Alles tat weh. Das ganze Leben war eine offene Wunde.
Cecilia stand regungslos in der Küche und starrte auf eine Tüte Kartoffeln, die sie rausgeholt hatte. In aller Eile hatte sie entschieden, was sie zum Abendessen haben würden. Köttbullar und Kartoffelbrei.
Doch auch wenn das die einfachste Mahlzeit war, kriegte sie nichts hin.
Sie bereute es, den ganzen Tag zu Hause geblieben zu sein. Wenn sie nicht zur Arbeit ging, würden Angst und Sorge noch mehr Schaden anrichten.
Ihr brach der kalte Schweiß aus, wenn sie sich an die Begegnung mit Fredrik erinnerte.
Sie hatte ihn wütend gemacht, das wusste sie, aber es war notwendig gewesen. Dieser Pullover mit den Blutflecken ließ ihr schließlich keine Ruhe.
Geliebter Karl, was habt ihr angestellt?
Cecilia war in Aufruhr. In ihrer Vorstellung waren die große Bedrohung ihres Glücks und ihrer Ruhe immer Karls Pläne gewesen, das All zu erobern. Hunderte von Stunden hatte sie darüber nachgegrübelt, wie sie ihn daran hindern könnte, und jedes Mal, wenn ihr die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen klar wurde, hatte sie ebenso viel Energie darauf verwandt, immer näher an ihn heranzurücken.
Koste es, was es wolle.
In ihren besonders verzweifelten Stunden hatte sie sich sogar mit dem Gedanken angefreundet, in die USA umziehen zu müssen. Erling konnte tun, was er wollte. Wenn sie zwischen ihrem Mann und ihrem Kind wählen müsste, dann war die Entscheidung leicht.
Ihr einziges Kind.
Sie ging in die Diele. An der Wand gegenüber der Garderobe hing eine lange Reihe gerahmter Fotos von Karl: als Baby, am ersten Kindergartentag, sein Schulanfang, beim Fußball.
Es hatte so sein sollen, dachte Cecilia, wir sollten nur zu dritt bleiben.
Sie war so schrecklich erschöpft. So müde, dass sie sich schwerfällig vorkam. Ihr blieb nur noch ihr Instinkt, und das war ein schlechter Ersatz für die Klarsicht, die sie dringend benötigte.
Der Pullover auf dem Dachboden.
Karls Launenhaftigkeit.
Das Handy, das sie nicht kannte.
Da war irgendetwas sehr Unangenehmes, das spürte sie im ganzen Leib. Sie bewegten sich plötzlich in schnellem Tempo auf eine drohende Katastrophe zu, deren Konturen sie noch nicht mal erahnte.
Aber man musste es doch aufhalten können.
Es war nicht wie bei Christa McAuliffe, die an Bord der Raumfähre Challenger ging und nach einer Reise von nur dreiundsiebzig Sekunden vor Familie und Freunden in Stücke gesprengt wurde.
Cecilia richtete sich auf. Sie hatte viel mehr als nur dreiundsiebzig Sekunden Zeit, ihre Familie zu retten. Ihnen drohte ein Unglück, aber es war noch nicht geschehen. Doch wenn sie das schaffen wollte, musste sie sich zusammenreißen. Sich konzentrieren. Schlau sein. Erwachsen sein.
Eine einsame Träne kullerte ihre Wange hinunter.
Cecilia wischte sie weg. Sie musste noch einmal auf den Dachboden. Da oben könnte es noch mehr Sachen geben, die sie nicht sehen sollte. Noch mehr Geheimnisse, die nicht entdeckt werden sollten.
Mit entschlossenen Schritten ging sie hinauf ins Gästezimmer und zog die Bodentreppe aus. Natürlich bestand die Gefahr, dass Karl das Verschwinden des Pullovers bemerkt und daraufhin andere Dinge, die er da oben versteckt hatte, weggeräumt hatte. Dennoch musste sie nachsehen.
Auf dem Dachboden war es genauso kalt wie letztes Mal. Cecilia verfluchte ihre Gedankenlosigkeit, sie hätte eine Strickjacke mitnehmen sollen.
Zuerst suchte sie unter der Kommode, wo der Pullover gelegen hatte. Da gab es nur Staub. Die Schubladen der Kommode waren auch leer.
Ihre Nervosität wuchs.
