Die Zeit stand still. Cecilia saß am Küchentisch, die Hände fest um eine Teetasse gelegt. Der Tee war bereits kalt geworden, doch das merkte sie kaum.
»Mama?«
Karls Stimme erreichte sie aus einem anderen Universum, rief sie zurück in die Wirklichkeit.
»Alles in Ordnung?«
Cecilia stand auf und schüttete den Tee in den Ausguss. Warum hatte sie damals nur zugestimmt, ein weißes Waschbecken zu kaufen? Das sah niemals richtig sauber aus, und das störte sie. Cecilia drehte den Hahn auf, um die Reste des Tees wegzuspülen.
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
Sie wandte sich ihrem Sohn zu.
Dem Astronauten.
Ihrem Astronauten.
»Geht so. Hast du die Zeitung gesehen?«
Sie nickte.
Die Schlagzeilen waren überall zu lesen. Man konnte sie nicht falsch verstehen. Ein naher Angehöriger von Agnes war wegen Freiheitsberaubung festgenommen worden. Cecilia hoffte, dass sie Isak lebenslänglich einsacken würden. Er war zu gefährlich, um frei in der Gesellschaft rumlaufen zu dürfen.
Karl betrachtete sie mit besorgtem Blick. Er verriet, was er dachte, und das freute sie. Dann wurde alles so viel leichter. Manchmal aber auch schwerer.
So wie jetzt.
Bevor Cecilia Mutter geworden war, hatte sie sich nicht vorstellen können, wie weit man als Eltern für seine Kinder ging und was man als Mutter zu tun bereit war, um seine Schäfchen zu verteidigen.
Jetzt wusste sie das besser.
Man tat einfach alles.
Alles.
»Ich sollte mal zur Schule gehen«, sagte der Astronaut. »Aber … wo ist Papa?«
»Bei der Arbeit. Wo sollte er sonst sein?«
Karl zuckte mit den Schultern.
Er stand immer noch in der Küche, offensichtlich ratlos. Seine Haare waren verwuschelt und sein T-Shirt schmutzig. Das war ungewöhnlich. Schon als kleines Kind hatte Karl schmutzige Kleider gehasst. Und er war immer gut gekämmt.
»Ist was passiert?«, fragte er. »Oder, ich meine, äh … du weißt schon.«
Es war offenkundig, dass Cecilias Schweigen ihm Stress bereitete.
Und Ja, sie wusste schon. Vielleicht viel mehr, als sie sollte, aber das war schon in Ordnung.
Wir haben ein blutverschmiertes Messer in deiner Fahrradtasche gefunden, dachte Cecilia. Das ist passiert.
»Musst du heute nicht auch arbeiten?«
Das war kein Vorwurf, sondern nur eine stille Frage.
Cecilia schüttelte den Kopf.
»Heute nicht«, sagte sie.
Auch nicht, hätte sie hinzufügen können.
Der dritte Tag in Reihe, an dem sie blaumachte.
Sie betrachtete es als Prüfung. Es war noch nie wichtiger gewesen, das Richtige zu tun, das Schicksal in eine Richtung zu lenken, mit der sie leben konnte. Sie und Erling auch.
Erling, der so sorglos war.
Erling, der glaubte, man könnte alles mit einem breiten Lachen und einem gut ausgerüsteten Werkzeugkasten lösen. Es gab keine Lebenskrise, aus der er sich nicht versuchte rauszuwerkeln.
Aber diesmal nicht, dachte Cecilia. Dieses Mal musste er etwas anderes tun, um das Leben in Ordnung zu bringen.
Denn Ordnung musste hergestellt werden, darüber waren sie und Erling sich einig.
Die Familie kam zuerst.
Alles andere war sekundär.
Karl kratzte sich die Wange. Cecilia nährte die ebenso schwache wie peinliche Hoffnung, dass diese schlechte Angewohnheit (oder eine andere, aber er hatte ja so wenige) seine Laufbahn behindern würde. Sie sah vor sich, wie Karl einen Test nach dem anderen bestand und seinem Traum, beim Raumfahrtprogramm der NASA angenommen zu werden, immer näher kam. Am Ende würden nur noch die Persönlichkeitstests und die Gespräche ausstehen. Und dann würde er da sitzen und wissen, was auf dem Spiel stand, und so nervös werden, dass er anfing sich im Gesicht zu kratzen.
