Die Besprechung im Wohnwagen ging weiter. Die Temperaturen stiegen, und der Sauerstoffgehalt sank.

»Maria«, sagte Roland, »erzähl uns von den letzten Zeugenvernehmungen.«

Sie gab in einigen kurzen Sätzen wieder, was sie von Jochen gehört hatte und wie seine Zeugenaussage überprüft worden war. Paul hatte ihr Gesicht diesmal in Ruhe gelassen, doch einer der Schläge hatte sie über dem Kehlkopf getroffen, und es tat jetzt weh, wenn sie sprach. Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht ungewohnt klang. Als sie von Jochen fertig erzählt hatte, ging sie zu den Treffen mit Yvonne und Agnes’ Mutter über.

Alle schwiegen, als sie berichtete, was sie erfahren hatten. Schließlich übergab sie an Ray-Ray, der zusammenfasste, was in der sogenannten Bauprojekt-Spur ans Licht gekommen war. Vendela ergänzte noch kurz, was sie in den Einzelverbindungsnachweisen von Fredriks Handy entdeckt hatte – nämlich überhaupt nichts.

»Seine Kontakte sind die, die man erwarten würde«, sagte sie. »Allerdings wissen wir ja nicht, worüber sie geredet haben, das weiß nur Fredrik.«

Roland saß mit verschränkten Armen da und hörte zu.

»Das ist interessant«, sagte er, als Vendela fertig war. »Beginnen wir mal mit der vermuteten Verliebtheit. Niemand hat Probleme oder Liebesaffären bezeugt, weder zu Hause noch bei der Arbeit.«

»Wir beginnen gerade mit einer neuen Runde von Vernehmungen«, sagte Ray-Ray und sah die Kollegen an, die sich um diese Aufgabe kümmern sollten. »Vielleicht kommt dabei etwas Neues heraus, das …«

Sein Handy piepte wieder.

»Verdammt noch mal, schalt es doch aus«, brummte Roland.

Ray-Ray ignorierte ihn und las konzentriert auf seinem Handy.

»Das Kondom und die Halskette«, sagte er, »es gibt jetzt einen Bericht. Wir bekommen ihn in einer Stunde.«

»Auf den Bericht bin ich wirklich gespannt«, sagte Roland. »Haben wir eine Theorie, wer das Kondom in das Bootshaus gebracht haben könnte?«

»Spontan denke ich, dass es der Sohn gewesen sein könnte«, sagte Ray-Ray. »Isak.«

»Oder Fredrik«, fügte Maria hinzu. »Wir wissen sehr wenig über die Ehe der beiden. Wir können nicht ausschließen, dass er dort war.«

»Mit einer Geliebten, oder was meinst du?«, fragte Roland.

»Ich kann nur sagen, dass wir nicht im Entferntesten so viel wissen, wie wir gerne würden«, gab Maria zurück.

In ihrem Rücken pochte der Schmerz und wanderte zum Nacken hinauf.

»Der Sohn«, fuhr Roland fort, »an der Front scheint es einige dunkle Wolken zu geben. Mehrere von euch haben ihn als aggressiv empfunden, und in gewisser Weise wird das durch die Zeugenaussage seiner Großmutter auch bestätigt.«

»Wir haben zu wenig gegen Isak in der Hand, um da irgendwie weiterzugehen«, gab Ray-Ray zu bedenken. »Dass er aggressiv ist, reicht nicht aus, um anzunehmen, dass er Agnes körperlichen Schaden zugefügt haben könnte.«

Roland presste die Lippen aufeinander.

»Und die Bauprojekt-Spur?«, fragte er. »Was machen wir damit?«

»Maria und ich werden Fredrik heute im späteren Verlauf des Tages verhören«, erklärte Ray-Ray. »Obwohl ich im Moment mehr an die Spur glaube, die mit ihrer Ehe zu tun hat.«

»Gebt mir Bescheid, wenn ihr den NFZ-Bericht habt«, sagte Roland. »Für heute beenden wir die Besprechung. Und jetzt mach mal einer diese verdammte Tür auf, ehe wir im Dunst ersticken.«

Der Wohnwagen schaukelte, als alle gleichzeitig aufstanden. Maria sah die Rücken ihrer Kollegen, die dringend an die frische Luft wollten. Alle wollten nur raus.

