Eine Kette. Agnes’ Halskette. Hier draußen, mitten auf Klåvholmen. Karl starrte darauf.
»Die gehört Mama«, sagte Isak heiser, aber mit fester Stimme.
Karl schwieg, aber sein Puls stieg.
»Das ist gut«, sagte Maria und strich Isak über den Arm.
Sie hatte sie beiseitegeführt. Suchhunde waren auf dem Weg zu ihnen und sogar ein Helikopter.
Der restliche Suchtrupp hatte weitergemacht. Manchmal drehte jemand den Kopf und schaute verstohlen neugierig in Karls und Isaks Richtung. Karl mochte nicht, dass sie so viel Aufmerksamkeit auf sich zogen. Aber ihm war auch klar, dass es unvermeidbar war. Alle kannten Isak, und allen tat er leid.
»Was macht ihr jetzt?«, fragte Isak.
»Dasselbe, was wir machen, seit Agnes vermisst gemeldet worden ist«, erwiderte Maria. »Wir tun alles, um sie zu finden.«
»Ihr glaubt, dass sie tot ist, oder?«, sagte er.
Karl merkte, wie der Boden unter seinen Füßen schwankte.
»Wir glauben gar nichts«, sagte Maria.
Isak schüttelte den Kopf.
»Bullshit«, sagte er. »Verdammter Bullshit.«
Er spuckte über die Schulter, das tat er manchmal, wenn er gestresst war. Karl hatte das schon auf dem Schulhof, dem Fußballplatz und an der Bushaltestelle gesehen. Und jetzt spuckte er auch noch zweimal hintereinander.
Karl sah zum Meer. Weit draußen fuhr ein Schiff vorbei.
Er kapierte gar nichts mehr.
Wie war die Halskette auf Klåvholmen gelandet?
Er schluckte und kratzte sich die Wange. Die Haut unter seinen Fingern brannte, und er zwang sich aufzuhören.
Wenn er doch nur in die Schule gegangen wäre, anstatt nach Agnes zu suchen. Die Zeit verging so langsam, wenn er sie mit etwas verbrachte, was doch sinnlos war. Morgen würde er zur Schule gehen. Hoffentlich wollte Isak das dann auch.
Es war ätzend, herumzulaufen und so zu tun, als würde er sich Sorgen machen, so zu tun, als wüsste er genauso wenig wie alle anderen. Fast wie ein Psychopath. Es gab so viel, was er vor Isak verbarg, so viel, was er ihm nur zu gern erzählen würde. Zum Beispiel, dass der Fund der Halskette überhaupt nichts bedeutete. Dass sie alle nach Hause schicken konnten, die hier suchten, dass man keine Hunde und keine Helikopter brauchte.
Karl sah Maria an.
Sie trug keine Uniform, sondern normale Kleidung. Jeans, Hemd, Pullover und eine offene Jacke. Karl hatte gesehen, wie sie mit dem Fahrrad nach Tången gekommen war. Es gefiel ihm, dass sie nicht Auto fuhr, das unterschied sie von den anderen, und Karl mochte Menschen, die nicht wie alle waren.
»Ihr macht eure Arbeit nicht«, schimpfte Isak.
Karl unterdrückte ein Seufzen. Wie oft hatte er das jetzt schon gesagt?
Isak trat auf etwas, was auf dem Felsen lag. Eine Kippe, die an der harten Oberfläche festgeklebt war.
»Ich verstehe, dass du frustriert bist«, sagte Maria.
»Frustriert?«, brach es aus Isak hervor. »Ich bin scheißwütend, verdammt noch mal! Ihr solltet alle gefeuert werden!«
Ein großer Mann kam vom Land herüber. Karl sah ihn über die Pontonbrücke nach Klåvholmen gehen. Er war durchtrainiert und machte lange Schritte. Als er näher kam, erkannte ihn Karl – das war Marias Kollege Ray-Ray.
