Knapp tausend Meter. Weiter war es nicht zwischen Cecilias Haus und dem der Familie Eriksson. Trotzdem hatte sie das Gefühl, einen Marathon laufen zu müssen.

Der Asphalt unter ihren Füßen war trocken und grauschwarz. Bevor sie von zu Hause losging, hatte sie sich zweimal umgezogen. Die Jacke konnte zum ersten Mal seit mehreren Tagen offen bleiben. Ausgerechnet an diesem Vormittag waren die Wolken hell, fast auseinandergezogen, und man konnte zwischen all dem Weiß sogar hellblaue Flecken ahnen.

Je näher sie kam, desto heftiger und schneller schlug ihr Herz. Sie hatte sich versprochen, umdrehen zu dürfen, wann immer sie wollte. Das hier war nichts, was sie tun musste. Sie konnte genauso gut Erling schicken. Oder anrufen. Dann ersparte sie sich die physische Begegnung.

Cecilia behielt die Fäuste in den Jackentaschen. Sie hatte die Heisere Harriet angerufen und durchgegeben, dass sie sich immer noch kränklich fühlte.

»Du armes Ding«, hatte die Kollegin gesagt, »komm bloß nicht hierher, ehe du gesund bist.«

»Versprochen«, hatte Cecilia geantwortet.

Und sich geschämt.

Es war so unwürdig.

Erling war am Morgen nur widerwillig zur Arbeit gegangen, eigentlich wäre er gern bei Cecilia zu Hause geblieben.

»Kommst du ohne mich klar?«, hatte er gefragt.

Ohne Ironie, mit festem Blick.

Er hatte gemeint, was er sagte. Würde sie einen ganzen Tag alleine zu Hause sein können, ohne komplett durchzudrehen?

Cecilia hatte geantwortet, dass er natürlich zur Arbeit gehen musste und dass es komisch wirken würde, wenn sie beide zu Hause blieben. Vor allem Karl würde fragen, was hier eigentlich vor sich ging.

Sie bog um eine Straßenecke, und da war es, das Haus von Agnes und Fredrik. Ein Haus, in das Cecilia seit Jahrzehnten keinen Fuß gesetzt hatte.

Ein Sturm der Gefühle tobte in ihr, als sie die letzten Meter zur Tür ging. Fredriks Auto war nicht da, aber Isaks Fahrrad stand an die Hauswand gelehnt. Von den Gängen am Lenkrad hing ein Kabel lose herunter.

Sie drückte mit einem tauben Finger auf die Türklingel.

Erst einmal und dann noch mal.

Niemand kam, um zu öffnen, sie hörte nicht einmal Schritte auf der anderen Seite der Tür.

Cecilia schauderte es. Plötzlich war es so kalt und rau geworden. Da half es überhaupt nichts, dass die Wolken nicht mehr so tief hingen und dass es nicht regnete.

Ratlos sah sie sich um.

Es störte die Idylle in der Umgebung, dass niemand da war, um sie mit Leben zu erfüllen. Die Grundstücke waren klein, und die Häuser lagen dicht beieinander. Fast alle waren weiß gestrichen, die meisten holzverkleidet. Nur waren die kleinen Rasenflächen etwas zu wild gewachsen, die Fenster ein bisschen zu dunkel. Auf den Veranden standen keine Möbel, in den Auffahrten keine Autos.

Mit einer Ausnahme: Zwei Grundstücke entfernt stand ein silbergrauer Volvo.

Dieses Auto kannte Cecilia so gut, als wäre es ihr eigenes. Sie hatte es unzählige Male ausgeliehen. Der Besitzer des Volvos brauchte es nur während des Sommers und ließ in der Zwischenzeit eine Reihe von Nachbarn das Auto ausführen, sodass es in regelmäßigen Abständen bewegt wurde.

Das Geräusch von einem Schlüssel, der im Schloss herumgedreht wurde, riss Cecilia aus den Gedanken.

Noch ehe sie sich fassen konnte, ging die Tür auf.

»Hallo.«

Fredrik sah sie erstaunt an.

Cecilia starrte zurück.

Die Haare standen ihm vom Kopf ab, und seine Augen waren rot unterlaufen. Cecilia überwältigten Trauer und Scham gleichzeitig. Fredrik war ein Schatten seiner selbst. Was machte sie hier eigentlich, wie hatte sie sich einbilden können, dass dies eine gute Idee wäre?

Ein Windstoß ließ ein paar Blätter auf der Treppe um ihre Füße tanzen.

Wie unendlich dumm sie sich vorkam.

»Hallo.«

Ihre Stimme war kurz davor zu versagen.

Fredrik sah über ihre Schulter, er schien sich zu fragen, ob noch mehr unerwartete Gäste auf dem Weg in sein Haus waren.

»Ich bin es nur«, sagte Cecilia.

»Das sehe ich.«

Auch seine Stimme klang angespannt.

»Möchtest du reinkommen?«

Sie nickte, denn sie war mit einem konkreten Anliegen von zu Hause losgegangen, das durfte sie nicht vergessen.

