»Ich vertraue der Polizei nicht.«
Isaks Stimme klang heiser und angespannt. Sie saßen in Isaks Zimmer, er und Karl. Heute waren sie zum ersten Mal seit Agnes’ Verschwinden in der Schule gewesen. Karl hatte kaum gehört, was die Lehrer sagten. Er konnte an nichts anderes denken als an das, was er wusste, aber nicht erzählen durfte.
Es zerrte an ihm.
Sogar die Busfahrt nach Uddevalla, wo seine Schule lag, fühlte sich schon anstrengend an. Weder in Kungshamn noch in Smögen oder woanders in der Nähe gab es ein Gymnasium. Deshalb fuhren Karl und Isak jeden Morgen nach Uddevalla, wo es das meiste gab, was zu Hause fehlte.
Eigentlich hatte Karl auf das Gymnasium in Göteborg gehen wollen, doch er hatte nicht gewagt, seinen Eltern den Vorschlag zu machen. Dann hätte er nämlich dort wohnen müssen, und das hätte seine Mutter nicht verkraftet. Sie hatte schon Schnappatmung gekriegt, als er Lysekil als Alternative erwähnt hatte, weil er nämlich dorthin von Kungshamn mit ihrem Boot hätte fahren können.
»Du willst jeden Tag mit dem Boot hin- und zurückfahren?«, hatte sie gefragt. »Ich finde, das klingt ziemlich umständlich.«
Karl schüttelte den Kopf, um sich auf das zu konzentrieren, was Isak sagte.
»Was meinst du damit, dass du der Polizei nicht vertraust?«, fragte er.
»Ich meine, dass jetzt mehr als eine Woche vergangen ist«, entgegnete Isak. »Das ist doch … total krank! Denk doch bloß mal, wie lange es gedauert hat, bis sie Mamas Halskette gefunden haben! Wir müssen noch härter arbeiten. Kuck mal, ich habe eine Karte gemacht.«
»Lass sehen«, sagte Karl.
Er mochte es nicht, wenn Isak redete, als wären sie die beiden Einzigen, die wussten, wie man nach einer verschwundenen Person suchte.
Isak breitete auf dem Fußboden eine große Papierkarte aus. Sie zeigte Smögen, Kungshamn, Väjern und Hovenäset.
Karl starrte auf die Karte.
Isak hatte eine Menge Kreuze an unterschiedliche Stellen gemalt und dann zwischen ihnen Striche in verschiedenen Farben gezogen. Er war einfach von der paranoiden Sorte. So hatte er zum Beispiel Hunderte, vielleicht Tausende Artikel darüber gelesen, wie Unternehmen durch verschiedene Software ihre Kunden ausspionierten.
»Sowie du ein Programm installiert hast, fangen sie an, dich zu verfolgen«, hatte er zu Karl gesagt.
Da half es auch nichts, wenn Karl fragte, warum es irgendjemanden interessieren sollte, was ausgerechnet Isak im Internet unternahm. Isak grinste nur und schüttelte den Kopf. Er nannte Karl »naiv, aber solidarisch« und fand, das mit dem Solidarischen sei das Wichtigste. So wie jetzt, da Agnes verschwunden war. Isak wusste nicht, dass Karl sich mit jedem Tag, der verging, immer schrecklicher fühlte.
So viele Lügen.
Tag für Tag.
Er brauchte eine Pause. Irgendetwas musste mal wieder so sein wie immer. Er wollte das tun, was er sonst immer tat. Trainieren oder im Bootshaus sitzen und lesen und lernen. Alles wäre besser, als so weiterzumachen wie jetzt gerade.
Karl studierte wieder Isaks Karte.
Die war chaotisch und schwer zu durchschauen.
»Du weißt schon, dass es für das hier richtig gute Programme gibt, oder?«, sagte er. »Über Google zum Beispiel kannst du dir jede Karte runterladen. Man kann die Gegend sehen, kleine Straßen, große Straßen, Häuser und andere Gebäude.«
Isak stöhnte.
»Ich weiß«, gab er zurück. »Aber das ist doch ganz schön unbehaglich, was? Überleg doch mal, wie viel Info man über sich selbst rauslässt, wenn man sowas hier im Netz macht. Die kann jeder dann einfach so abgreifen.«
Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
Dann fuhr er fort:
»Wir haben keine Ahnung, was Mama passiert ist. Ich sage ja nicht, dass es sonderlich wahrscheinlich ist, aber was, wenn sie etwas Geheimes beobachtet hat? Also, richtig geheim. Wir wissen nicht, wen wir jagen, wir müssen vorsichtig sein. Damit uns nicht die falschen Personen auf die Spur kommen.«
Karl schwieg, es hatte keinen Sinn, Isak zu widersprechen, wenn er sich in etwas verrannt hatte.
»Erkläre mir mal, was das hier ist«, sagte er und wischte mit der Hand über all die Markierungen auf der Karte.
Normalerweise hätte er über Isaks Seeräuberkarte gelacht, doch jetzt fiel es ihm leicht, ernst zu bleiben.
