»Okay, es hat sich einiges getan, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Gott sei Dank. Was besprechen wir zuerst?«
Wie üblich leitete Roland die Besprechung, die im Wohnwagen in Kungshamn abgehalten wurde. Ein weiteres Treffen, bei dem sie viel zu viele auf viel zu engem Raum waren. Ein Mensch mit Klaustrophobie würde hier binnen weniger Minuten ausflippen. Doch Maria machte es nichts aus.
Was würde sie nur tun ohne ihre Arbeit?
So oft schon hatte die Routine, zu einem Arbeitsplatz gehen zu können, sie davor bewahrt, verrückt zu werden.
Sie war erschöpft und müde. Und sie hatte Schmerzen. Die Nacht war ein Albtraum gewesen. Diesmal war es ihr nicht gelungen, die Gewalt abzulenken. Einen Moment lang hatte sie sogar geglaubt, sie müsse sich krankschreiben lassen, doch konnte man erstaunlich viel mit Eis und Ibuprofen und ein paar Stunden schlaflosen Ruhens lösen. Natürlich trug auch das Adrenalin seinen Teil dazu bei, ebenso wie ihr Ehrgeiz. Da müsste einiges mehr passieren, ehe sie zulassen würde, dass Paul sie daran hinderte herauszufinden, was Agnes Eriksson zugestoßen war.
Maria meinte, die neu hinzugekommenen Verletzungen unter Kontrolle zu haben. Vor allem waren sie gut unter Schichten von Kleidern verborgen, was sie leicht auf das kühle Wetter schieben konnte. Mit ihrer alten Rückenverletzung, die sich im Laufe der Nacht wieder gemeldet hatte, sah es nicht so gut aus. Sie hasste es, daran erinnert zu werden, wie es dazu gekommen war, und doch musste sie immer daran denken.
»Maria, wie ist das hier passiert?«, hatte der Arzt in der Notaufnahme gefragt. Er war nicht wie die anderen Ärzte gewesen, die sie schon behandelt hatten. Er hatte sich Zeit genommen, war zugewandt gewesen. Mitten in dem Chaos, in das sich eine Notaufnahme an einem späten Freitagabend so gern verwandelte, war es ihm gelungen, in ihrer kleinen Ecke der Hölle eine Atmosphäre der Ruhe und Entspannung zu schaffen. Er hatte ein Paar lila Nikes an den Füßen gehabt, deren Farbe sich mit seinem grünen Kittel biss. Sein Namensschild hatte schief gesessen, und sie erinnerte sich an die Erleichterung, die sie verspürt hatte, als ihr klar wurde, dass er nicht unfehlbar war und sogar in seinem Leben etwas schief hängen konnte.
Vielleicht hatte sie deswegen Vertrauen zu ihm gefasst. Oder es lag auch daran, wie er sich zu ihr beugte, als er sprach. Dass er sich ganz ernsthaft dafür zu interessieren schien, wie es ihr ging und wie ihre Lebenssituation aussah.
Und dennoch war sie den Weg der Lügen weitergegangen, war in der bereits so ausgetrampelten und gewohnten Spur geblieben. Die Tränen hatten ihr in den Augen gebrannt, und Maria hatte gekämpft, Worte zu finden und die Stimme nicht zittern zu lassen.
»Es war ein Unfall«, hatte sie gesagt, »wirklich.«
Damals hatte sie eine Entscheidung getroffen, das konnte sie jetzt rückblickend feststellen. Es hatte keine weiteren Besuche im Krankenhaus gegeben. Die Rippenfrakturen hatten von selbst heilen müssen, und die blauen Flecken auf dem Körper waren zugedeckt worden. Denn Maria war nicht die Person, die um Hilfe bat.
Sie bewegte sich, versuchte, eine bequemere Art zu finden, auf dem flachen, harten Sofa des Wohnwagens zu sitzen. Der Regen trommelte auf das Dach, und die Fensterscheiben waren beschlagen. Man musste keine großartig schmutzige Fantasie besitzen, um Witze darüber zu machen, wie der Wohnwagen von außen aussah.
Roland sah seine Mitarbeiter an. Er war gut darin, mehreren Personen gleichzeitig seine Aufmerksamkeit zu schenken. Möglicherweise kam ihm auch entgegen, dass sie auf so wenigen Quadratmetern zusammengedrängt saßen.
Vendela von der Technik, die neben Maria saß, hob vorsichtig eine Hand.
»Ich kann anfangen«, sagte sie. »Wir haben in Agnes’ Telefonverkehr etwas entdeckt. Soweit wir wissen, besaß sie nur ein Handy. Das haben wir immer noch nicht gefunden. Neunundneunzig Prozent allen Telefonverkehrs im letzten Jahr spielte sich zwischen ihr und ihrer Familie, Verwandten, Kolleginnen oder Freundinnen ab. Doch dann haben wir eine Nummer mit unbekanntem Teilnehmer. Die taucht im Mai in den Listen auf und folgt einem anderen Muster.«
»Erklär uns das«, bat Roland.
