Maria saß im Wohnwagen und wartete darauf, dass Ray-Ray mit Essen vom Thailänder zurückkäme. Es würde wieder spät werden, da konnte man nichts machen. Hier wurde sie am meisten gebraucht, so war es einfach.
Das Verschwinden von Agnes Eriksson war ein Rätsel ohnegleichen. Niemand glaubte, dass Agnes einen Unfall gehabt hatte, niemand glaubte, dass sie freiwillig verschwunden war.
Außer ihrer ehemaligen Freundin Anna.
Maria grübelte über ihre Theorie nach. Konnten eine Drohung und Angst Agnes in die Flucht getrieben haben? Sollte das nach all diesen Tagen die wahrscheinlichste Erklärung sein?
Nein, dachte Maria.
Agnes versteckte sich nicht freiwillig, ganz gleich ob sie bedroht worden war oder ob sie ein »Time-out« brauchte.
Das Tagebuch, dachte Maria. Wir müssen unbedingt das Tagebuch finden.
Annas Tipp, wo Agnes vielleicht ihre geheimen Aufzeichnungen versteckt haben könnte, hatte zu keinem Durchbruch geführt. Wenn das Tagebuch jemals im Klavier gelegen hatte, dann war ihnen jemand zuvorgekommen. Als Maria und Ray-Ray nach Hause zu Fredrik kamen und den Deckel des Klaviers abhoben, war darunter nichts.
Teufel auch.
Jetzt kannten sie immer noch nicht den Namen von Agnes’ Liebhaber und hatten auch nicht genügend Beweise, um Fredrik festzunehmen.
Maria massierte ihre Stirn. Anna hatte erzählt, dass Agnes Sorge gehabt habe, ihren Job zu verlieren, wenn herauskäme, mit wem sie eine Beziehung hatte. Diese Information machte Maria verrückt.
Welche Tabus musste man brechen, um das zu fürchten?
Es bollerte an die Tür des Wohnwagens.
Maria lachte leise.
Das war wahrscheinlich Ray-Ray. Seine Fähigkeit zum Multitasking war mehr als unterentwickelt, ein echter Witz. Sogar die Tür zum Wohnwagen aufzuschließen, während er gleichzeitig eine Tüte mit Essen in der Hand hielt, war offensichtlich zu viel verlangt.
Doch es war nicht Ray-Ray, der da klopfte, das erkannte Maria, als sie durch den Spion der Tür blickte.
Es war Paul.
Mit einem Buch in der Hand.
Maria wich von der Tür zurück.
Er klopfte wieder. Das war kein aufforderndes Klopfen, sondern ruhig und kontrolliert. Paul schaffte es immer, diesen Eindruck zu erwecken.
Maria dachte schnell nach. Ray-Ray würde jede Minute zurück sein, und sie würde also nicht länger als einen kurzen Moment mit Paul allein sein. Und er hatte Ray-Ray bereits mehrere Male getroffen und sich auf irgendeine Weise zurechtgelegt, dass der keine Bedrohung darstellte.
»Für so einen würdest du dich nicht interessieren«, hatte er gesagt, »der ist viel zu schwerfällig.«
Damals hatte sie sich aus ganzem Herzen gewünscht, Lust zu haben, mit Ray-Ray zu schlafen, denn das hätte sie jeden Tag der Woche haben können. Aber sie wollte es nicht.
»Guten Abend«, sagte Paul, als sie die Tür öffnete.
»Hallo«, erwiderte Maria.
»Schickes Büro habt ihr, darf ich reinkommen?«
Ohne die Antwort abzuwarten, betrat er den Wohnwagen. In der Türöffnung war es eng. Als er an ihr vorbeiging, berührte er ihren Arm. Sie entzog sich.
»Ich arbeite. Du kannst anrufen, wenn etwas ist, hier kannst du nicht bleiben.«
Ihre Stimme war fest, das hier war ihr Territorium. Das Letzte, das ihr noch blieb.
Paul gab einen Pfiff von sich.
»Zwei Zimmer und alles«, sagte er. »Ganz nett. Aber vielleicht zu wenig Bücherregale? Nicht ganz einfach, alle Bücher hier unterzubringen.«
Er hielt ihr das Buch hin, das er bei sich hatte.
Die Auswanderer.
Plötzlich schien die Luft im Wohnwagen knapp zu werden.
»Wem gehört das?«, fragte sie.
»Dir«, erwiderte er. »Oder vielleicht deinem Liebhaber?«
Paul hob das Buch hoch, und es gelang ihr gerade noch, den Kopf wegzuziehen, ehe es wie ein Beil durch die Luft fuhr und sie stattdessen auf der Schulter traf. Ehe sie zurückweichen konnte, hatte er ihre Nackenhaare mit eisernem Griff gepackt. Maria keuchte vor Schmerz, als er sie an den Haaren hochzog und ihr Gesicht so dicht vor seins hielt, dass sie den schwachen Dunst von Kaffee in seinem Atem roch.
