Die Spaghetti waren verkocht, und die Hackfleischsoße schmeckte nach Wasser. Karl aß trotzdem. Das Gehirn funktionierte nicht ohne Essen, und ohne Gehirn funktionierte überhaupt nichts. Disziplin, Essen und Ruhe waren wichtig für jemanden, der Astronaut werden wollte.

Karl saß allein mit dem Rücken zur Wand an einem viereckigen Tisch in einer Ecke der Mensa. Seine Tasche hing über der Rückenlehne des Stuhls. Ihr Mathelehrer war krank, und deshalb sollten sie anstelle einer Doppelstunde Mathematik nach dem Mittagessen allein Aufgaben erledigen. Für Karl bedeutete das eine Freistunde, denn mit der Mathematik des Gymnasiums war er bereits fertig.

Karl aß schnell den Rest vom Teller. Er wusste ganz genau, worauf er die Freistunde verwenden wollte. Er musste Isak finden. Sie hatten sich seit mehreren Tagen nicht gesehen.

Er nahm sein Tablett und ging zum Abstellwagen. Dort sortierte er alles, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die Essensreste nach rechts, die Serviette nach links. Besteck separat, Teller separat, Gläser separat.

Karl war schon immer »ordentlich« gewesen.

Im Kindergarten, in der Schule, beim Fußball: ordentlich – und möglicherweise zuverlässig.

Er hatte gehört, er sei einzigartig, und Menschen wie er seien so ungewöhnlich, dass in jeder Generation nur eine Handvoll davon zur Welt kamen. Es fiel ihm schwer, das anzunehmen, denn ein Mensch, der immer schlau und ordentlich war, musste ja auch ziemlich langweilig sein.

Und das war er nicht, fand Karl.

Es war nicht langweilig, Astronaut werden zu wollen.

Und es war nicht langweilig, sich in die Mutter seines besten Freundes zu verlieben.

Agnes.

Nach der alle suchten, die sich aber in Wirklichkeit freiwillig versteckte. Doch das wusste nur Karl.

Eine einzige SMS hatte er bekommen, seit sie verschwunden war, doch das genügte. Die Nachricht war gekommen, während sie nach Agnes suchten, in den allerersten Stunden. Karl konnte sie schon auswendig. Agnes schrieb, die Situation zu Hause sei unhaltbar geworden, sie müsse wegziehen, weg von Fredrik.

Vor allem der letzte Teil war leicht zu verstehen. Karl hatte noch nie gefunden, dass Fredrik und Agnes zueinanderpassten.

Fredrik war so steif, so still, so ernst.

Agnes war das ganze Gegenteil. Sie lächelte und redete ununterbrochen. Im Unterschied zu Karls Mutter sah sie niemals müde aus. Agnes schaffte alles, jederzeit.

Doch jetzt offensichtlich nicht.

Karl mochte gar nicht daran denken, wie es ihm in den ersten Stunden nach Agnes’ Verschwinden gegangen war. Als Isak angerufen und um Hilfe gebeten hatte, gesagt hatte, dass seine Mutter weg sei. Da hatte er so schreckliche Angst bekommen. Und war dann so erleichtert gewesen, als sie sich ausgerechnet bei ihm gemeldet hatte.

Ihr erstes Treffen war im Mai gewesen, doch was Karl anging, hatte es schon viel früher angefangen. Mindestens ein halbes Jahr lang hatte er Agnes beobachtet, ehe etwas geschehen war und er begriffen hatte, dass sie dasselbe empfand wie er. Er liebte es, sich die gemeinsamen Stunden mit ihr in Erinnerung zu rufen.

Im Bootshaus.

Im Eishaus.

Als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, weinte sie.

»Man darf nicht fühlen, was ich fühle«, hatte sie geflüstert.

Karl verstand nicht, warum sie das sagte. Gefühle waren doch wohl frei. Und alles, was sich gut anfühlte, sollte doch erlaubt sein. Er glaubte nicht, dass Agnes sich noch bei jemand anders als bei ihm gemeldet hatte, und das war bedeutsam. Agnes wartete auf ihn, und er sollte wissen, dass es ihr gut ging.

