Der Belgier hatte einmal einem Mann gehört, dessen Vater Wallone gewesen war, aber belgischer als das war die Bar nicht. Eigentlich war es Zufall, dass sich die »Leseratten« ausgerechnet dort versammelten. Zu Anfang hatte man erwogen, sich im Bella Gästis in Hunnebostrand zu treffen, doch dann war die Wahl auf Kungshamn gefallen, weil die Teilnehmer das besser erreichen konnten.

Dies und noch einiges dazu bekam August von Esmeralda Jansson erzählt, die ihn sofort zu sich gewinkt hatte, als er die Bar betrat und noch herauszufinden versuchte, welche der anwesenden Gruppen ein Lesekreis war. Das Lokal wirkte wie die Mischung aus einer amerikanischen Sportsbar (die Sitzplätze bestanden zumeist aus einander zugewandten Bänken mit einem Tisch dazwischen) und einem britischen Pub (Holzpaneele an den Wänden und einer von Essensdampf und altem Zigarettenrauch vergilbten Decke). Auf der Karte standen hauptsächlich deutsche, dänische und amerikanische Biersorten. Eine belgische war witzigerweise nicht dabei.

»So hat es angefangen«, sagte sie schließlich.

»Gut«, mischte sich eine ältere Dame ein, »und ich finde, jetzt kannst du mal kurz aufhören zu reden, Esmeralda, und ein bisschen Bier trinken.«

Sie zwinkerte August zu.

»Jemand muss ihm doch vom Hintergrund erzählen«, verteidigte sich Esmeralda.

Zehn Personen saßen um den Tisch, und alle außer August hatten das Buch dabei. Er bat um Entschuldigung für seine Nachlässigkeit und versprach Besserung zum nächsten Mal. Aber das war nicht das Einzige, was ihn unterschied. Er war auch der einzige Mann in der Runde.

Die anderen sahen ihn neugierig an.

Alle hatten ihn mit Handschlag und einem Du begrüßt und sich vorgestellt. Jetzt kämpfte August, um sich wenigstens von einem Drittel die Namen zu merken. Esmeralda kannte er ja bereits und auch Yvonne von der Suchaktion der Missing People. August konnte ziemlich viel, aber wenn es darum ging, sich an den Namen von Leuten zu erinnern und dann auch noch den richtigen Namen mit dem richtigen Gesicht zu verbinden, scheiterte er viel zu oft.

Da war Henrik das ganze Gegenteil. Der erinnerte sich an alle und konnte auch immer Menschen das Gefühl geben, beachtet zu werden. Auch solchen, die er wirklich nicht mochte. August war zu dieser Art Anpassung nicht wirklich fähig. Und in seinem tiefsten Innern fand er, dass Henriks Talent vielleicht nichts war, um das man ihn beneiden, sondern das einen eher erschrecken musste.

Aufrichtigkeit war eine Tugend.

Manipulation ein Werkzeug, auf das man verzichten konnte.

August bestellte ein Bier und lehnte sich zurück.

»Wo ist Maria?«, fragte Esmeralda. »Sie müsste doch schon hier sein.«

»Sie kommt bestimmt«, meinte Yvonne, »es sieht ihr gar nicht ähnlich, den Lesekreis zu verpassen.«

»Auf der anderen Seite hat sie grad verdammt viel zu tun«, sagte ein jüngeres Mädchen, das bisher schweigend dagesessen hatte. »Mit dem Verschwinden und so, meine ich.«

Einige brummten zustimmend.

»Am schlimmsten ist die Ungewissheit«, sagte Esmeralda. »Dass wir nicht erfahren, ob ein Verbrechen begangen wurde oder ob ein Unfall passiert ist.«

Das Verschwinden von Agnes war etwas, das den ganzen Ort beschäftigte. Das hatte August bereits gemerkt, doch wie bedeutend das Ereignis wog, begriff er erst jetzt.

Bald bewegte sich das Gespräch wieder zurück zu August.

»Hast du dich hier in Kungshamn denn schon eingelebt?«, fragte Yvonne.

Noch ehe er antworten konnte, sagte Esmeralda:

»Er ist doch gerade erst angekommen. Da ist es doch schon viel, dass er uns hier im Belgier gefunden hat.«

»Was anderes habe ich ja gar nicht gesagt«, entgegnete Yvonne, »aber …«

»Außerdem wohnt er ja nicht in Gravarne«, meinte eine dritte Frau. »Er hat sich ja für Hovenäset entschieden.«

Sie sagte das, als würde Hovenäset auf halbem Weg nach Stockholm liegen und nicht nur ein paar Kilometer entfernt.

