Waren sie unaufmerksam gewesen?
Das glaubte Maria nicht. Doch es grämte sie, dass es ihnen entgangen war, dass Agnes Eriksson wahrscheinlich in einer destruktiven Beziehung gelebt hatte. Und es grämte sie enorm, Fredrik falsch eingeschätzt zu haben.
Die Zeugenaussage des Schornsteinfegers hatte die gesamte Ermittlung auf den Kopf gestellt. Die Mail über den Umzug zusammen mit der Zeugenaussage von Yvonne und den Fingerabdrücken auf der Kondomverpackung zeigten in ein und dieselbe Richtung: Agnes hatte eine Affäre gehabt. Und sie hatte vorgehabt, Fredrik zu verlassen. Aber irgendetwas war schiefgegangen. Die Theorie der Ermittlergruppe war, dass Fredrik ihren Plänen auf die Schliche gekommen war und sie gestoppt hatte.
Für immer.
Maria wurde wütend, wenn sie an die Halskette, das Blut und die glatten Felsen dachte. Hatte Fredrik Agnes verfolgt, sie gestellt und bedroht? Sie um ihr Leben laufen lassen?
Sie hatten jetzt die Überwachung auf Fredrik angesetzt und verfolgten jeden seiner Schritte. Der Staatsanwalt hatte am Abend zuvor das Abhören des Telefons bewilligt, das alles würde im Laufe der nächsten Stunden beginnen. Maria hatte zudem Akten aus den nahe gelegenen Gesundheitszentralen und Krankenhäusern bestellt, doch keine Hinweise auf mögliche Verletzungen gefunden. Einmal war Agnes vorstellig geworden, weil sie in der Schule hingefallen war und sich das Handgelenk verstaucht hatte. Das war die einzige körperliche Verletzung, für die sie einen Arzt aufgesucht hatte.
Es mangelte ihnen an konkreteren Beweisen, dass Agnes wirklich misshandelt worden war, und das bremste die Ermittlung. In diesem Fall glaubte Maria mehr an die Überwachung als an das Abhören des Telefons, doch war es gut, dass der Staatsanwalt sich kooperativ verhielt. Sie hatten erwogen, Fredrik sofort festzunehmen, dann aber zusammen mit der Staatsanwaltschaft beschlossen, besser zu warten. Sie hatten zu wenig Material und immer noch keine Beweise dafür, dass Fredrik wirklich in das Verschwinden seiner Frau verwickelt war.
»Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren«, hatte der Staatsanwalt gesagt. »Behaltet ihn unter Aufsicht, beobachtet, wohin er uns führt.«
Maria betete zu höheren Mächten, dass Fredrik ein Fehler unterlaufen würde und seine Nerven nicht stark genug für das Wagnis waren, in das er sich begeben hatte. Denn auch sie erkannte die Defizite, auf die der Staatsanwalt hingewiesen hatte. Am Ende des Tages würden sie es nicht ohne ein Geständnis schaffen.
Niemand glaubte mehr daran, Agnes lebend zu finden. Das war eine furchtbare Erkenntnis, ein brutales Scheitern.
Und es war ein unangenehmer Gedanke, dass die Lösung möglicherweise die ganze Zeit direkt vor ihnen gelegen hatte und Fredrik der gesuchte Täter sein könnte.
Fredrik, Agnes’ eigener Ehemann.
Den sie überprüft und aus der Ermittlung ausgeschlossen hatten.
Maria versuchte, den Gedanken zu verdrängen, den sie gerade in Worte gekleidet hatte, doch das gestaltete sich schwerer als sonst.
Nicht alle Ehemänner, die schlagen, töten auch, dachte sie.
Und zwang sich zur Konzentration auf ihren Job.
Agnes würde Gerechtigkeit widerfahren.
Alles andere konnte warten.