Karl hielt sein Agnes-Handy fest umklammert.

Es war ihre Idee und auch ihre Bedingung gewesen, dass sie sich nur über Handys und Telefonnummern verständigten, die niemand von ihnen sonst benutzte. Die einzigen Ausnahmen waren die kurzen Anrufe, die sie tätigten, um zu zeigen, dass sie Kontakt wollten.

Doch jetzt herrschte einfach nur Schweigen, obwohl Karl eine SMS geschickt und sie gebeten hatte, nach Hause zu kommen.

Karls Besorgnis war Verzweiflung gewichen.

Ihr Schweigen war so schlimm für so viele.

Ihm wurde ganz übel, wenn er daran dachte, was ihr Versteckspiel anrichtete. Für alle.

Wie sollte sie jemals wieder zurück nach Kungshamn kommen können?

Karl hatte gegoogelt und war sehr beunruhigt. Das, was Agnes tat, war strafbar. Man durfte nicht so tun, als wäre man verschwunden, und ein ganzes Land nach einem suchen lassen. Das kostete Geld, sehr viel Geld. Überall. Die Polizisten, die suchten, arbeiteten nicht gratis. Die Schule, in der Agnes arbeitete, hatte sie durch einen anderen Lehrer ersetzt. Eine ganze Klasse hatte einen neuen Klassenlehrer bekommen. Und dann all die Sponsoren, die Firmen, die die Sucharbeit von Missing People unterstützen, indem sie Essen, Süßigkeiten und Getränke spendeten und die Bustransporte möglich machten.

Es passte überhaupt nicht zu Agnes, einen solchen Zirkus zu veranstalten.

Warum benahm sie sich dann so?

Ohne sich umzusehen, verließ Karl die Mensa. Langsam eilte es. Seine Mutter hatte sich am Morgen noch seltsamer verhalten als sonst. Karl schien es, als hätte sie abgenommen. Ihre Augen waren tief eingesunken, als ob der Schädel zu groß und die Augen zu klein geworden wären. Und sie schaute Karl so seltsam an.

Misstrauisch sah sie aus. Doch nicht nur seine Mutter verhielt sich anders, sondern auch sein Vater. Karl war sicher, dass seine Eltern sich hinter seinem Rücken besprachen und sich über irgendetwas Sorgen machten.

Das machte ihm Angst.

Sie können nichts über mich und Agnes wissen, dachte er. Das ist unmöglich.

Draußen vor der Schule war die Luft kühl und die Wolken hell. Am anderen Ende des Schulhofs standen ein paar Baubaracken, und dahinter war der Parkplatz. Weniger als fünfhundert Meter entfernt lag die Polizeistation. Da war er gewesen, als er einen neuen Pass brauchte. Er vermied es, an all die Polizisten zu denken, die fieberhaft daran arbeiteten, Agnes zu finden.

Mit geübter Hand schrieb er eine Nachricht an Isak:

Wie ist die Lage? Würde dich gern treffen. Jetzt Freistunde.

So schrieben sie sonst nicht miteinander, aber Karl hatte keine Zeit, besser zu formulieren.

Isak antwortete postwendend:

An meiner Front große Probleme. Müssen reden, muss aber erst noch paar Sachen erledigen. Bin in Kungshamn. Treffen im Bootshaus um 17. Komm allein. Brauche deine Hilfe.

Karl las die kurzen Zeilen.

Das war nicht, was er gehofft hatte. Er biss sich auf die Lippen, während er überlegte, was er antworten sollte.

Auf der Straße fuhr ein Streifenwagen vorbei. Als wäre er ein Krimineller, verschwand Karl sofort hinter einer Bushaltestelle.

Was machte er da eigentlich?

Er stellte sich wieder auf den Bürgersteig. Schließlich hatte er nichts zu verbergen. Konzentriert bleiben musste er, das war alles.

