Ich fürchte, dass wir etwas Wichtiges übersehen.
Hatte sie jetzt zu viel gesagt? Ganz offenkundig war August verwirrt, das konnte Maria erkennen, und es war ja auch kein Wunder. Als sie »wir« sagte, klang es so, als würde sie ihn in die Arbeit der Polizei einschließen, was nicht ihre Absicht gewesen war.
Also versuchte sie, ihr Anliegen konkreter zu formulieren.
Das alles hätte sie natürlich auch am Telefon verhandeln können, zog aber ein Treffen vor. So konnte sie sicherstellen, dass es ihm gut ging und Paul seine Wut nicht an ihm ausgelassen hatte. Und sie hatte einen Grund, ihn noch einmal allein zu treffen.
Ray-Ray hatte nichts gesagt, als sie ging. Vielleicht hatte er es nicht mal gemerkt, denn er hatte sich zusammen mit zwei Leuten von der Überwachung in die Suche nach Fredrik Eriksson gestürzt. Maria hatte sich entschuldigt und gesagt, sie müsse noch ein paar lose Fäden verfolgen. Was ja fast die Wahrheit war.
»Du hast ja zwei Adressen, an denen du dich aufhältst«, sagte sie zu August. »Hier und in Kungshamn, wo dein Laden ist. Ist sonst noch etwas passiert – dort oder hier –, was dir aufgefallen ist?«
August dachte nach. Die Muffintüte schwang langsam vor und zurück wie das Pendel einer alten Uhr. Wie viele Männer kannte sie eigentlich, die so in sich selbst ruhten, dass sie die Tür mit einer Tüte Backwerk in der Hand öffneten?
Keinen.
Keinen einzigen.
»An bestimmte Ereignisse, die mit dem Laden verbunden wären, kann ich mich nicht erinnern«, sagte August gedehnt. »Und soweit ich weiß, hat dieses Haus nichts mit dem Laden zu tun, also es gibt sozusagen nichts, was das eine mit dem anderen verbindet, zumindest auf Seiten der Besitzer. Doch heute hat mir einer meiner Kunden etwas erzählt, was vielleicht bedenkenswert wäre.«
Maria hörte aufmerksam zu. August besaß die Fähigkeit, anderen Menschen in die Augen zu sehen, ohne den Faden zu verlieren und dennoch unangestrengt zu wirken. Eine gute Eigenschaft.
»Es geht um einen älteren Kunden«, sagte er. »Er wohnt im Altersheim Hallonet und behauptet, in der Nacht, in der Agnes Eriksson verschwunden ist, etwas Seltsames gesehen zu haben. Offensichtlich war er auch schon in Kontakt mit euch bei der Polizei, hat aber das Gefühl, ihr hättet ihm nicht zugehört.«
Was er nun zu sagen hatte, war ihm offenkundig unangenehm, doch Maria nickte ihm aufmunternd zu, um zu signalisieren, dass sie mehr hören wollte.
»Zweifellos rufen eine Menge Verrückte bei euch an, wenn jemand vermisst wird, und wollen Hinweise geben«, sagte August. »Ihr bei der Polizei wisst natürlich, wie ihr das einzuordnen habt. Ich erwähne das hier nur, weil mein Kunde etwas gesehen hat, was mit meinem Laden zu tun hatte, und darum ging es dir ja eben.«
Maria zog die Augenbrauen hoch.
»Was hat er denn gesehen?«
»Er sagt, er habe mitten in der Nacht auf seinem Balkon gestanden und Luft geschnappt«, erzählte August, »und er behauptet, gesehen zu haben, wie ein Auto vor meinem Laden hielt. Dann sei ein Mann aus dem Auto ausgestiegen und habe etwas aus dem Kofferraum geholt. Etwas Schweres, was er dann direkt in den Laden getragen habe.«
Maria wurde nachdenklich.
Das hier klang wie eine ihr bekannte Zeugenaussage, wenn auch die Details verändert waren.