»Jetzt sag mal nicht Gravarne«, sagte Yvonne, »dann weiß er nicht, was du meinst.«

»Doch«, sagte August, der das Wort schon gehört hatte, »ich weiß, dass Kungshamn manchmal Gravarne genannt wird.«

»Nicht ganz die Wahrheit, wenn man spitzfindig sein will«, sagte Yvonne und lächelte. »Gravarne ist nur ein Teil von Kungshamn, genau wie zum Beispiel Tången und Bäckevik. Kungshamn ist mehr ein Name für die Gesamtgemeinde, und so heißt der Ort seit den 1960er-Jahren. Zumindest für einige.«

Ein Name für die Gesamtgemeinde. Sprache und Wörter waren wichtige Dinge, das wusste August. Aber das hier war eine neue Situation.

»Warst du denn schon mal auf Smögen?«, fragte Yvonne.

»Definitiv«, erwiderte er. »Schöner Ort.«

Das fand er wirklich. Smögen war nett und ohne Frage der bekannteste Ort der Kommune. Vielleicht war es dieser Status des Ortes, der August das Gefühl gab, mehr nach Hovenäset zu gehören. Er war nicht cool genug für Smögen. Aber er fuhr sehr gern dorthin und aß in einem der Restaurants, die auch im Winterhalbjahr geöffnet hatten, und wenn der nächste Sommer kam, würde er Henrik mal mitnehmen.

Der Kellner kam zurück. Diesmal hatte er eine große Schüssel mit Bockwurst im Brot dabei. August sah erstaunt die Schüssel an, die mitten auf den Tisch gestellt wurde.

»Das ist Tradition«, sagte Esmeralda. »Wir essen immer Bockwurst, wenn wir uns treffen. Obwohl es nicht auf der Karte steht.«

August griff nach einer Wurst und probierte. Das Brot war geröstet und die Wurst salzig.

»Gut, oder?«, fragte Yvonne.

August nickte.

Die Kneipenabende in Stockholm kamen ihm weit entfernt vor. Der Belgier lud zu anderen Sachen ein. Rein kulinarisch natürlich weniger ehrgeizig, doch das Einfache war fast immer gut. Und vor allem war es gut genug.

»Wie ist es denn, auf Hovenäset zu wohnen?«, fragte eine Frau mit langen roten Haaren, die sich bisher zurückgehalten hatte. »Gefällt es dir?«

»Hovenäset ist ein fantastischer Ort«, erwiderte August.

»Aber vielleicht ein bisschen einsam, oder?«, erkundigte sich Yvonne. »Viele Leute wohnen da ja nicht gerade.«

»Das stimmt«, antwortete August, »aber ich muss sagen, dass mir das gefällt. Zumindest bisher.«

Um den Tisch wurde es still. Die Blicke wanderten von August zu Esmeralda und wieder zu August. Schließlich konnte eine nicht an sich halten und fragte:

»Und das Haus? Wieso ausgerechnet Janssons Haus?«

Doch auf diese Frage konnte August nicht antworten, ehe Esmeralda schon blitzschnell dazwischenfuhr.

»Was ist denn das für eine Frage?«, schimpfte sie. »Für diese Sorte Tratsch danke ich.«

»Tratsch?«, fragte Yvonne. »Wir reden hier ja wohl von schlichten Fakten.«

»Jetzt diskutieren wir über das Buch«, entschied Esmeralda.

Mehrere verdrehten die Augen.

»Wir sind doch einfach nur neugierig, warum August nicht stattdessen hier in Kungshamn wohnt.«

Da richtete August sich ein wenig auf und sprach so ruhig wie möglich:

»Das Haus ist perfekt. Es gibt überhaupt keine Probleme, und ich bin sehr dankbar, dass ich so kurzfristig dort einziehen konnte.«

Esmeralda warf ihm einen dankbaren Blick zu. August fragte sich, was sie wohl gesagt hätte, wenn sie wüsste, dass er Henrik gebeten hatte, sich über das Haus zu informieren. Offensichtlich gab es da eine Geschichte, und die wollte August erfahren. Zwar hatte sein Wegzug aus Stockholm unter anderem zum Ziel, sein Kontrollbedürfnis herunterzuschrauben (das Leben machte ja sowieso, wozu es Lust hatte – es hatte überhaupt keinen Sinn, irgendetwas im Detail zu kontrollieren, was man nicht im Zaum halten konnte), doch das sollte ja nicht bedeuten, dass ihm der Funken völlig verloren ging. Wenn das Haus beeinflusste, wie ihm die Menschen hier begegneten, dann war das ein Problem, mit dem er umgehen musste.

»Entschuldigt meine Verspätung.«

Köpfe drehten sich herum, und Stühle schurrten über den Boden, als alle, die mit dem Rücken zu der Stimme saßen, sich umdrehten.