Er las die SMS von Isak noch einmal.

An meiner Front große Probleme.

Der Stress zehrte an Karl, und er fuhr sich mit den Nägeln über die Wange. Damit musste er aufhören, die NASA würde einen Kandidaten, der nervös wirkte und sein Gesicht zerkratzte, nicht akzeptieren.

Er musste Isak anrufen, es war nicht die richtige Situation, um noch mehr SMS zu schreiben. Er wollte nicht warten.

Isak klang verärgert, als er ranging.

»Kannst du nicht lesen?«, fauchte er. »Ich habe gesagt, dass wir uns nachher im Bootshaus treffen sollen.«

»Ich weiß«, erwiderte Karl. »Aber ich bin in Uddevalla. Ich glaube nicht, dass ich es bis fünf Uhr schaffe.«

»Okay, dann treffen wir uns stattdessen um sechs. Oder sieben? Das müsstest du doch schaffen.«

Ein weiterer Streifenwagen fuhr vorbei, diesmal in die andere Richtung. Oder war es derselbe?

Der Polizist auf dem Beifahrersitz sah Karl an.

Er antwortete, indem er seinen Blick abwandte.

Die wissen nichts, dachte er. Niemand weiß etwas.

Er unternahm einen neuen Versuch, sich Isak am Telefon zuzuwenden.

»Was machst du denn?«

»Ich erledige die Arbeit der Polizei. Und ich mache sie gut.«

Karl dachte an Isaks Karten und all die Markierungen und Striche, an all die Stunden, die er darauf verwandt hatte, zusammen mit Isak nach Agnes zu suchen. Das konnte so nicht weitergehen. Und ins Bootshaus der Familie Eriksson wollte er auf gar keinen Fall.

»Du musst erzählen, was es ist«, bat Karl. »Ich mache mir Sorgen, verstehst du das nicht? Du könntest Probleme bekommen.«

Sein Freund schwieg.

Das verunsicherte Karl.

»Hallo?«, fragte er schließlich.

Er hörte Isak ins Telefon atmen.

»Ich habe nicht so viel Zeit«, antwortete er. »Ich glaube, dass die Polizei die falsche Spur verfolgt. Erst war ich unsicher, aber dann habe ich angefangen, Papa zu folgen, und … verdammt, die Polizei hat Leute auf ihn angesetzt. Es gibt einen Zivilwagen, der die ganze Zeit hinter ihm herfährt, und er kapiert es nicht mal. So verdammt schwach.«

Karl musste stehen bleiben und sich an einer Straßenlaterne festhalten. Die ganze Welt drehte sich. Schneller und schneller.

»Isak, wovon redest du?«

»Von der Polizei«, erwiderte Isak ungeduldig. »Ich rede von der Polizei. Sie haben Papa wegen irgendwas in Verdacht. Das ist so widerlich, dass ich nicht weiß, was ich … Aber ich werde ihm helfen. Ich brauche einfach nur mehr Zeit.«

Es war, als hätte etwas Karls Gehirn abgeschaltet.

Die Polizei dachte, Fredrik hätte Agnes etwas angetan.

Das stimmte nicht.

Alles , was Agnes getan hatte, war falsch.

»Isak, jetzt hör mal auf mich. Ich glaube …«

»Ich hab keine Zeit, kapierst du nicht?«

Karl schüttelte den Kopf.

»Was hast du vor?«

»Nichts, was du wissen müsstest.«

Dann legte Isak auf.

Karl rief ihn wieder an. Und wieder. Und wieder. Isak ging nicht ran.

Da vibrierte Karls anderes Handy.

Agnes.

Er suchte mit der Hand in der Jackentasche. Es war eilig, das Handy hatte so lange geschwiegen.

Endlich ließ sie von sich hören.

Endlich würde er erfahren, wann sie nach Hause kam.

Er las aufmerksam, was sie schrieb.

Und spürte, wie sich die Dunkelheit um ihn schloss.