Maria und Ray-Ray waren auf dem Weg zur Åsenskolan, dem Arbeitsplatz von Agnes. Sie gingen die kurze Strecke vom Wohnwagen zur Schule, die hoch auf dem Hügel mitten in Kungshamn lag, zu Fuß. Ray-Ray wäre lieber mit dem Auto gefahren (»die Leute nehmen Fußgänger nicht ernst, Maria«), aber Maria hatte sich geweigert. Also unternahmen sie einen Spaziergang, und ausnahmsweise regnete es mal nicht.
Paul redete manchmal davon, dass sie nach Uddevalla ziehen sollten. Das sei, wie er sich ausdrückte, näher an der Zivilisation. Maria nahm an, dass er mit Zivilisation Göteborg meinte, doch sie war anderer Ansicht. Sie arbeitete und lebte gern in kleineren Orten. Früher einmal hatten sie in dieser Sache gleich gedacht. Sie hatten dieselbe Vision gehabt und dieselbe Liebe zu dem Ort, an dem sie wohnten – und zueinander.
Sie richtete sich auf.
Die Nacht war ruhig gewesen.
Ruhig genug, um ihr mehrere Stunden zusammenhängenden Schlafs zu ermöglichen. Sie hatte Tabletten gegen die Schmerzen genommen und fühlte sich stark. Das war natürlich ein trügerisches Gefühl, doch im Moment erfüllte es sie. Paul hielt sich zurück – wie immer, wenn er sie gerade erst verletzt hatte. Als würde er auf ihre Gegenreaktion warten. Er kommentierte nicht einmal, dass sie nicht rangegangen war, als er sie angerufen hatte.
Ray-Ray unternahm einen Versuch zum Smalltalk.
»Die Anruflisten«, sagte er, »all diese Anrufe von einem Handy, das wir nicht nachverfolgen konnten. Wir müssen die Person finden, die angerufen hat.«
Maria lief ein erwartungsfroher Schauer über den Rücken.
In Zeiten der modernen Technik gab es keine Geheimnisse.
Ohne sicher sein zu können, nahm Maria doch an, dass Agnes’ Liebhaber die anonymen Anrufe getätigt hatte, und der musste einen Namen bekommen, um verhört und aus der Ermittlung ausgeschlossen werden zu können. Wenn der Liebhaber nicht gar der Täter war, den sie suchten. Maria machte sich noch einmal bewusst, welches Risiko es war, sich auf eine einzige Ermittlungsspur zu konzentrieren. Erst vor wenigen Tagen hatten sie die Halskette gefunden. Sie mussten auf weitere Überraschungen, die ihnen in den Weg kommen konnten, vorbereitet sein.
Die Rektorin der Åsenskolan empfing Maria und Ray-Ray in einem leeren Klassenzimmer. Sie hieß Sonia Ehrenkrona und war um die fünfzig. Obwohl sie Direktorin vieler Schulen in der Gemeinde Sotenäs war, hatte sie doch nicht in allen ein eigenes Büro, erklärte sie.
»Ich fand es wichtig, Sie hier in Agnes’ Klassenzimmer zu treffen«, sagte Sonia.
Maria war noch nicht in diesem Klassenzimmer gewesen. Die Vernehmungen, die sie mit Agnes’ Kollegen geführt hatte, hatten im Lehrerzimmer der Schule oder im Polizeirevier von Uddevalla stattgefunden. Oder im Wohnwagen.
»Wo sind die Kinder?«, erkundigte sich Ray-Ray.
»Auf einem Ausflug mit ihrem neuen Lehrer«, erwiderte die Rektorin.
Ihr Blick verriet nur abgrundtiefe Trauer, als sie die Worte »neuer Lehrer« aussprach.
»Ich möchte es natürlich so sehen, dass der neue Lehrer, Emil, eine Vertretung ist«, sagte sie, »dass sein Auftrag zeitlich begrenzt ist. Doch jetzt sind bald zwei Wochen vergangen, und ich …«
Sie unterbrach sich.