»Muss denn niemand aufs Klo?«, rief Ray-Ray, um das Gemurmel zu übertönen. »Wir haben hier in unserem gemütlichen Versteck eine verdammt gute Personaltoilette.«

Maria lachte und rümpfte die Nase. Die Toilette war so klein, dass man sich da drinnen nicht umdrehen konnte.

Doch dann veränderte sich die Stimmung an der Tür des Wohnwagens.

Die Kollegen verstummten, als ob die Fröhlichkeit als Erstes den Wagen verlassen hätte.

»Roland«, sagte Vendela.

»Was ist?«

Niemand antwortete. Hingegen stiegen viele schnell aus dem Wagen, und andere traten beiseite, wie um Platz für jemanden zu machen.

Jemanden, der hereinkommen wollte.

Maria hob den Blick und sah, wer in der Türöffnung stand.

Fredrik Eriksson.

Er war weiß im Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch sein regennasses Haar.

»Hier geht es ja lebhaft zu«, sagte er. »Ist ja auch wichtig, dass Sie mal Spaß haben, wo Ihr Beruf so traurig ist. Ich muss zugeben, ich bin richtig neidisch. Denn zu Hause sind Isak und ich hauptsächlich bedrückt, das kann ich Ihnen versichern.«

Roland streckte die Hand aus.

»Kommen Sie herein, Fredrik«, sagte er.

Er gab den Kollegen an der Tür schnell ein Zeichen, sich zu entfernen.

»Maria und Ray-Ray bleiben hier«, fügte er hinzu.

Dann drückte er Fredriks Hand.

»Wie geht es Ihnen?«

»Es ist schwer.«

»Das verstehe ich. Nehmen Sie bitte hier neben Ray-Ray Platz.«

Fredrik tat, was ihm gesagt wurde, doch seine ganze Haltung strahlte Misstrauen aus, und sein Blick wirkte nervös und finster.

»Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck bekommen haben, wir seien unseriös«, begann Roland. »Auch Polizisten müssen einmal lachen können.«

Er hätte auch etwas anderes sagen können. Er hätte Unverständnis vorgeben und Fredrik überempfindlich nennen können. Oder er hätte die Selbsterniedrigung wählen und tausendmal um Entschuldigung bitten können.

Doch er wählte das Einfache und Schlichte, stellte Maria fest. Er wählte das Menschliche.

Auch Polizisten müssen einmal lachen können.

Wenn die Leute nur wüssten, wie viel.

Fredrik fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Es war fettig und strähnig. Das war für Maria ein Warnzeichen. Wenn er sich nicht mehr um seine eigene Hygiene kümmern konnte, dann war die Gefahr groß, dass er auch andere Sachen ebenso oder noch mehr vernachlässigte. Zum Beispiel seinen Sohn.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich einfach hierhergekommen bin«, sagte er. »Aber ich habe gesehen, dass im Wohnwagen Leute waren, und ich dachte, dass …«

Er verstummte.

»Wir wissen, dass Sie es schwer haben«, sagte Ray-Ray und legte Fredrik eine Hand auf den Rücken.

Fredrik suchte Marias Blick.

»Haben Sie sie gefunden?«, fragte er.

»Wir suchen«, erwiderte Maria, »ununterbrochen.«

»Wo?«

Überall und nirgends, dachte Maria.

Laut sagte sie:

»Wie geht es Isak?«

Roland warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

Fredrik rieb die Hände gegeneinander.

