Beim Absuchen von Klåvholmen gingen sie sowohl in einer Reihe nebeneinander als auch hintereinander. Die Suchaktion war nicht einfach. Die Insel bestand aus Klippen, die sowohl hoch waren, als auch steil abfielen, und die Klüfte zwischen verschiedenen Steinpartien waren tief und zum Teil von vertrockneten Büschen verborgen. August achtete ganz genau darauf, wohin er seine Füße setzte.
Er und der Makler waren eine Viertelstunde, bevor die Suche beginnen sollte, nach Tången gekommen. August hatte nur einen kurzen Blick auf das Bootshaus werfen müssen, um zu wissen, dass er es haben wollte. Der Makler hatte sich erleichtert gezeigt.
»Der Verkäufer braucht ein wenig Zeit, um seinen Kram da rauszuholen«, hatte er gesagt. »Und es ist ja doch noch nicht die Saison für Boote. Aber wie wäre es mit einer Übergabe im Oktober?«
August hatte den Vorschlag akzeptiert und ein Gebot abgegeben.
Und jetzt war er also zusammen mit den Leuten von Missing People auf Klåvholmen unterwegs. Die Suche sollte zwei Stunden dauern. Ursprünglich war sein Interesse an dem Sucheinsatz nichts anderes gewesen als ein Protest gegen den Zynismus des Maklers, doch einmal vor Ort, dachte er darüber nach, warum er das noch nie zuvor gemacht hatte. Er hatte in den letzten Tagen viel Zeit gehabt und trotzdem keine Sekunde daran gedacht, dass er sich ja an der Suchaktion nach Agnes hätte beteiligen können.
Die Frau, die rechts von August ging, sah ihn von der Seite an.
»Bist du auch mit dem Bus um neun gekommen?«, fragte sie.
Erst als sie das Schweigen durchbrach, merkte er, wie still es in der Gruppe gewesen war. Fast wie in einer Bibliothek, was seltsam war, wenn man bedachte, dass sie sich auf Klippen mitten im Meer befanden.
»Nein, ich bin vor einer Woche gekommen«, sagte August, und ihm wurde gleich klar, dass er auf etwas antwortete, was sie gar nicht gefragt hatte.
Ihr irritierter Gesichtsausdruck bestätigte seine Befürchtung.
Also streckte er die Hand aus und stellte sich vor.
»Ich bin neu zugezogen«, erklärte er. »August Strindberg heiße ich und wohne auf Hovenäset.«
Er kam sich dumm und ungeschickt vor, und da half es natürlich überhaupt nicht, dass die Frau selbstverständlich die Augenbrauen hochzog, als sie seinen Namen hörte.
»Verstehe«, sagte sie und nahm seine Hand. »Ich heiße Yvonne. Ich wohne in Hunnebostrand. Ein Busunternehmen hat es übernommen, die Leute schnell hierherzubringen, und wir uns nicht auf den öffentlichen Nahverkehr verlassen mussten. Die Busse fahren hier ja so furchtbar selten.«
»Wie sympathisch«, sagte August.
Yvonne nickte.
»Das finde ich auch«, sagte sie. »Man merkt wirklich, dass alle sich kümmern.«
Yvonne war in seinem Alter, und wenn August sie richtig verstand, war sie extra nach Kungshamn gekommen, um nach Agnes zu suchen.
»Kennst du Agnes?«, fragte er.
Yvonne nickte. Sie sah aus, als hätte sie seit Agnes’ Verschwinden nicht geschlafen. Ihr Blick flackerte, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
»Ja«, sagte sie. »Wir treffen uns manchmal, und … es ist so ungeheuer frustrierend, nicht zu wissen, was passiert ist. Ich kann nicht einfach nur zu Hause sitzen und abwarten, ich muss was tun.«
August verstand, dass sie gestresst war, auch wenn seine eigenen Beweggründe, an der Suche teilzunehmen, andere waren. Die Tatsache, dass Agnes am selben Abend verschwunden war, als er selbst auf Hovenäset ankam, schuf ein seltsames Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihr. Eine Woche war vergangen. August hatte seinen Laden bekommen, aber Agnes war immer noch verschwunden.
»Das ist ja krass von dir hierherzuziehen«, sagte Yvonne plötzlich. »Ich habe irgendwie immer am selben Ort gelebt und mich nie woandershin gesehnt. Und jetzt fühlt es sich an, als würde ich es nicht mehr wagen. Man schlägt doch Wurzeln.«
Ich nicht, dachte August.
Er hatte Stockholm fünfundvierzig Jahre seines Lebens gegeben (abzüglich der Jahre, in denen er zu Beginn seiner Karriere im Ausland studiert und gearbeitet hatte), und hatte dennoch das Gefühl, dort nicht verwurzelt zu sein.
»Und Hovenäset ist um diese Jahreszeit so schön«, schwärmte Yvonne, als sie keine Antwort bekam.