Weder Maria noch Ray-Ray korrigierten sie. Sie glaubten auch nicht, dass der neue Lehrer etwas anderes als ein dauerhafter Ersatz sein würde. Maria würde nicht aufgeben, ehe sie Agnes gefunden hatte. Doch die Wahrscheinlichkeit, sie lebendig zu finden, war inzwischen so gering, dass sie als unmöglich betrachtet werden musste.
Es tat weh, das zu denken.
Und das Böse erzeugte eine Wut, die Maria streng werden ließ.
»Wir haben gehört, dass Agnes eine sehr geschätzte Lehrerin ist«, sagte sie.
»Oh ja«, erwiderte Sonia. »Sie ist eine der besten, die ich je kennengelernt habe. Ihrem Beruf gegenüber unglaublich hingebungsvoll. Ich glaube ganz im Ernst, dass der Beruf zu den größten Freudenquellen ihres Lebens gehört.«
Dass der Beruf so wichtig für Agnes gewesen sein sollte, hätte auch negativ klingen können, doch das tat es nicht. Im Gegenteil. Als Maria den Blick durch das Klassenzimmer wandern ließ, sah sie nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern etwas, was einem zweiten Zuhause glich. An zwei Wänden hingen Zeichnungen, und an einer dritten waren in verschiedenen Farben gestrichene Bücherregale voller Bücher angebracht.
Die Rektorin nickte zu den Bücherregalen hin.
»Agnes ist eine Meisterin im Entdecken von Secondhandschnäppchen«, erklärte sie. »Die meisten dieser Bücher hat sie auf Flohmärkten und dergleichen gefunden.«
Maria gefiel, dass die Rektorin von Agnes sprach, als würde sie noch leben. Bis das Gegenteil bewiesen war, musste sie natürlich so denken. Marias Blick fiel auf ein großes Klavier, das in der einen Ecke des Klassenzimmers stand. Es war älteren Modells, groß und klobig. Aber schön.
»Ist das Klavier auch ein Secondhandschnäppchen?«, fragte sie.
Die Rektorin lachte.
»Nein, das ist übrig geblieben, als der Musiksaal neu gemacht wurde«, erklärte sie. »Agnes spielt gern darauf und hat darum gebeten, es behalten zu können.«
Obwohl Maria gesehen hatte, dass es im Haus von Familie Eriksson ein Klavier gab, hatte sie doch keine Ahnung gehabt, dass Agnes selbst spielte. Maria sah verstohlen zu Ray-Ray, der keine Miene verzog. Vielleicht wusste er bereits von Agnes’ Interesse für Musik.
»Wie sah es mit Agnes’ Gesundheit aus?«, fragte er.
Sonia schrak zusammen.
»Sah?«, fragte sie.
»Entschuldigung«, erwiderte Ray-Ray. »Sieht.«
»Da müssen Sie sich genauer ausdrücken«, entgegnete die Rektorin verärgert.
»Ich möchte wissen, wie das Arbeitsumfeld hier ist«, verdeutlichte Ray-Ray. »Wie sieht es mit ihren Krankentagen aus?«
Die Rektorin dachte nach.
»Agnes ist ein gesunder Mensch«, sagte sie dann. »Achtet auf ihre Gesundheit und so. Sie war niemals länger krankgeschrieben, aber es kann schon sein, dass sie einzelne Tage gefehlt hat. Das geht ja wohl jedem mal so, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Ray-Ray. »Im Grunde möchte ich wissen, ob sie öfter krank war als andere.«
Sonia schüttelte den Kopf.
»Und über längere Zeit gesehen?«, hakte Maria nach. »Wenn wir mal das vorige Schuljahr nehmen. Wie sah es da mit ihrer Abwesenheit aus?«
»So wie immer«, versicherte Sonia. »Ich würde mich daran erinnern, wenn ihre Krankmeldungen ein wiederkehrendes Problem gewesen wären.«
Als sie verstummte, sah sie aus, als würde sie über etwas nachdenken.