»Nicht gut«, sagte er. »Wirklich nicht gut. Isak … er … er ist so still geworden. Und jetzt sucht er auf eigene Faust.«

Maria erinnerte sich, was Agnes’ Mutter erzählt hatte. Dass Isak als Kind anstrengend gewesen war und es für Agnes eine schwere Aufgabe gewesen war, ihn großzuziehen.

»Hat Isak gute Unterstützung in der Schule?«, erkundigte sich Ray-Ray. »Ich denke dabei an seine Lehrer zum Beispiel. Ist ein Berater hinzugezogen worden?«

Fredrik lehnte sich auf dem Sofa zurück.

»Man hat ihm einen Berater angeboten, doch er hat es abgelehnt. Seine Lehrer tun wohl, was sie können, aber es ist für alle Beteiligten schwer. Isak meint, er sei ein Einzelgänger, er fühlt sich nicht sonderlich wohl in seiner Klasse. Und er war kaum in der Schule, seit Agnes verschwunden ist.«

»Hat er einen guten Freund, dem er sich vielleicht anvertraut?«, fragte Maria.

»Ja, den hat er«, antwortete Fredrik. »Sein Kumpel Karl hilft ihm, nach Agnes zu suchen. Sie sind eng befreundet, schon seit Kindertagen, gehen aber nicht in dieselbe Schule. Karl ist ungefähr ein Jahr jünger als Isak, doch das merkt man nicht. Er ist so ein Wunderkind, wie sagt man noch gleich …«

»Hochbegabt?«, fragte Ray-Ray.

»Genau. Er will Astronaut werden, und das wird er sicher auch.«

Maria wusste, wen er meinte. Schon in der ersten Nacht und auch später, als sie die Halskette fanden, war ihr ein Freund an Isaks Seite aufgefallen.

Ray-Ray sah über den Tisch hinweg zu Maria und dann zu Roland.

»Wir haben etwas in Ihrem Bootshaus gefunden«, begann er zögerlich und wartete auf die Erlaubnis weiterzureden.

Roland nickte diskret.

Fredrik richtete sich sogleich auf.

»Und was?«, fragte er.

»Eine angebrochene Kondomverpackung«, sagte Maria. »Wissen Sie, wie die dort hingekommen ist?«

»Was? Wovon reden Sie? Ein Kondom?«

»Kein Kondom, nur die Verpackung«, erklärte Maria. »Was glauben Sie? Wer kann in dem Bootshaus gewesen sein und ein Kondom benutzt haben?«

Fredrik saß lange schweigend da.

»Isak vielleicht?«, fragte Ray-Ray. »Ich kann noch hinzufügen, dass wir nicht wissen, wann sie dorthin gekommen ist.«

Fredrik räusperte sich.

»Ich glaube nicht, dass Isak eine Freundin hat«, sagte er. »Aber was weiß ich schon?«

»Hat er vielleicht einen Freund, der in Ihrem Bootshaus ein Date hatte?«, schlug Maria vor.

»Das glaube ich nicht«, sagte Fredrik. »Wie gesagt, Isak hat fast keine Freunde. Also, außer Karl.«

Maria legte den Kopf schief.

»Es ist also nicht Ihres?«, fragte sie.

Fredrik wurde hochrot im Gesicht.

»Was zum Teufel …«, begann er, »glauben Sie, dass ich … wo Agnes verschwunden ist? Das ist doch …«

»Stopp, stopp«, sagte Roland, »nicht unnötig aufregen.«

Doch es war zu spät.

»Sie sitzen hier in Ihrem verdammten Wohnwagen und denken sich Märchen aus, anstatt zu arbeiten«, schimpfte Fredrik. »Das darf ja wohl nicht wahr sein. Wenn die Leute wüssten …«

»Die Leute wissen«, unterbrach Maria ihn. »Glauben Sie mir, wir hören jeden Tag, wie schlecht wir sind, das ist also nichts, was Sie uns erzählen müssen. Genug gesagt – vergessen Sie das Kondom. Wenn Sie nicht wissen, wie es in das Bootshaus gekommen ist, dann belassen wir es dabei.«

Fredrik stützte den Kopf in die Hände.