»Hat er es genauso gesagt, wie du jetzt?«, fragte sie nach. »Dass der Wagen vor deinem Secondhandladen gehalten hätte?«
»Ja, aber in dieser Nacht damals gehörte der Laden noch nicht mir, sondern immer noch dem Bestatter. Ich bin erst sieben Tage später der Besitzer geworden.«
»Okay«, sagte Maria. »Hat er noch was gesagt? Ich meine, dein Kunde?«
»Nur dass das Auto silbermetallic gewesen sei. Ein Volvo.«
Silbermetallic.
Jetzt wurde Maria klar, warum sie darauf reagiert hatte, als sie das Überwachungsfoto von Fredrik gesehen hatte, auf dem er in einem silberfarbenen Volvo auf Hovenäset saß.
»Und wie heißt dieser Kunde?«
August zögerte.
»Er heißt Jochen Berg«, sagte er dann.
Natürlich, dachte Maria.
Jochen hatte dasselbe Auto im Gespräch mit ihr erwähnt, doch ansonsten stimmten die beiden Aussagen nicht sehr überein.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Doch, Jochen hat sich bei uns gemeldet. Aber da hat er eine andere Version erzählt. Er hat gesagt, das Auto habe vor dem Restaurant am anderen Ende des Hafens gestanden. Hast du das Gefühl, dass er möglicherweise etwas tüdelig ist?«
Sie selbst hatte nicht den Eindruck gehabt, aber warum hatte er dann so widersprüchliche Aussagen gemacht?
Und dann war da noch die Sache mit dem Auto.
Es irritierte sie, dass er behauptete, ausgerechnet ein silbermetallicfarbener Volvo habe mit der Sache zu tun.
»Das klingt ohne Frage so, als sei er verwirrt«, meinte August. »Ich meine, wenn er uns unterschiedliche Geschichten erzählt.«
Maria legte den Kopf schief.
»Da ist noch etwas, was du nicht erzählst«, sagte sie.
August sah traurig aus.
»Du weißt wahrscheinlich, wer Jochen Bergs Tochter war, oder?«, fragte er.
Maria sah ihn verständnislos an.
»Sie hieß Lydia«, erklärte August. »Und sie wurde in diesem Haus zerstückelt gefunden.«
Maria holte tief Luft.
Der Zerstückelungsmord von Hovenäset drängelte sich wieder in die Ermittlung.
Aber der hatte doch nichts mit dem hier zu tun.
August wurde ernst, und mehr noch: Er sah besorgt aus. Offensichtlich war er mit seiner Erzählung noch nicht am Ende.
»Ich glaube, dass Jochen etwas Dummes getan haben könnte«, begann er.
Maria stand schweigend da und hörte zu, während August ihr erzählte, was er von Jochen gehört zu haben meinte. Wenn er sprach, bildeten sich zwei kleine Falten zwischen den Augenbrauen, als ob sich die Grübchen von dort hochgearbeitet hätten. Die Fältchen fand sie ganz entzückend.
»Was meinst du?«, fragte er, als sie eine Weile geschwiegen hatte.
Maria schluckte.
Ja, was meinte sie?
»Es kommt sehr selten vor, dass Mörder ihre Taten auf die Weise gestehen, wie du und ich Jochens Geschichte jetzt auffassen«, erklärte sie. »Es ist also die Frage, ob wir ihn vielleicht falsch verstehen. Steht ihr einander nahe, du und Jochen?«
»Eigentlich nicht«, sagte August, der zu bereuen schien, überhaupt etwas gesagt zu haben.
»Und mehr hat er nicht erzählt?«, fragte Maria. »Keine Details der Rache, keine Informationen, wie er vorgegangen ist?«
»Nein, nein, nichts dergleichen.«
Eine neue Stille entstand. Auf Jochens Satz vom »Auge um Auge« gab sie nicht viel.
»Darf ich dich zu etwas einladen?«, fragte August. »Kaffee, Muffins?«
Maria lächelte und sah, wie er dahinschmolz.
»Nein danke«, sagte sie. »Aber gern ein andermal.«
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, wollte zeigen, dass sie nicht unbegrenzt Zeit hatte. Vielleicht war diese Geste aber auch mehr für sie selbst als für August. Sie durfte nicht vergessen, dass sie einen Job zu erledigen hatte, obwohl sie viel lieber, als sie sich selbst eingestehen mochte, mit August Kaffee trinken wollte.