Und da stand sie. Maria Martinsson, die er auf Klåvholmen gesehen hatte, als er zusammen mit Missing People nach Agnes gesucht hatte. Und mit der er telefoniert hatte.

Sie lächelte freundlich und schüttelte ihre regennassen Haare.

»Was für ein Scheißwetter!«, rief sie und lachte.

Dann begegneten sich ihre Blicke.

»Strindberg?«, fragte sie.

»August«, erwiderte August und stand rasch auf.

Sie gaben sich die Hand, und er setzte sich wieder. Sie hatte einen festen Händedruck von der Sorte, die August mit Menschen assoziierte, die sehr viel öfter ins Fitness-Studio gingen als er.

»Wie schön, dass du da bist, Maria«, sagte Esmeralda und zog einen leeren Stuhl heran, der neben ihrem stand. »Wir hatten schon befürchtet, du müsstest arbeiten. Komm, setz dich, und nimm eine Wurst.«

Maria ging um den Tisch und zog gleichzeitig ihre Jacke aus.

»Das mit Strindberg«, begann Yvonne, »ist das echt?«

August nickte.

»Ja«, sagte er, »das ist es.«

Maria öffnete ihre Tasche und legte den Report der Magd auf den Tisch.

»Und? Was denken wir?«, fragte sie.

»Zäh«, antwortete Esmeralda.

»Gefühlvoll«, sagte das junge Mädchen, das zuvor schon gemeint hatte, Maria müsste viel zu tun haben.

»Die Fernsehserie war besser«, meldete sich Yvonne zu Wort.

Einige nickten zustimmend, während eine Teilnehmerin meinte, dass Fernsehserie und Buch nicht vergleichbar wären.

»Was fandest du denn, August?«, fragte das junge Mädchen.

Wahrscheinlich hätte er sich jetzt schämen müssen, aber das tat er nicht.

»Ich habe es nicht gelesen«, entschuldigte er sich. »Ich habe es nicht geschafft.«

»Wie schön, dass du da ehrlich bist«, sagte Maria.

August sah sie an. Ihr Blick hatte etwas Verspieltes und Verschmitztes.

»Ich bin ein schlechter Lügner, also schweige ich lieber«, bekannte August. »Oder ich sage, wie es ist.«

Maria legte ein freundliches Lächeln auf.

»Wie geht es bei euch?«, fragte Esmeralda. »Werdet ihr Agnes finden?«

Maria schwieg einen Moment und schien darüber nachzudenken, was sie antworten sollte. August merkte, wie gespannt er wartete. Menschen, die nachdachten, ehe sie redeten, waren ihm sympathisch.

Schließlich sagte Maria:

»Tatsächlich bezweifle ich überhaupt nicht, dass wir sie finden werden«, sagte sie mit einem Blick, der vom Ernst dunkel geworden war.

Da hob Yvonne den Kopf. Ihre Miene wirkte besorgt.

»Aber wenn ihr es doch nicht schafft?«, fragte sie. »Es sind schließlich schon einige Tage vergangen.«

Maria sah fast ein bisschen streng aus, als sie antwortete.

»Nicht schaffen ist keine Option«, entgegnete sie. »Wir werden Agnes finden. Wegen ihrer Familie und nicht zuletzt um ihrer selbst willen.«

Die Frau, die zuvor versucht hatte, auf Janssons Haus zu sprechen zu kommen, schielte zu August und dann zu Esmeralda rüber.

»Hoffentlich findet ihr sie so schnell wie möglich«, sagte sie zu Maria. »Nicht dass es so endet wie letztes Mal. Ich meine, man weiß schließlich nicht, ob es damals mit rechten Dingen zugegangen ist, als das Unglück Janssons Haus traf.«

Esmeralda sah aus, als läge ihr eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, doch Maria kam ihr zuvor.

»Wir tun, was wir können«, sagte sie, »und es gibt niemanden bei der Polizei, der glaubt, dass Agnes’ Verschwinden etwas mit den Ereignissen zu tun hat, die nunmehr dreißig Jahre zurückliegen. Ihr müsst das loslassen. Und außerdem finde ich, sollten wir die Dinge ruhig bei ihrem richtigen Namen nennen. Von einem ›Unglück‹ konnte man damals auf Hovenäset kaum reden. Das war Mord, nicht mehr und nicht weniger.«

Mord?

August sah von einer zur anderen. Esmeralda senkte den Blick und weigerte sich, ihn anzusehen.

Alle schienen zu wissen, wovon Maria redete. Alle außer August.

Das gibt neuen Stoff für Henrik morgen, dachte er. Und dann muss ich Sven und Esmeralda mal bitten, mir reinen Wein einzuschenken und zu erzählen, was da eigentlich passiert ist.