Die Bewegungen waren vertraut und bekannt. Hatte sie, als sie das letzte Mal auf dem Dachboden war, die Kommode untersucht? Wahrscheinlich schon. Oder hatte sie sich mit dem Fund des Pullovers begnügt und war dann gegangen?
Sie erinnerte sich nicht.
Vor Angst und Unruhe wurde ihr schwindelig, und sie musste sich beim Aufstehen an der Kommode festhalten, um nicht hinzufallen.
Sie wartete, bis der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankte. Auch ohne Schwindel würde sie hier nichts finden, das musste sie einsehen.
Im Grunde war das logisch, denn sie wusste ja immer noch nicht, was sie suchte. Vielleicht etwas, was ebenso konkret war wie ein blutverschmierter Pullover, aber vielleicht auch etwas Unauffälligeres. Etwas, das die Veränderung erklären könnte, die sich in ihre Familie eingeschlichen hatte.
Sie verließ den Dachboden.
Klappte die Leiter hoch.
Wo könnte sie noch suchen? Wo könnte Karl – oder Isak – sicher geglaubt haben, dass niemand nach Sachen suchen würde, die ihm gehörten?
Die Garage.
Warum hatte sie daran noch nicht gedacht?
Die Garage war Erlings Revier, Karl ging nur dorthin, wenn er gebeten oder gezwungen wurde. Natürlich musste sie da suchen. Karl wusste, dass dies der letzte Ort wäre, wo sie etwas vermuten würde. Und Erling hatte gar keinen Überblick, der fand ja kaum sein eigenes Werkzeug.
Im Unterschied zum Dachboden war die Garage geheizt, da brauchte man weder einen Pullover noch eine Jacke. Cecilia hob einen Gegenstand nach dem anderen auf Erlings Werkbank hoch. Sie untersuchte den Stapel Winterreifen und einen Haufen Persenninge. Sie schob die alten Langlaufski beiseite, die an der Wand aufgereiht waren, und wühlte in einem Haufen mindestens ebenso alter Skistöcke.
Wieder nichts.
Jetzt blieb nur noch der Holzstapel, der in der Garage eigentlich nichts zu suchen hatte, aber trotzdem dort gelandet war. Cecilia nahm einige Holzscheite hoch, noch unsicher, wie man den Stapel am besten durchsuchen könnte, schob noch ein paar Scheite beiseite und dann noch ein paar.
Dann gab sie auf.
»Verdammt noch mal«, flüsterte sie und merkte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen. »Verdammt, verdammt, verdammt.«
Sie sah zu den Fahrrädern. Ihr eigenes, Erlings und das von Karl. Da gab es nicht viel zu suchen. Ein Fahrrad war ein Fahrrad, das hatte keine raffinierten Stellen, an denen man etwas verstecken konnte.
Cecilia strich mit der Hand über den Sattel von Karls Fahrrad und merkte, wie sie einen Kloß im Hals bekam. Es war Erlings Idee gewesen, Karl zum fünfzehnten Geburtstag ein Fahrrad zu kaufen, obwohl er sich keines gewünscht hatte. Cecilia war erstaunt gewesen, wie sehr Karl sich freute. Und Erling auch. Er, der so wenig vom Wesen seines Sohnes begriff, hatte den Sohn ausnahmsweise mal am besten gekannt und da seinen Triumph als Vater gefeiert. Ein großartiger Erfolg.
Cecilia fingerte an der kleinen Tasche herum, die unter dem Sattel saß. Erling hatte sie mit Werkzeug bestückt, das man brauchte, falls man einen Platten oder eine andere Panne hätte, auf die man als Radfahrer in Kungshamn offensichtlich vorbereitet sein musste.
Die Tasche war aus Leder und wurde von zwei Druckknöpfen zugehalten. Cecilia öffnete sie. Ihr Blick fiel auf ein hellgelbes Stück Stoff.
Wahrscheinlich irgendein Putzlumpen.
Sie zog an dem Stoff. Er saß fest. Cecilia seufzte. Eigentlich hatte sie keine Zeit für das hier. Erling und sein Werkzeug. Und jetzt Putzlumpen.
Der Stoff gab nach und fuhr mit ihrer Hand nach oben.