Isak schniefte und fuhr sich mit dem Arm unter der Nase her. Schon seit Isak klein war, hatte Karl immer wieder gehört, wie Agnes schimpfte, er solle das lassen. Wenn man verschnupft war, schnäuzte man sich. Man wischte sich nicht den Rotz auf seinen Pullover.
Agnes, Agnes, Agnes.
»Ich habe mit der Polizei gesprochen und rausgekriegt, welche Gebiete die abgesucht haben«, sagte Isak. »Und Missing People natürlich. Wir müssen kreativ sein. Wir müssen da suchen, wo noch kein anderer gewesen ist.«
Er zeigte auf die Karte, und Karl nickte steif. Die markierten Stellen waren Orte, die bereits einmal oder mehrfach durchsucht worden waren. Natürlich könnte es eine logische Erklärung dafür geben, dass man die Orte, die nicht durchsucht worden waren, unberücksichtigt gelassen hatte, aber Karl wusste, mit dieser Art Argumentation würde er nicht durchdringen.
Außerdem wollte er sich nicht mit Isak streiten. Die Suche war das Einzige, was Isak ruhig hielt. Und solange Isak ruhig war, fiel auch Karl alles leichter.
Isak legte den Finger auf die Karte.
»Die Campingplätze sollten besser abgesucht werden«, erklärte er.
»Warum das?«, fragte Karl.
»Weil da immer noch einige Gäste sind. Weil jemand etwas gesehen haben könnte. Da kann alles Mögliche passiert sein.«
Und noch bevor Karl antworten konnte, sagte Isak:
»Ich war bereits auf dem Campingplatz von Wiggersvik. Und auf dem von Johannesvik.«
Das waren die Campingplätze, die zwischen Hovenäset und Kungshamn lagen.
Karl holte tief Luft.
»Okay, und was hast du da gemacht?«
»Nur das Notwendigste«, gab Isak zurück. »Ich habe die Leute gefragt, ob sie etwas zu verbergen haben, und das hatten sie nicht.«
Karl sah vor sich, wie Isak wie ein Verrückter an den Türen von fremden Wohnmobilen ruckelte und verlangte, reinkommen und sich umsehen zu dürfen.
Isak sah konzentriert aus.
»Hovenäset«, sagte er, »da sollten wir noch mal eine Runde drehen.«
Karl starrte auf die Karte. Auf Hovenäset gab es viel weniger Kreuze, und so konnte das auch gerne bleiben.
»Aber da kennt Agnes doch irgendwie gar niemanden«, sagte er.
»Was zum Teufel spielt das denn für eine Rolle?«, entgegnete Isak. »Sie kennt auch nur zwei, die in Väjern und Hunnebostrand wohnen, aber da haben sie trotzdem schon gesucht.«
Karl zwang sich, ruhig zu bleiben.
Er wollte nicht nach Hovenäset fahren. Nicht mit Isak.
»Jetzt denk mal logisch«, erklärte er. »Hovenäset ist wie Hunnebostrand – ein Ort, der durchsucht werden musste, und das ist geschehen. Da war sie nicht.«
Isaks Blick wurde glasig.
Er machte ein weiteres Kreuz auf der Karte. Ein Ort, den er offensichtlich zu markieren vergessen hatte. Karl beobachtete ihn schweigend. Wie viele Ausflüge auf eigene Faust hatte Isak eigentlich unternommen?
»Janssons Haus«, sagte Isak. »Das Eishaus. Was denkst du darüber?«
Karls Puls stieg, seine Hände wurden feucht.
»Ich denke, wir sollten es lassen«, sagte er.
Isak ging zum Schreibtisch und wühlte ziellos zwischen den Sachen, die dort auf der harten Kiefernholz-Tischplatte lagen. Soweit sich Karl erinnern konnte, hatte Isak schon seit Kindertagen denselben Schreibtisch.
»Wir hatten das Haus damals gemietet, als wir renoviert haben«, sagte Isak, »ein echt kranker Ort.«
Ich weiß, dachte Karl. Ich weiß, dass ihr das gemietet hattet.
»Du weißt ja wohl, was da passiert ist«, fügte Isak hinzu. »Das war damals genau das Gleiche.«
Karl spürte, wie ihm der Puls im Kopf dröhnte.
Er wusste, wovon Isak sprach.
Alle wussten, was in Janssons Haus geschehen war und warum es das Eishaus genannt wurde. Und natürlich redeten einige davon, dass es Agnes jetzt genauso ergangen wäre.
»Wie, das Gleiche?«, fragte Karl.
»Die da … na, da war doch damals auch jemand, der verschwunden ist. Und dann …«
Isak verstummte und wühlte weiter in seinen Sachen herum.
Karl seufzte.
»In dem Haus wohnt jetzt einer«, sagte er. »Der Typ, der das Bestattungsinstitut gekauft hat, der Stockholmer. Man kann nicht einfach … Wir können da nicht einfach hingehen. Das geht nicht. Ich hab auch gleich Fußball, und …«
Isak sah auf.
»Ich sage ja nur, dass wir das mal checken sollten«, meinte er. »Scheiß auf den Stockholmer. Ich weiß, wie wir den aus dem Haus kriegen.«