitut machen?«
»Ich dachte, das wüssten Sie schon«, sagte August erstaunt. »Ich werde ein Geschäft eröffnen. Strindbergs Secondhand.«
Als er es gerade ausgesprochen hatte, wurde der Himmel von einem Blitz geteilt, der für einen Moment den ganzen kleinen Ort erhellte, Sekunden später ließ ein Donner sämtliche Fenster scheppern.
Dann gingen alle Lichter aus, und das Haus, das August Strindberg gemietet hatte, versank in Dunkelheit.