Und vielleicht ahnte er, wie sie dachte und fühlte, denn jetzt legte er den Kopf schief.
»Erzähl noch mal, warum du hier bist«, bat er.
Seit Maria gekommen war, standen sie in der Küche, und erst jetzt sah sie, was für einen gigantischen Schatten sein langer Körper auf die Wand warf. Wie ein Riese.
Sie fuhr sich über den Nacken, suchte nach Worten, die am besten beschrieben, was sie nach Hovenäset geführt hatte. Irgendetwas unabhängig vom Privaten.
»Dein Haus hat viel Aufmerksamkeit bekommen, seit Agnes verschwunden ist«, sagte sie. »Ich möchte herausfinden, warum.«
August sah erstaunt aus.
»Ich dachte, das Haus sei interessant, weil es von Agnes Eriksson und jemand anderem als Liebesnest benutzt worden ist.«
Er verstummte.
»Du verstehst sicher, dass ich mit dir nicht über eine laufende Ermittlung sprechen kann«, erklärte Maria. »Aber nehmen wir mal an, du hast recht. Nehmen wir mal an, dein Haus hätte als Treffpunkt eines Liebespaares gedient. Wie erklärt man dann, dass hier, nachdem einer von diesem Liebespaar verschwunden ist, wiederholt eingebrochen wird?«
»Jetzt sag nicht, ihr glaubt, dass Agnes sich in diesem Haus befindet«, sagte August mit bestürzter Miene.
Maria schüttelte den Kopf.
»Nein, nein«, versicherte sie, »das glauben wir nicht.«
Doch August ließ sich nicht abwimmeln.
»Als ihr das Haus durchsucht habt, da hattet ihr Hunde dabei«, sagte er, »waren das Leichenspürhunde?«
»Auch«, gab Maria zu, »aber die haben nirgends angeschlagen.«
Von draußen war ein Kratzen oder vielleicht auch Quietschen zu hören.
»Das sind die Gespenster«, flüsterte August und zwinkerte ihr zu. »Um diese Zeit kommen sie immer.«
Doch dann war das Geräusch wieder zu hören, und dazu ein leichter Schlag.
»Seltsam«, sagte August. »Das klingt, als würde die Kellertür offen stehen und schlagen.«
Maria öffnete die Eingangstür und sah hinaus, August schaute über ihre Schulter. Die Kellertür war zu. Schwere Regentropfen schlugen auf den Asphalt der Straße.
»Was für ein Wetter«, sagte August.
»Westküstenwetter«, erwiderte Maria. »Sehnst du dich nach Hause?«
»Nein.«
Sie fragte sich, warum. Wie konnte jemand wie er auf Hovenäset landen? Wer zog aus dem Gewimmel Stockholms an einen Ort, der so klein war, dass die allermeisten im Land noch nie davon gehört hatten?
Plötzlich war ein gedämpftes Lärmen aus dem Keller zu hören.
Maria reagierte blitzschnell.
»Warte hier«, flüsterte sie, lief lautlos die Treppe herunter und stellte sich so neben die Kellertür, dass die Person, die sie öffnete, nicht sehen würde, dass sie entdeckt worden war.
Ihre Hand ruhte auf der Waffe, die sie noch nicht gezogen hatte. Dann ging alles so schnell, dass sie keinen ganzen Gedanken fassen konnte. Die Kellertür wurde von innen geöffnet und glitt langsam auf. Maria machte keinen Mucks, ehe sie nicht ganz offen war.
Da war es für die Person im Keller zu spät zu entkommen.
Zu spät zu fliehen.
Fredrik Eriksson kam aus der Tür. Als er Maria und August erblickte, blieb er stehen.
Er hielt ihnen etwas hin.
Ein Handy.
Seine Hand zitterte, und sein Gesicht war bleich.
»Ich habe nach Isak gesucht«, sagte er, »und nach Agnes. Ich glaube, dass sie hier waren. Alle beide.«