Maria und Ray-Ray beobachteten sie und warteten.
»Jetzt ist Ihnen was eingefallen«, sagte Maria, nachdem es eine Weile still gewesen war.
»Ja«, sagte Sonia gedehnt. »Mir ist tatsächlich etwas eingefallen. Im vorigen Spätherbst merkte ich, dass es Agnes nicht gut ging. Sie war nicht krankgeschrieben, aber sie wirkte bedrückt. Ich hatte Angst, sie würde auf ein Burnout zusteuern, doch sie ließ mich wissen, dass es private Dinge waren, die sie beeinträchtigten. Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Erklärung abgekauft habe, doch ist es in jedem Fall immer besser, wenn man Probleme zu dem Zeitpunkt angeht, wenn sie entstehen und nicht später. Die Kommune bezahlte drei Sitzungen bei einem Therapeuten – ein examinierter Psychologe – in Uddevalla. Und ich hatte den Eindruck, als wäre es Agnes danach besser gegangen.«
Drei Sitzungen bei einem Psychologen.
In Marias Welt klang das nach sehr wenig, doch das behielt sie für sich. Außerdem hatte Agnes ja vielleicht beschlossen, den Psychologen auf eigene Rechnung noch weiter aufzusuchen, das wussten sie schließlich nicht.
»Wie hieß der Therapeut?«, fragte Ray-Ray.
»Den Namen habe ich nicht im Kopf«, sagte Sonia. »Aber ich werde ihn nachschauen und mich melden.«
Die Frustration machte Maria rastlos. Sie stand auf und ging zu den Zeichnungen, die am nächsten zu der langen Reihe von Fenstern hingen.
»Die haben die Kinder für Agnes gemalt«, erklärte Sonia. »Sie sind schön, nicht wahr?«
Sie lächelte wehmütig.
Sie weiß es, dachte Maria, genau wie wir. Dass Agnes verloren ist.
Die Zeichnungen hatten kein einheitliches Thema. Auf einer von ihnen war ein Berg Obst dargestellt, auf einer anderen etwas, das wie eine Kaffeetasse und ein Brot aussah.
»Sind die Zeichnungen ein Geschenk für Agnes?«, fragte Maria.
Die Rektorin schüttelte den Kopf.
»Emil, der neue Lehrer, hat gemerkt, dass die Kinder in großer Sorge sind und dass sie massenhaft Fragen haben, was ihr zugestoßen sein könnte. In dem Versuch, sie positiv an Agnes denken zu lassen, bat er sie, etwas zu zeichnen, was sie gern mit ihr gemacht haben. Eines fand offensichtlich, dass die tägliche Obstpause der große Höhepunkt war. Ein anderes, dass es am schönsten war, wenn sie ein Picknick machten.«
Mit einem Mal war es unerträglich, die Zeichnungen anzuschauen. Die Kinder, die sie gezeichnet hatten, waren gerade in die dritte Klasse gekommen. Für den Rest ihres Lebens würden sie mit der Erinnerung an die Lehrerin leben müssen, die verschwunden war, als sie noch Kinder waren.
Maria schluckte.
Eine der Zeichnungen stach heraus. Dort war ein großer goldfarbener Stern auf einem tiefblauen Hintergrund zu sehen. Unter den Stern hatte jemand mit krakeligen Buchstaben geschrieben: »Ich vermisse dich. Du bist mein Stern!«
Marias Blick verschwamm.
»Wie schön«, sagte sie leise und zeigte auf die Zeichnung.
Sonia nickte.
»Ja, wirklich«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Viele fühlen sich berufen, doch nur wenige sind auserwählt. Agnes ist eine begnadete Lehrerin. Unter allen Sternen, die ich im Laufe der Jahre gesehen habe, gehört Agnes zu denen, die am stärksten leuchten.«