»Ja, wirklich«, stimmte August zu. »Und wenn es einem mal zu klein vorkommt, gibt es ja noch eine Menge anderer Plätze drumherum.«
Ein neuer Alltag nahm Form an. Einer, der weit von allem entfernt war, was er hinter sich gelassen hatte. In Stockholm war er an mindestens vier Abenden die Woche essen gegangen, immer bestrebt, in den begehrtesten Lokalen einen Tisch zu bekommen. Er war schrecklich gern ins Kino gegangen und hatte sich daran gewöhnt, dass die neuesten Filme immer verfügbar waren. Wenn seine Zeit es zuließ, hatte er auch versucht, Theatervorstellungen, Konzerte und Kunstausstellungen zu besuchen.
Und im Grunde gab es das alles auch in der Nähe seines neuen Wohnorts.
Wenn auch in etwas kleinerem Ausmaß.
Und auch nicht ständig verfügbar.
Das war in vieler Hinsicht eine recht befreiende Ordnung, an der man sich orientieren musste. Außerdem hatte er etwas entdeckt, wovon er nicht einmal gewusst hatte, dass es ihm fehlte: frischen Fisch. Und zwar richtig frischen Fisch. Ein Erlebnis, das seinen Blick auf das Kochen von Grund auf verändert hatte. Frischer Fisch konnte das Beste sein, was es in Sachen Essen gab.
Er schielte auf Yvonnes Hand. Kein Ring. Reine Routinekontrolle. Hinsehen durfte man ja.
»Du bist so passiv, August«, hatte Helene zu ihm gesagt. »Nie ergreifst du Initiative.«
Das fand August unnötig hart.
Natürlich hatte er Initiativen ergriffen. Zahllose. Und sie hatte immer Nein gesagt.
Nein zur Japanreise (weil Sushi eklig sei).
Nein zum Salsa-Kurs (weil August so steif in den Hüften sei, was auch immer das mit der Sache zu tun hatte).
Nein zum Kochkurs (weil es andere Dinge gäbe, die man zusammen unternehmen könnte – August fragte sich immer noch, welche).
Ich war nicht der Einzige, der unzulänglich war, Helene, dachte er.
Alle, die ihn kannten, waren davon ausgegangen, er wäre fertig und verzweifelt, nachdem er verlassen worden war. Alle, außer Henrik. Deshalb war es Henrik, dem er all das erzählte, wofür er sich schämte, es jemand anders zu sagen.
Dass er erleichtert war.
Dass er nichts vermisste.
Und dass er bereit war für etwas Neues, und das schon seit mehreren Jahren.
»Schön, dass die Polizei sich auch beteiligt«, sagte Yvonne.
»Die Polizei?«, fragte August.
Yvonne zeigte auf eine Frau.
»Die da vorne geht, ist Polizistin«, erklärte sie.
August betrachtete die Frau. Sie hatte braunes, volles Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Ihre Haare kräuselten sich in dem salzigen Wind, und August dachte, dass ihre Haarfarbe die war, die ihm am allerbesten gefiel. Kastanienbraun. Sie wandte ihren Kopf, sodass er ihr Gesicht sah. Nur einen Moment später schon sah sie wieder in die andere Richtung, aber August registrierte trotzdem alles, was man sehen konnte.
Hohe Wangenknochen, gerade Nase.
»Sie heißt Maria Martinsson«, erklärte Yvonne.
August sah wieder in die Richtung der Polizistin. Er erinnerte sich an die Radiosendung, die er in der ersten Nacht auf Hovenäset gehört hatte.
»Leitet sie nicht so einen Lesekreis?«, fragte August zögernd.
»Das stimmt«, erwiderte Yvonne und strahlte zum ersten Mal. »Wie schön, dass du schon davon gehört hast. Ich bin auch dabei.«
»Das ist ja nett«, sagte August, »dann sehen wir uns bald wieder. Ich hatte vor, zum nächsten Treffen zu gehen, das ist doch morgen.«
Yvonne schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln.
Zwei Möwen jagten einander am Himmel. Ihre lauten Schreie durchschnitten die Stille.
August sah, wie Maria aus der Reihe ausscherte und auf eine Klippe weiter unten stieg. Zwei Jungs folgten ihr. Sie stand mit dem Rücken zum Wind und hörte einem der Jungen mit ernster Miene zu. Er schien Agnes’ Sohn zu sein. Manchmal nickte Maria, und August hatte das Gefühl, dass sie eine gute Zuhörerin war. Der Junge gestikulierte mit den Händen, wenn er sprach, und einmal legte der Freund die Hand auf seine Schulter, wie um ihn zu beruhigen. Das hatte jedoch keine Wirkung. Agnes’ Sohn sah vielmehr sehr empört aus, und August hörte, wie er die Stimme erhob und rief:
»Aber ihr macht ja gar nichts! Warum macht ihr nichts?«
August sah weg, merkte aber, dass die meisten anderen das Drama zwischen der Polizistin und dem Jungen fast wie hypnotisiert verfolgten.
»Der arme Isak«, sagte Yvonne leise.
Da rief jemand in der vorderen Reihe »Halt!«, und alle Bewegungen erstarrten.
Einer von denen, die vorn gingen, hielt etwas in die Luft.
August strengte sich an zu sehen, was es war, doch das war nicht möglich.
Murmelnd verbreitete sich die Nachricht von einem Suchenden zum anderen durch die Reihe.
»Eine Kette«, sagte ein Mann, der vor August ging. »Sie haben eine Halskette gefunden.«