»Glaubst du, ich bin total bescheuert?«, brüllte er.
Maria wand sich, um freizukommen. Einer von ihnen – sie wusste nicht, ob sie selbst oder Paul – donnerte gegen einen der Schränke in der Pantry des Wohnwagens. Sein Griff wurde noch fester, und in ihrem Nacken flammte ein brennender Schmerz auf.
»Paul, lass mich los!«
Ihre Stimme zitterte vor Angst, aber auch vor Wut.
Wie konnte er es wagen?
Wie konnte er sich unterstehen, an ihrem Arbeitsplatz aufzutauchen und dort über sie herzufallen?
»So verdammt billig«, zischte Paul ihr ins Ohr. »Und ungeschickt. Wie zum Teufel kannst du so verdammt dämlich sein, dass du bei deinem Liebhaber reinstolzierst und Geschenke, die du von mir bekommen hast, auf seinem Schreibtisch abwirfst?«
Er befand sich jetzt in einer Art Delirium, war nicht mehr zu erreichen. Natürlich war es nicht dasselbe Buch, das sie von Paul bekommen hatte, er hatte eine ganz andere Ausgabe gekauft, aber das spielte keine Rolle, und es war sinnlos, ihn darauf hinzuweisen.
»Hast wohl gedacht, ich würde nichts erfahren? Was? Natürlich muss ich dich kontrollieren, du verstehst ja keine einfachen Warnungen mehr.«
Paul knallte ihren Kopf an die Wand. Einmal, zweimal.
Etwas fiel zu Boden und ging kaputt.
Da geschah etwas in Maria. Eine Urkraft baute sich in ihr auf und drohte sie in Atome zu zersprengen.
»Hör auf!«
Der Schrei, der sich ihr entrang, überraschte sie beide.
Sie schrie noch einmal.
»Hör auf, verdammt noch mal! Hör einfach auf!«
Pauls Finger ließen ihre Haare los, oder vielleicht riss sie sich auch selbst los. Schnell wich Maria von ihm zurück. Das Buch lag auf dem Fußboden, es war schmutzig geworden, weil sie darauf getreten waren.
Maria atmete angestrengt, als sie ihn ansah.
»Ray-Ray wird jeden Moment hier sein, also hau ab! Verstehst du, was ich sage, Paul? Hau ab, zum Teufel!«
Doch Paul bewegte sich nicht. Es war, als wäre er am Boden des Wohnwagens festgewachsen. Weil sie ihn anschrie, weil sie fluchte.
Maria wandte den Blick nicht von ihm.
»Zum letzten Mal«, sagte sie. »Es gibt keine weiteren Warnungen. Geh.«
Pauls Schultern sanken herab.
»Und was machst du, wenn ich nicht gehe, Maria?«, sagte er mit einer Stimme, die sowohl amüsiert als auch aggressiv klang. »Hast du darauf eine Antwort?«
Sie schluckte.
»Geh«, sagte sie noch einmal.
Er beugte sich herab und nahm das Buch auf. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, was passiert war. Die Angst packte sie. Er hatte doch wohl August nichts angetan?
»Du hast recht«, sagte Paul. »Wir reden weiter, wenn du mit der Arbeit fertig bist. Ruf an, wenn du nach Hause willst, dann hole ich dich ab.«
Es war etwas in der Art, wie er sich ausdrückte, dieser lässige Tonfall, der sie mit beiden Füßen auf dem Boden landen ließ. In dem Moment dachte sie nicht so, doch im Nachhinein würde sie es so nennen. Dass es sich angefühlt hatte, als würde sie auf dem Boden der Tatsachen landen.
Er wusste, dass er alles mit ihr machen konnte.
Und er wusste, dass der Streit, die Demütigungen und Beschuldigungen, die Gewalt nichts daran änderten.
In ihm war kein Funken Unsicherheit.
Er wusste, dass sie festsaß.
Ruf an, wenn du nach Hause willst, dann hole ich dich ab.
Willst?, dachte Maria. Es ist lange her, dass es in unserer Beziehung darum ging, was ich will.
Kühle Luft fuhr in den Wohnwagen, als Paul die Tür öffnete und rausging. Er machte sie nicht hinter sich zu.
Sie hörte, dass er draußen jemanden begrüßte.
»Ja, hallo, lange nicht gesehen. Ich hoffe, du hast gute Sachen da in der Tüte, Maria ist verdammt hungrig.«
Natürlich. Ray-Ray.
Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und versuchte, sie zu ordnen. Sie brauchte keinen Spiegel, sie wusste, wie sie aussah, wenn Paul über sie hergefallen war.
Als Ray-Ray den Wohnwagen betrat, hockte sie auf dem Boden und sammelte die Scherben von der zerbrochenen Kaffeetasse auf.
»Hier ist es ja hoch hergegangen«, sagte er.
Es klang nicht so, als würde er scherzen.
Er stellte die Tüte mit dem Essen auf den Tisch und hob die letzten Scherben auf.
»Bist du okay?«
Der Kloß im Hals war noch nie so groß gewesen und das Weinen noch nie so nah. Nicht bei der Arbeit, nicht zusammen mit Ray-Ray.
»Ich bin okay.«
Sie lächelte angespannt, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen.
»Aber, Maria …«
Es war so ungewohnt, ihn mit einer derart sanften Stimme sprechen zu hören. Seine Hand war warm und trocken, als er ihr über die Wange strich. Für einen ganz kurzen Moment gab sie der Erschöpfung nach und ließ den Kopf darin ruhen.
Ray-Ray war so viel, was Paul nicht war.
Überschwänglich und impulsiv, aber immer zugewandt, immer freundlich. Und solidarisch.
Sein Handy klingelte.
»Meine Ex«, erklärte er und drückte den Anruf weg.
Maria erinnerte sich, wie unzuverlässig er jeder Frau gegenüber gewesen war, mit der er in den Jahren, in denen sie sich nun schon kannten, zusammengelebt hatte. Doch unzuverlässig war etwas anderes als gewalttätig.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Ray-Ray.
Maria stand auf. Der Rücken tat weh, und ihr Kopf schmerzte.
»Ich will essen«, sagte sie.
»Das habe ich nicht gemeint. Ich habe euch gehört.«
Sie holte zwei Pappteller und zwei Plastikgläser heraus. Der Stauraum des Wohnwagens entsprach mehr einem Puppenschrank als einem Polizeirevier. An Spülen war nicht zu denken. Die Porzellantasse, die kaputt gegangen war, hatte zu den wenigen Exemplaren ihrer Art gehört.
»Wir müssen über das reden, was passiert ist, ehe ich kam«, beharrte Ray-Ray.
»Es gibt nichts zu reden«, entgegnete Maria.
»Ich habe Rufe und Schreie gehört«, sagte er. »Erst habe ich nicht kapiert, dass es aus dem Wohnwagen kam, aber dann …«
»Du hast nichts gehört und nichts gesehen«, unterbrach ihn Maria, »also lass es gut sein, Ray-Ray. Lass es einfach gut sein.«
Er sah sie schweigend an.
»Komm, wir essen«, sagte sie.
Da wurde die Tür des Wohnwagens ein weiteres Mal aufgerissen.
Maria schrie auf, und Ray-Ray griff nach der einzigen Waffe in Reichweite: einem kleinen Obstmesser.
»Ruhig!«, brüllte er.
In der Tür stand eine Kollegin und starrte sie an.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte sie.
Maria atmete aus.
Ray-Ray warf das Messer weg.
»Nichts, wir haben nur vorhin etwas erlebt, das … scheißegal, komm rein.«
Die Kollegin wirkte, gelinde gesagt, skeptisch. Sie betrat den Wohnwagen nicht weiter, als unbedingt notwendig war, um die Tür hinter sich zumachen zu können.
Maria versuchte, sich an den Namen der Kollegin zu erinnern. Sie war eine der vielen Neuen, die herbeigerufen worden waren, um an der Ermittlung mitzuarbeiten.
Jonna. Sie hieß Jonna.
Oder Ella?
»Roland wollte, dass ich euch das hier bringe«, erklärte sie und reichte Maria ein Kuvert. »Offensichtlich habt ihr hier noch nicht Zugang zu allen Systemen.«
»Was ist das?«, fragte Maria und befühlte das Kuvert.
»Ausdrucke der Mails, die Agnes von ihrer Jobadresse geschickt hat. Nichts Aufregendes.«
»Danke«, sagte Maria, »und entschuldige, dass wir uns so … seltsam benommen haben.«
Was für eine miese Entschuldigung.
Aber die einzige, die sie aufbringen konnte.
»Ich war sowieso in der Nähe«, sagte die Kollegin. »Schönen Abend noch.«
Sie verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.
»Das war verdammt knapp«, sagte Ray-Ray. »Ich hätte genauso gut nach meiner …«
Doch Maria unterbrach ihn.
»Jetzt konzentrieren wir uns auf unsere Arbeit«, sagte sie. »Bitte.«
Ray-Ray, der aschgrau im Gesicht war, strich sich über das Kinn.