Und dann würden sie ihn nicht nehmen.
Ebenso wenig, wie sie ihn nehmen würden, wenn er wegen Beihilfe zum Mord oder weil er einen Verbrecher gedeckt hatte verurteilt würde.
Sie hatte den Gedanken kaum gedacht, als der Fußboden unter ihren Füßen zu schwanken begann. Der Schwindel, der verdammte Schwindel.
Natürlich hatte Karl niemanden ermordet, das wusste ja jeder, der ihn kannte. Aber wie würde eine Reihe einfältiger Juristen argumentieren, wenn sie zu der Schuldfrage Stellung nehmen müssten?
Deshalb hatte Cecilia sich um das Messer gekümmert.
Hatte es dahin getan, wo es eigentlich liegen sollte, und war dann wieder nach Hause gegangen. Noch nie war sie so froh gewesen, dass alle Häuser in der Umgebung leer standen.
Es zerriss sie fast, wenn sie daran dachte, wie sie Karl betrogen hatte.
Warum hatte sie erlaubt, dass er Tag für Tag mit Isak unterwegs war? Warum hatte sie akzeptiert, dass er immer müder und müder wurde, anstatt seine Eskapaden zu unterbinden?
Karl hörte auf, sich die Wange zu kratzen, die jetzt schon rot war.
»Hast du Hunger?«, fragte Cecilia.
»Nein.«
»Du musst etwas essen.«
»Ich kann später essen. Fürs Frühstück ist es zu spät.«
Celia wollte protestieren.
Es war für überhaupt nichts zu spät. Das sollte er sich nur klarmachen.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die waren jetzt schon lang, sie sollte mal wieder zum Friseur gehen. Als sie jünger war, hatte sie oft zu hören bekommen, sie sei süß. Inzwischen war ihr das egal. Süß oder hässlich, nichts spielte mehr eine Rolle.
»Du weißt, dass du dich mir und Papa anvertrauen kannst«, sagte sie und fügte dann mit flehender Stimme hinzu: »Das weißt du doch, Karl, oder?«
Ein hartes Klopfen an der Tür unterbrach sie, ehe er antworten konnte.
Karl ging schnell Richtung Diele.
»Ich mache auf«, sagte Cecilia barsch und eilte an ihrem Sohn vorbei. »Geh in dein Zimmer.«
Karl riss die Augen auf.
Er war es nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach.
Das Klopfen an der Tür ging in ein regelrechtes Trommeln über. Cecilia hatte schon ewig auf Erling eingeredet, die Türklingel zu reparieren, doch der hatte keine Hand gerührt.
Sie schaute durch den Spion.
»Wer ist es?«, fragte Karl.
Isak.
Wie war das denn möglich?
Hatten sie ihn bereits freigelassen?
Cecilia hätte fast losgeschrien.
»Ich habe doch gesagt, du sollst in dein Zimmer gehen«, zischte sie Karl zu. »Jetzt!«
Aber Karl tat nicht, was sie sagte. Er widersetzte sich, und das brachte sie aus dem Gleichgewicht. Noch schlimmer, es machte sie wütend. Kapierte der überhaupt nicht, was seine Rücksichtslosigkeit sie und Erling gekostet hatte?
Isak donnerte weiterhin an die Tür. Und schon war seine Stimme zu hören:
»Karl, mach auf! Ich weiß, dass du da bist.«
Cecilia drehte sich verzweifelt zu Karl um.
»Bitte mach, was ich sage.«
Karl sah sie an, als wäre sie verrückt. Er sah schockiert aus.
»Lass ihn doch rein! Was machst du denn?«
Seine Miene drückte Verwirrung und Sorge aus. Er schien wirklich nicht zu verstehen, was sie da machte.
Isak rief wieder.
