Sieben Tage lang hatte Cecilia Karl alles und noch mehr tun sehen, um Isak zu unterstützen. Sieben Tage . Und zwischen diesen endlosen Tagen, in denen sie versuchte, nicht zu deutlich ihre Meinung darüber zu äußern, dass ihr Sohn so viel Zeit damit verbrachte, nach Agnes zu suchen, gab es noch die Nächte.
Und die Albträume.
Die sie seit mehreren Monaten jagten.
Die Träume handelten immer von derselben Sache.
Dass Karl verschwand.
Zum ersten Mal hatte sie das Anfang des Sommers geträumt, in derselben Woche, als das Bestattungsinstitut zum Verkauf ausgeschrieben worden war. Seither waren die Albträume mit demselben Thema regelmäßig wiedergekehrt.
Karl war fort, verschwunden, konnte nicht gefunden werden.
Und dann erwachte sie – von einer Angst erfüllt, die sie bis dahin nicht gekannt hatte, und die zu vertreiben Stunden dauerte. Manchmal geschah es, dass sie nach dem Aufwachen lange weinte. Und dann endete es immer auf dieselbe Weise: Sie schlich zu Karls Zimmer und versicherte sich, dass er schlief und es ihm gut ging.
»Du musst dir mal Hilfe suchen«, hatte Erling gesagt, als er endlich begriffen hatte, dass die Träume zu einem Problem geworden waren.
Weil sie ein gemeinsames Bett hatten, könnte man meinen, dass sie nicht von den Träumen hätte erzählen müssen, sondern dass er es merken würde, wenn die andere Hälfte des Bettes von nächtlicher Verzweiflung erfüllt war, doch dafür war Erling nicht der Typ. Er gehörte nämlich zu den wenigen Auserwählten, die sich buchstäblich durch einen ganzen Krieg schlafen konnten. Ganz anders als Cecilia. Sie schlief wie ein Hund, mit allen Sinnen eingeschaltet. Als könnte sie sich nur kurze Zeiten im Tiefschlaf befinden. Immer bereit einzugreifen, falls jemand ihrem Sohn, dem Astronauten, etwas Böses tun wollte.
Manchmal bereute sie, dass sie ihm diesen Kosenamen gegeben hatten. Als er klein war und davon gesprochen hatte, dass er »auf dem Mond arbeiten« wolle, hatte das so unschuldig gewirkt. Im Alter von sechs Jahren hatte er gelernt, dass Astronaut ein Beruf war, und von seinem achten Lebensjahr an hatte er sich zu Weihnachten niemals etwas anderes gewünscht als Geschenke zum Thema Raumfahrt. Jetzt war er sechzehn, bald erwachsen, und weil er so beispiellos begabt und schlau war, würde er zwei Jahre früher Abitur machen als normal. Zwei Schulklassen hatte er überspringen können und war immer noch ganz darauf versessen, Astronaut zu werden.
Cecilia konnte nicht verstehen, wie das so kommen konnte.
Alle anderen Kinder schienen doch aus ihren frühesten Träumen herauszuwachsen.
Wir hätten das abbiegen sollen, als die Zeit noch auf unserer Seite war, dachte Cecilia. Wir hätten nicht zulassen sollen, dass er sich mit Mondlandungen und der NASA beschäftigt und darüber redet. Und wir hätten ihn nicht dazu ermuntern sollen.
Sie bewegte sich wie im Dämmer zwischen den Regalen der Bibliothek, in der sie arbeitete. Eigentlich hatte sie jetzt Pause. Seit Agnes’ Verschwinden waren Cecilias nächtliche Ängste nur noch schlimmer geworden. Karl würde superwütend werden, wenn er erführe, was sie nachts tat. Dass sie, wenn er schlief, in sein Zimmer schlich, um nachzusehen, ob er noch da war und es ihm gut ging.
Sie sollte sich schämen, und das tat sie auch.
Jeden Tag und jede Nacht.
Cecilia ging in ihr Büro und machte die Tür hinter sich zu. Die Erschöpfung schmerzte im ganzen Körper. Das Zimmer hatte sie für sich allein, und sie war so froh darüber. Zu Hause war es anders. Da hatte sie zwar auch ein Arbeitszimmer, aber im selben Raum lag die gesammelte Bügelwäsche der Familie.
Cecilia setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Dann ging sie auf die Websites der Abendzeitungen und las die neuesten Nachrichten über Agnes Erikssons Verschwinden. Das Weinen schnürte ihr den Hals zu. Es gab keine Worte dafür, wie schrecklich es wäre, wenn Agnes einen Unfall gehabt hätte. Ganz egal wie viele Tage noch vergingen – das war einfach ein Gedanke, den Cecilia zu denken sich weigerte.