Ray-Rays Handy gab einen leisen Laut von sich, woraufhin er es sofort in die Hand nahm. Die restliche Versammlung sah ihn erwartungsvoll an.
»Sorry, nichts Revolutionäres«, erklärte Ray-Ray. »Offensichtlich hat ein Schornsteinfeger zweimal im Revier angerufen und möchte mit einem von uns Ermittlern sprechen.«
»Ein Schornsteinfeger, sieh mal einer an«, sagte Roland. »Genau, was wir in dieser Lage brauchen.«
Vendela schniefte.
»Jetzt weine mal nicht, Vendela«, sagte Roland und zwinkerte ihr zu, »so leicht geben wir nicht auf.«
»Verdammt, ist bloß Heuschnupfen«, erklärte Vendela verschämt.
Alle im Wohnwagen lachten, nicht weil es so sonderlich lustig gewesen wäre, sondern weil sie es brauchten.
Vendela drehte den Computer herum, sodass alle außer Maria neben ihr den Bildschirm sehen konnten.
»Diese Anrufe da«, sagte sie, »seht ihr? Da ruft jemand in gleichmäßigen Abständen an – bis zu viermal die Woche –, doch es werden keine wirklichen Gespräche daraus. Die Person legt auf, ehe die Mailbox übernimmt, oder Agnes drückt seine Anrufe weg.«
»Wie lange geht das so?«, sagte ein Kollege, der sich erst kürzlich der Ermittlergruppe angeschlossen hatte.
»Es beginnt im Mai und hört nicht auf, doch die Frequenz der Anrufe variiert im Laufe der Zeit«, erklärte Vendela. »Zwei Wochen im Juli verhält sich die unbekannte Nummer ruhig, doch dann beginnt es wieder. Der letzte Anruf kam, zwei Tage, bevor Agnes verschwunden ist.«
»Wird nur Agnes angerufen, oder kann man auch erkennen, dass sie die Nummer zurückgerufen hat?«, fragte Roland.
»Sie hat diese Nummer, von der die Anrufe kommen, nicht ein einziges Mal selbst angerufen. Ich glaube, ich weiß, warum. Die Anrufe fungieren als ein Signal. Die Person, die anrief, hatte nicht vor, mit ihr an dem Telefon, auf dem er oder sie anrief, zu sprechen. Möglicherweise ließ der Anrufer ein- oder zweimal klingeln und legte dann auf oder wurde weggedrückt. Und dann wurde das Gespräch über ein anderes Telefon geführt.«
Maria zog die Augenbrauen hoch.
»Aber sie hat ja wohl nur ein Telefon, oder?«, sagte sie.
»Soweit wir wissen, hat sie nur ein Telefon«, sagte Vendela. »Doch die meisten von uns haben alte Handys, die rumliegen und vor sich hin gammeln. Es ist keine große Sache, zwei Handys am Laufen zu haben, wenn man will.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Maria. »Jemand hat Agnes auf ihrem Handy angerufen, und dann hat sie die Person von einem anderen Telefon aus angerufen? Warum ging in dem Fall der Anruf nicht direkt auf das andere Telefon?«
»Vielleicht, weil es so geheim war«, sagte die Technikerin. »Wenn es klingeln würde, während sie mit anderen zusammen war, dann müsste sie ja rangehen oder riskieren, eine Erklärung abgeben zu müssen. Es kann aber auch so gewesen sein, dass sie ihrerseits die Person dann über Mail oder einen Chat kontaktiert hat. Doch in dem Fall müssten wir es gesehen haben. Wir sind ihren Computer vorwärts und rückwärts durchgegangen und haben auch Zugang zu ihren privaten Mails bekommen und zu verschiedenen sozialen Medien, in denen sie aktiv war. Facebook, Instagram, Snapchat. Wie auch immer: Ich glaube, dass sie die Person kannte, die anrief, die Gespräche aber für sich behalten wollte.«
Roland trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Gut, Vendela«, sagte er.
Maria musste wieder an das Treffen mit Yvonne nach dem Lesekreis denken.
Frisch verliebt. Agnes sah frisch verliebt aus.
Das war im Mai gewesen. Im selben Monat, als die seltsamen Gespräche in den Telefonlisten auftauchten.
Die Gespräche, Agnes’ Halskette, das Blut, die Kondomverpackung. Puzzlesteine, die zusammenzugehören schienen, ohne jedoch ein Ganzes zu bilden.
Wer hat da angerufen?, dachte Maria. Wer war so geheim?