Es klang, als würde er weinen, und plötzlich tauchte eine Erinnerung an die Zeit auf, als die beiden Jungs klein waren. Isak und Karl hatten draußen gespielt, als Isak plötzlich hinfiel und sich den Kopf am Rand des Sandkastens, der damals noch auf dem Grundstück stand, anschlug. Er hatte verzweifelt geweint, und sie hatte ihn so gut sie konnte getröstet. Jetzt, mehr als zehn Jahre später, erinnerte sie sich, dass sie damals in großer Sorge war, denn Isak war kein Kind, das ohne Grund heulte. Im Gegenteil, er weinte sehr selten. Wenn er also mal traurig war, dann verspürte Cecilia sofort Panik, wie man sie hat, wenn man weiß, dass etwas schrecklich schiefgegangen ist.
Karl stürzte Richtung Tür. Cecilia drängte sich dazwischen und verdeckte die Klinke mit ihrem Körper.
»Du bist doch total verrückt«, sagte Karl und schubste sie beiseite. »Verstehst du nicht, wie es ihm geht? Die Polizei hat Fredrik festgenommen.«
Cecilia gefror zu Eis.
Was sagte er da?
»Fredrik? Sie haben Fredrik festgenommen? Aber sie sollten …«
Sie verlor den Faden, war nicht mehr fokussiert.
Mehr war nicht nötig, damit Karl die Tür aufschließen und öffnen konnte.
Im nächsten Moment stand Isak in ihrer Diele. Seine Wangen waren nass von Tränen und die Augen rot.
Die Panik pulsierte durch Cecilias Körper.
Wie hatten sie Isak freilassen können?
Karl legt eine Hand auf Isaks Arm.
»Hast du mit jemandem bei der Polizei gesprochen?«, fragte er.
»Sie sagen, dass Papa wegen Freiheitsberaubung verdächtig ist.«
Das war dieselbe Sache, die in der Zeitung stand.
Erling, dachte Cecilia. Ich muss Erling erreichen.
Aber am wichtigsten von allem war, Isak aus dem Haus zu bekommen. Umgehend.
»Ich muss jetzt weiter«, sagt er. »Kommst du mit, Karl?«
Er wischte sich die Tränen mit der ganzen Hand von den Wangen.
»Nein«, sagte Cecilia mit gellender Stimme. »Karl bleibt hier.«
Isak achtete nicht auf sie.
»Bitte«, sagte er und sah Karl flehend an. »Jemand muss Papa helfen.«
»Karl hat mehr als genug für dich getan«, unterbrach ihn Cecilia. »Du musst jetzt gehen, Isak. Sofort.«
Isak warf ihr einen vernichtenden Blick zu, öffnete aber die Tür und verließ das Haus.
»Ich rufe dich an«, sagte Karl zu Isak.
Cecilia machte die Tür zu und schloss ab.
Als sie sich Karl zuwandte, brodelten Wut und Angst in ihr. Erst da begriff sie, wie haarfein die Grenze zwischen diesen Gefühlen war und wie eng sie miteinander verwandt waren.
»Jetzt hör mir mal gut zu, Karl. Denk nicht mal daran, Isak jetzt noch irgendwie zu helfen. Hörst du? Du darfst ihn auf keinen Fall anrufen.«
Karl machte auf dem Absatz kehrt und lief in sein Zimmer.
Mit zittrigen Händen holte Cecilia das Handy heraus und rief Erling an.
»Hast du gehört, was passiert ist?«, sagte sie, als er ranging.
Erling wartete ab.
»Erling, das ist nicht Isak, den sie festgenommen haben. Es ist Fredrik.«
»Was zum Teufel sagst du da?«
Erling klang streng und abwartend.
»Isak war hier. Es muss etwas falsch gelaufen sein. Oder vielleicht habe ich … Es muss doch Isak gewesen sein. Man kann es zumindest nicht ausschließen. Ich meine …«
Sie war nah daran, in Tränen auszubrechen. Sie konnte das hier alles einfach nicht mehr aushalten.
Erlings Stimme erreichte sie.
»Wir schaffen das, Cecilia. Und Karl auch.«
Die Tränen begannen zu fließen.
»Versprichst du das?«, flüsterte Cecilia.
Sie suchte Garantien, die sie nicht mehr eingefordert hatte, seit sie ein Kind gewesen war.
»Ich verspreche es«, sagte Erling mit rauer Stimme. »Bleib einfach ruhig, und tue nichts Übereiltes. Wir kriegen das hin, Cecilia.«