Fredrik trat einen Schritt zurück und ließ sie herein. Die Diele war dunkler und kleiner, als sie es in Erinnerung hatte. Geradeaus lag das Wohnzimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen und ließen nur ein Minimum an Tageslicht herein. Auf dem Fußboden in der Diele lagen Schuhe und etwas, das wie Trainingskleidung aussah.

Fredrik machte die Eingangstür zu und schaltete das Deckenlicht ein. Er roch schwach nach Schweiß.

»Entschuldige, dass es hier so furchtbar aussieht«, sagte er. »Es ist gerade alles Chaos.«

Cecilia nickte rasch.

»Das verstehe ich«, sagte sie. »Es muss schrecklich sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie …«

Sie verstummte, denn sie wusste nicht, wie der Satz weitergehen sollte. Fredrik war so vieles passiert, was sie sich nicht vorstellen konnte. Und gleichzeitig kroch ein ganz anderes Gefühl in sie hinein.

Angst.

Denn wer wusste schon, wie die Blutflecken auf den Pullover gekommen waren, den sie auf dem Dachboden gefunden hatte. Wenn es Fredrik war, der … Sie unterbrach sich schnell, denn dieser Gedanke war zu unangenehm.

Cecilia unternahm einen neuen Versuch, hauptsächlich, um ihre eigene Angst zu bekämpfen:

»Was sagt die Polizei?«

Fredrik sah grimmig aus.

»Das ist eine gute Frage«, sagte er. »Die sagen tatsächlich nicht so viel. Oder gar nichts. Frag mich nicht, warum, ich weiß es nicht.«

Cecilia verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.

Sie war jetzt nah dran, es gab keinen Anlass, es noch weiter hinauszuzögern. Wenn sie es nur fertigbrachte zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte, würde sie schnell wieder draußen auf der Straße sein, befreit von Staub und Angst in der Diele der Erikssons.

»Isak scheint nicht sehr zufrieden«, sagte sie.

Fredriks Blick wurde wachsam.

»Nein«, sagte er, »aber das ist ja wohl auch kein Wunder, oder?«

»Nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen. »Natürlich nicht. Also, gar nicht. Aber …«

Wieder gingen ihr die Worte aus.

Wie sollte sie nur herausbringen, was gesagt werden musste?

Sie dachte an den blutverschmierten Pullover.

Der Isak gehörte.

Und von dem sie glaubte, dass Karl – oder Isak? – ihn unter der alten Kommode versteckt hatte. Nicht dass Karl etwas mit Agnes’ Verschwinden zu tun haben könnte, natürlich nicht, so etwas würde er nie tun, er war kein gewalttätiger Mensch.

Doch mit Isak war es anders, das war schon immer so gewesen.

Als die Jungs klein waren, hatte Cecilia gesehen, wie Isak beim Schwimmunterricht im Becken Karls Kopf unter die Wasseroberfläche gedrückt hatte. Seither wusste sie, dass er einen Hang zur Unbeherrschtheit in sich trug.

Das hatte ihr damals wie heute Angst gemacht, genauso wie jetzt.

»Cecilia, was willst du eigentlich? Ich habe tausend Dinge zu erledigen und kann nicht hier stehen und plaudern.«

Tausend Dinge. Wie konnte jemand, der seine verschwundene Frau suchte, tausend Dinge erledigen müssen?

Cecilia nahm Anlauf.

»Karl braucht Ruhe und Entspannung«, sagte sie. »Er muss sich jetzt auf die Schule konzentrieren. Ich will nicht, dass er Isak weiter bei der Suche nach Agnes hilft. Darum muss die Polizei sich kümmern. Okay?«

Die Worte kamen zu schnell, und es wurden zu viele, und nichts davon klang so, wie sie es sich vorgestellt und gedacht hatte. Aber jetzt war es gesagt, und sie konnte es nicht zurücknehmen.

»Entschuldigung, aber was zum Teufel sagst du da?«, fuhr Fredrik sie an. »Dass ich dafür verantwortlich bin, dass dein Junge mit der Schule klarkommt? Und nicht du?«

Seine Augen blitzten.

Cecilia ging rückwärts zur Tür. Sie war so naiv, was hatte sie sich nur dabei gedacht?

»Ich hätte nicht herkommen sollen«, sagte sie.

Doch sie meinte nicht, was sie sagte, denn alles, woran sie denken konnte, war der Pullover mit dem Blutfleck – Isaks Pullover – und die Angst, dass Karl etwas Schlimmes zustoßen könnte.

»Da sind wir vollkommen einer Meinung«, erwiderte Fredrik. »Dass du es überhaupt wagst. Hau ab, verdammt noch mal!«

Er öffnete die Tür, und Cecilia stolperte auf die Treppe hinaus. Sie schaute sich nicht um, sondern lief einfach nur. Schnell, ganz schnell weg von Fredrik, weg von allem Alten. Und in ihr wuchs das Gefühl, jetzt alles nur noch viel schlimmer gemacht zu haben.