»Ich bin so müde«, sagte er leise, »so zutiefst verdammt scheißmüde.«

»Aber könnte das Kondom nicht von Ihnen sein?«, begann Maria vorsichtig. »Ich meine ja nicht, dass Sie mit einer anderen Frau dort gewesen sein sollen. Sie könnten ja auch mit Agnes da gewesen sein. Ehe all das passierte.«

Fredrik schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Oder doch, wir waren da. Mein Gott, wir sind schließlich verheiratet, ist doch klar, dass wir … Blödsinn, Sie verstehen schon. Aber ein Kondom haben wir in den letzten zehn Jahren nicht benutzt. Ich bin sterilisiert, wir hatten das Thema Kinder abgeschlossen.«

»Ah, ich verstehe.«

Maria schielte zu Ray-Ray, der mit einem Auge auf sein Handy schaute.

»Eine letzte Sache noch«, begann sie und schaute zu Fredrik. »Ihre Bauprojekte.«

»Meine Bauprojekte?«

»Wir haben Sie ja einige Male gefragt, ob Agnes oder jemand anders in der Familie kürzlich in einen Konflikt geraten ist. Und Sie haben die ganze Zeit mit Nein geantwortet. Doch vielleicht haben wir die Frage falsch gestellt, denn um einige Ihrer Bauprojekte hat es ja durchaus einigen Wirbel gegeben.«

Fredrik sah bestürzt aus.

»Jetzt weiß ich gar nicht, wovon Sie sprechen«, sagte er. »Sollte jemand aus der Baubranche … Was glauben Sie eigentlich?«

»Wir glauben gar nichts«, sagte Maria. »Aber wir müssen fragen. Hat es bei einem Ihrer Bauprojekte einen Konflikt gegeben?«

»Im Grunde bei allen. Doch das waren berufliche Konflikte und nichts, was mit Agnes zu tun hatte.«

»Sie sind nicht bedroht worden?«

»Nein, absolut nicht.«

»Nicht ein einziges Mal?«

»Nein!«

»Okay«, sagte Ray-Ray beruhigend, »okay.«

Fredrik stand auf.

»Entschuldigen Sie, ich bin einfach so nervös«, sagte er.

»Das verstehen wir«, sagte Roland. »Kümmern Sie sich um sich und Isak, und wir treiben die Ermittlung voran. Sie wissen, dass wir uns bei Ihnen melden, sowie wir auch nur den kleinsten Fortschritt machen.«

Maria brachte Fredrik an die Tür.

»Rufen Sie uns an«, sagte sie zu ihm. »Wann immer Sie wollen. Sie haben meine Nummer, und ich werde versuchen, auch außerhalb der Arbeitszeit ranzugehen.«

»Danke«, sagte Fredrik, »ganz herzlichen Dank.«

Sie hob die Hand zum Gruß, als er zu seinem Auto lief, das ein Stück entfernt geparkt war. Maria machte die Tür zu und drehte sich zu ihren Kollegen um.

»Den müssen wir wohl nicht noch einmal vernehmen«, sagte Roland. »Zumindest nicht in der Baugeschichte.«

Maria stimmte zu.

Ray-Rays Blick war auf das glänzende Display seines Handys fixiert.

»Sieh an«, sagte er, »der Bericht ist schon da.«

Seine Stimme klang streng und angespannt.

Roland verschränkte die Arme vor seinem durchtrainierten Brustkorb.

»Und?«

Ray-Ray hob den Kopf.

»Das Blut an der Halskette ist von Agnes und nur von Agnes. Leider keine Spuren von jemand anders.«

Maria schluckte. Agnes hatte geblutet. Weil sie Gewalt erfahren oder einen Unfall gehabt hatte.

»Und auf der Kondomverpackung haben sie zwei Fingerabdrücke gefunden. Der eine gehört jemandem, der uns nicht bekannt ist, doch den anderen konnten sie identifizieren. Er ist von Agnes.«