Er begrüßte sie. Seine Haare hatte er zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, an den Schläfen waren sie schon grau. Karl nahm mal an, dass Ray-Ray sich selbst wahrscheinlich ziemlich cool fand.
Und schon ging Isak wieder auf die Palme.
Karl hörte nicht mehr hin, was der redete.
Isak war lange sein bester Freund gewesen. Ihre Häuser lagen knappe zehn Minuten voneinander entfernt, und Karl war immer so gern bei Isak zu Hause gewesen. Da war es einfach ruhiger, netter. Und vor allem musste Karl da nicht seine anstrengenden Eltern ertragen. Seine Mutter, die sich wegen allem Sorgen machte, und sein Vater, der fand, Karl wäre so anders. Nur deshalb hatte Karl mit Fußball angefangen, damit sein Vater dachte, er sei wie alle anderen Jungs.
Auch wenn das nicht stimmte.
Karl war immer der Jüngste, immer der Schlaueste.
Man nannte es sonderbegabt, aber Karl mochte das Wort nicht.
Da war ihm sein Kosename zu Hause lieber.
Der Astronaut.
Wie eine Erinnerung daran, was er mit seinem Leben machen wollte. Ein Kindheitstraum, für dessen Verwirklichung er alles tun würde.
»So sehe ich das«, sagte Isak, »dass ihr’s nur wisst.«
Seine Stimme riss Karl aus den Gedanken.
»Wir verstehen dich«, sagte Ray-Ray, »aber du musst uns auch vertrauen, Isak. Hier sind viele Leute, die darum kämpfen, deine Mutter zu finden. Glaub mir. Eines Tages werden wir erfahren, was passiert ist.«
Der letzte Satz ließ Isak blass werden.
»Wir hauen ab«, sagte er und sah Karl an.
Karl folgte ihm zögerlich von den anderen weg, er spürte den Blick der Polizisten im Nacken.
»Wir müssen noch mehr auf eigene Faust suchen«, sagte Isak. »Diese Idioten hier kriegen ja nichts gebacken.«
Die Möwen schrien über ihren Köpfen, und auf dem Meer baute sich ein harter Seegang auf.
Isak ging mit geballten Fäusten einen halben Schritt vor Karl.
Jeden Tag hatten sie zusammen mit Missing People gesucht, aber auch auf eigene Initiative. Isak schlug die ganze Zeit immer noch größer werdende Runden vor. Keiner von beiden hatte einen Führerschein (Karl, weil er zu jung war, Isak, weil er zu faul war), und das hielt sie auf. Entweder mussten sie mit dem Fahrrad fahren oder den Bus nehmen. Fredrik wollte bei ihren Suchaktionen nicht mitmachen, und er wollte sie auch nicht gern fahren.
»Ihr steht doch der Polizei nicht im Weg, oder?«, hatte Fredrik mehr als einmal gefragt.
Jedes Mal dieselbe Wut bei Isak.
»Ist ja ziemlich schwer, jemandem im Weg zu stehen, der nichts macht«, hatte er entgegnet.
Karl fragte sich, was Fredrik selbst den ganzen Tag machte. Manchmal schien er zur Arbeit, dann wieder ging er seine eigenen Runden und suchte nach Agnes. Mit jedem Tag sah er noch erschöpfter aus.
»Du lässt mich ja wohl nicht im Stich, was?«, fragte Isak.
Karl hatte Isak schon ungefähr eine Million Mal wütend gesehen und wusste, dass dies hier was anderes war. Isak hatte Angst. Und er war traurig. Als hätte er sich schon für das Schlimmste gewappnet und alle Hoffnung aufgegeben.
»Natürlich nicht«, erwiderte Karl.
»Meckert Cecilia wieder?«
»Jetzt hör auf, Mama hat nichts gesagt.«
»Sicher? Weil, dann kann ich mit ihr reden.«
»Nicht nötig.«
Widerstrebend gab Isak auf.
Schweigend schob Karl die Hand in die Jackentasche und umklammerte sein Handy. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, dass es so kommen sollte.
Er konnte nichts tun, als zu warten.