Ein klapperndes Geräusch hallte in der Garage wider, als etwas, das in den Stoff eingewickelt gewesen war, herausfiel und auf dem Fußboden landete.
Der Boden unten Cecilia begann erneut zu schwanken.
Ein Messer.
In den Putzlumpen war ein Messer eingewickelt gewesen.
Und als Cecilia sich das Stoffstück näher ansah, erkannte sie die rostfarbenen Flecken, die getrocknet und dann hart geworden waren. Ebensolche Flecken wie auch auf dem Pullover vom Dachboden. Und auf dem Messer.
Blut.
Cecilia sank auf die Knie.
Oh guter Gott, wie sehr sie sich geirrt hatte.
Das hier war sehr viel schlimmer als Challenger. Sie hatte nicht einmal dreiundsiebzig Sekunden Zeit.
Alles war bereits geschehen.
Cecilias Katastrophe war eine Raumfähre, die explodiert war, ohne dass es ein einziger Mensch wahrgenommen hätte.
Sie zitterte am ganzen Leib, als sie das Telefon herausholte und Erling anrief. Diesmal war er nicht so überrumpelt, als sie sich meldete.
»Du musst nach Hause kommen, Erling. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Ich habe … etwas gefunden.«
Die Beine trugen sie nicht mehr, sie musste sich auf den kalten Betonfußboden in der Garage setzen.
»Jetzt bleib mal ganz ruhig«, sagte Erling. »Wo bist du denn?«
»Zu Hause, das hab ich doch gesagt, in der Garage, bei den Fahrrädern, ich … ich …«
Ihre Stimme versagte. Erling atmete heftig im Telefon.
»Verdammt noch mal, Cecilia, reiß dich zusammen. Was hast du gefunden?«
Cecilia weinte und drückte das Telefon ans Ohr.
»Ein Messer. Ein Messer.«
Dann redete sie weiter, aber sie hörte ihre eigene Stimme nicht mehr und konnte sich hinterher auch nicht erinnern, was sie gesagt hatte. Die Worte strömten ebenso wie die Tränen aus ihr heraus.
Das hier war ein Albtraum.
»Okay, Cecilia, hör mir zu«, sagte Erling mit fester Stimme. »Cecilia, hörst du zu?«
Sie nickte.
»Bist du da?«
»Ja«, flüsterte sie, »ich bin hier.«
»Gut. Du erinnerst dich doch, worüber wir gestern gesprochen haben. Du machst doch jetzt nichts Dummes, oder? Was Karl schaden könnte?«
Cecilia starte auf das Messer, auf das Blut, das Fahrrad.
»Cecilia?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Gut, sehr gut.« Erling klang erleichtert. »Es ist superwichtig, dass wir Karl schützen. Aber … das hier können wir nicht länger für uns behalten. Wir müssen zur Polizei gehen. Wenn du wartest, bis ich nach Hause komme, dann …«
Cecilia stieß einen heiseren Schrei aus.
»Die Polizei? Hast du den Verstand verloren? Das Messer lag in Karls Fahrradtasche, der Pullover auf unserem Dachboden. Begreifst du nicht, wie das aussieht?«
»Die Jungs leihen sich doch andauernd untereinander Sachen aus. Ich habe gesehen, wie Isak das Fahrrad von Karl ausgeliehen hat. Wenn wir ganz genau erklären, was passiert ist, dann …«
»Aber wir wissen doch nicht, was passiert ist! Wir wissen nur, was wir sehen. Und das ist … schrecklich.«
Cecilia erhob sich auf wackligen Beinen. Erling hatte recht, Karl musste geschützt werden, aber nicht durch die Polizei.
Mit dem Putzlappen in der Hand hob sie das Messer vom Fußboden auf. Dieses Messer war ein Gräuel, ein böses Ding, das keinen Platz in der Familie von Cecilia hatte.
»Ich weiß, was ich tun werde«, sagte sie. »Vertrau mir.«
Es klang, als würde Erling weinen.
»Was ist in dich gefahren?«, fragte er. »Was hast du vor?«
»Das, was für Karl am besten ist«, flüsterte Cecilia.
Und mit diesen Worten verließ sie die Garage, ging ins Haus und stopfte Messer und Tuch in ihre Handtasche. Dann zog sie eine Jacke über und ging zum zweiten Mal am selben Tag den kurzen Weg zurück zum Haus der Erikssons.