Mütter verließen ihre Familie nicht.
Und sie taten alles, um ihre Schäfchen beisammenzuhalten.
Aber was, wenn eine Mutter trotzdem verschwand?
Einige Zeitungen brachte Bilder von der Sucharbeit des Tages. Die meisten waren aus weiter Entfernung gemacht, und auf einem von ihnen meinte Cecilia Karl zu entdecken. Sie beugte sich zum Bildschirm vor und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, doch es war unmöglich zu erkennen, ob er es war. Cecilia und Erling hatten beschlossen, Karl noch ein paar weitere Tage zu Hause zu behalten, dann musste er wieder zur Schule gehen.
Jedes Mal, wenn sie an Agnes dachte, hatte Cecilia einen Kloß im Magen.
Schließlich war sie einmal Karls Klassenlehrerin gewesen.
Sie und Agnes waren keine Freundinnen gewesen, die etwas zusammen unternahmen, doch Cecilia hat immer großen Respekt vor ihr empfunden. Agnes hatte bei Karl und seiner Klasse in der Grundschule fantastische Arbeit geleistet. Cecilia hatte sie gemocht wie keinen anderen von Karls Lehrern seither. Agnes hatte Karl und seine außergewöhnliche Begabung verstanden, und das hatte der ganzen Familie geholfen.
Mit Isak war es anders.
Cecilia hatte die Freundschaft der beiden Jungen nie verstanden, aber das war auch nicht nötig. Hauptsache, es ging Karl gut, und das war offensichtlich der Fall, wenn er mit Isak zusammen war. Zumindest war es so gewesen, bis die beiden aufs Gymnasium kamen. Zu dem Zeitpunkt hatte Cecilia zum ersten Mal die Andeutung eines Risses in dem ansonsten so festen Freundschaftsband gesehen. Karl hatte entschieden, auf das Uddevalla-Gymnasium zu gehen, und Isak besuchte die Drottning Blankas-Schule dort. Das fand Cecilia gut. Man wurde doch leicht zu bequem, wenn man nicht mal neue Leute kennenlernen musste.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Agnes. Ihr Verschwinden machte den ganzen Ort verrückt. Cecilia hatte selbst viele Stunden investiert, um bei der Suche zu helfen, doch es war wie verhext. Obwohl sie so viele waren, obwohl Freiwillige quasi aus ganz Westschweden angereist waren, konnte man Agnes nicht finden. Dasselbe galt auf dem Wasser. Erling hatte viele freie Stunden bei der Seenotrettung verbracht.
Cecilia unterdrückte ein Gähnen. Sie musste ihren Schlaf in Ordnung bringen. Die durchwachten Zeiten in den Nächten wurden immer länger.
Bald war die Kaffeepause zu Ende. Sie sollte den Computer runterfahren, damit sie noch auf die Toilette gehen konnte, ehe sie wieder arbeiten musste.
Aber mit den Fingern war es wie mit dem Herzen.
Sie lebten ihr eigenes Leben.
Ohne dass Cecilia sich beherrschen konnte, ging sie zu Google und suchte den Namen Christa McAuliffe. Auch sie war Lehrerin gewesen, genau wie Agnes, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn Christa McAuliffe war die erste zivile Astronautin gewesen. Doch hatte sie nur eine einzige Reise unternommen.
Mit der Raumfähre Challenger.
Herausforderer.
Die Fähre, die dreiundsiebzig Sekunden nach dem Start explodierte. Direkt vor den Augen von allen, die zum John F. Kennedy Space Center in Florida gereist waren, um die Raumfähre hochschießen zu sehen, und auch vor allen, die den Start live im Fernsehen verfolgten.
Wie verhext starrte Cecilia auf den erleuchteten Bildschirm des Computers. Eigentlich war es lächerlich, den Umweg über Google zu nehmen. Sie wusste schließlich, was sie suchte, sie wusste, wo sie landen würde. Auf Youtube, wo sie immer dieselben grotesken Filmabschnitte anschaute.
Wieder und wieder.
Cecilia lehnte sich zurück. Die Lautstärke war so leise wie möglich eingestellt, aber immer noch hörbar. Schon lief der erste Film an. Die Raumfähre Challenger machte sich bereit abzuheben. Die Triebwerke wurden eingeschaltet. Eine Sprecherstimme zählte runter. Und dann hob sie ab.
Dreiundsiebzig Sekunden.
Mehr Zeit war nicht nötig, um einen Traum in eine Katastrophe zu verwandeln.