»Was hat er hier gemacht, Maria? Was hat dein Typ an deinem Arbeitsplatz zu suchen?«
Sie klappte den Laptop auf und richtete, ohne wirklich etwas zu sehen, den Blick auf den Bildschirm. Es gab keine Antwort auf seine Fragen, sie konnte das, was passiert war, nicht kommentieren.
»Ich kriege das nicht zusammen«, sagte sie. »Agnes’ Liebhaber. Alle meine Intuition und meine Vernunft sagen mir, dass …«
Schon da wurde sie von Ray-Ray unterbrochen.
»Wir können gleich über Agnes reden«, sagte er »und essen will ich auch. Aber jetzt möchte ich zwei Dinge sagen. Zum Ersten: Wenn du Paul nicht anzeigst, dann tue ich es. Und zum Zweiten: Du kannst heute Nacht in meinem Gästezimmer schlafen. Noch Fragen?«
Als sie nicht antwortete, wurde er unsicher.
»Und jetzt bin ich nur zu einem weiteren Mann geworden, der versucht, dich zu kontrollieren«, sagte er leise. »Sorry.«
Ihr Privatleben vermischte sich jetzt so gründlich mit ihrem Arbeitsleben, dass sie den Druck auf ihrer Brust spürte. Die Arbeit war es, die sie aufrecht hielt, die ihr Kraft gab. Doch das setzte voraus, dass Paul sich fernhielt.
»Wir haben einen Auftrag«, antwortete Maria. »Wir müssen Agnes finden.«
Sie berührte leicht das Kuvert, das die Kollegin gebracht hatte.
»Du musst auf dich aufpassen«, sagte Ray-Ray in angestrengtem Tonfall. »Verdammt, du bist schließlich Polizistin. Du weißt, wie es für Frauen in deiner Situation ausgehen kann.«
Maria schloss die Augen.
Sie wusste es.
Er musste nichts sagen.
Ich ende so wie Agnes, dachte Maria. Als eine, die niemand vermisst, ehe es zu spät ist.
Laut sagte sie etwas anderes.
»Ich muss mit dem hier weiterarbeiten können. Die Arbeit ist das Einzige, das … das mich am Leben hält. Ich will Agnes finden. Dann können wir über Paul reden, okay?«
Ray-Rays Antwort kam viel zu schnell.
»Nicht okay, Maria. Nicht okay. Das hier geht schon viel zu lange.«
»Ray-Ray, ich muss es auf meine Art bewältigen können«, sagte sie. »Mit dem, was du jetzt tust, kommst du nicht weiter. Ich will, dass wir uns jetzt auf diesen Fall konzentrieren. Ich will, dass wir Agnes finden.«
Ray-Rays Blick war finster und traurig.
»Du kannst Agnes nicht als Schild vor dich halten«, entgegnete er. »Nicht mir gegenüber.«
»Das tue ich auch nicht«, beteuerte Maria. »Ich tue nur, was ich für das Beste halte.«
Ein lächerlicher Satz.
Ich tue nur, was ich für das Beste halte.
Für wen denn das Beste?
Für sie selbst jedenfalls nicht, soviel stand fest.
Maria starrte auf den leuchtenden Bildschirm des Computers.
»Da ist irgendetwas mit dem Haus auf dem Kärleksvägen«, sagte sie leise. »Wir übersehen da irgendwas.«
Ray-Ray warf ihr einen langen Blick zu.
»Wir übersehen gar nichts«, entgegnete er. »Agnes und ihr Liebhaber waren dort. Sie hatten Bettzeug und Kondome dabei.«
»Genau«, stimmte Maria zu. »Aber was hat Fredrik da gemacht, nachdem Agnes verschwunden war? Wenn er unser Täter ist, warum ist er dann zu dem Haus auf dem Kärleksvägen gefahren und hat dagesessen und gewartet? Diese Frage stelle ich mir wieder und wieder.«
Ray-Ray zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wir haben bereits darüber nachgedacht. Warum ist es wichtig?«
»Weil ich nicht glaube, dass Fredrik etwas mit dem Verschwinden von Agnes zu tun hat«, erklärte Maria. »Und ich glaube, sein Interesse für das Haus beweist das.«
Dieses Haus. Das Eishaus. Es zog schlimme Ereignisse magnetisch an.
Ihr Handy klingelte. Roland rief an.
Sie ging ran.
»Die von der Überwachung haben gerade angerufen«, sagte er.
»Was gibt es?«, fragte Maria, und noch ehe er weitersprach, wusste sie schon, dass die Karten ein weiteres Mal neu gemischt worden waren.
»Fredrik«, sagte Roland. »Wir wissen nicht mehr, wo er ist.«