Zweifel und Glauben waren zwei Dinge, denen Maria Martinsson einen nicht unwesentlichen Teil ihres Erwachsenenlebens gewidmet hatte. Der Zweifel hatte dabei oft ihr selbst gegolten, wer sie war und was sie wert war, was sie vom Leben zu erwarten hatte. Beim Glauben war es darum gegangen, dass alles möglich war, nur nicht das, was sie selbst sich am meisten ersehnte.

Ruhe und Frieden.

In ihrem Leben, ihrem Zuhause, ihrer Seele.

Doch es gab auch den professionelleren Glauben und – immer öfter – die professionellen Zweifel.

Die sie in diesem Moment empfand.

Maria war im Wohnwagen und ging die Notizen zu dem Verhör, das sie mit Fredrik durchgeführt hatten, durch. Sie hatte das Revier in Uddevalla verlassen, um in Ruhe nachdenken zu können. Das fühlte sich jetzt wie ein Fehler an, denn der Wohnwagen war ein fremder Raum für sie geworden. Seit Paul da gewesen war und gewütet hatte, fühlte sie sich allein dort schutzlos.

Maria versuchte, sich auf die Notizen aus dem Verhör zu konzentrieren.

Paul gab es nicht.

Er hatte sich den ganzen Morgen über nicht gemeldet, und Maria vermied es, darüber nachzudenken, was das bedeutete. Denn es spielte keine Rolle.

Nicht in dem Moment, nicht dort.

Die Zweifel.

Die seit dem Verhör mit Fredrik Eriksson so stark geworden waren. Er hatte seinen eigenen Sohn als Verdächtigen identifiziert. Aber es war ihm nicht leichtgefallen, das musste man ihm zugestehen. Die Frage war nur, was die Polizei über die Sache denken sollte. Eine Streife war nach Hause zur Familie Eriksson gefahren und hatte das Messer gefunden, von dem Fredrik gesprochen hatte. Es war ins NFZ geschickt worden, und nun hielten sie alle den Atem an und warteten auf die vorläufigen Testergebnisse.

Maria dachte an die Zeugenaussagen von all den Personen, die es wichtig fanden zu erwähnen, dass Isak als Kind problematisch gewesen und immer noch schwierig und verschlossen war. Auch Marias Begegnungen mit Isak waren nicht völlig konfliktfrei gewesen. Der Junge war auf eine Weise hitzig, die ihn kaum einschätzbar und unausgeglichen wirken ließ.

Aber war er ein Mörder?

Und dann noch einer, der seine eigene Mutter ermordet hatte?

Maria probte den Gedanken, wusste aber zu wenig über Isak, um das seriös beurteilen zu können.

Hingegen war sie fast sicher, dass Fredrik nicht der Täter war, den sie suchten. Es gab noch jemand anders. Jemanden, von dem sie noch nicht einmal einen Namen kannten und der vielleicht der Liebhaber war.

Die Tür wurde aufgerissen, und Maria wurde so ruckartig aus ihrer Konzentration geschleudert, als ob der Wohnwagen plötzlich in Flammen aufgegangen wäre.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Ray-Ray.

Maria atmete durch.

Er machte die Tür hinter sich zu und zog seine Jacke aus.

»Was glaubst du?«, fragte er und setzte sich ihr gegenüber.

»Dass weder Fredrik der Täter ist, den wir suchen, noch Isak. Und du?«

Ray-Ray dachte nach, ehe er antwortete.

»Was Fredrik betrifft, gibt es da ziemlich viel, was passt.«

»Was passt? Das kann keiner von uns wissen. Wir haben keinen einzigen Zeugen, keine technischen Beweise. Außerdem beschuldigt er Isak. Sollte er allen Ernstes so eiskalt sein, den Mord, den er selbst begangen hat, seinem eigenen Sohn in die Schuhe zu schieben?«

»Wir können nicht von dem absehen, was wir tatsächlich wissen«, entgegnete Ray-Ray. »Ich meine, das Motiv ist das klassischste von allen, der Täter der wahrscheinlichste. Wir wissen, dass die Beziehung von Fredrik und Agnes nicht mehr gut war, wir wissen, dass sie wegziehen wollte, und wir wissen, dass sie sich mit jemand anderem getroffen hat.«

Da unterbrach Maria ihn.

»Wer ist dann dieser andere?«, gab sie zurück. »Ich glaube, dass der Liebhaber hochinteressant ist.«

Ray-Ray sah irritiert aus. Er war müde, das waren sie alle.

»Dieses Detail stört mich auch«, gab er zu, »dass wir immer noch nicht wissen, wer es ist. Diese Telefonnummer, deren Besitzer wir nicht identifiziert haben. Dieses Rätsel müssen wir jetzt mal knacken.«

»Das müssen wir wirklich«, stimmte Maria zu.

Ohne die Sache noch weiter zu kommentieren, holte sie ihr Handy heraus, um Vendela anzurufen. Erst da sah sie, dass sie einen Anruf von August bekommen hatte. Außerdem hatte er zwei Bilder geschickt. Das eine war die Kopie eines Fotos, das andere die Rückseite desselben Fotos.

Maria sah das Foto an, während sie telefonierte.

Was war darauf eigentlich zu sehen?

Ein Auto vor Augusts Laden?

»Hallo.«

Vendelas gedämpfte Stimme unterbrach ihre Betrachtung.

»Diese unbekannte Nummer, die so oft Agnes angerufen hat«, begann sie, »sind wir damit irgendwie weitergekommen?«

»Das ist lustig, dass du fragst«, sagte Vendela. »Wir haben soeben eine neue Aktivität von dieser Nummer aufgefangen.«

Maria hörte aufmerksam zu.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Unser heimlicher Freund hat Agnes heute mehrere Male angerufen.«

Maria umklammerte ihr Handy mit festem Griff.

»Wir müssen erfahren, wer da anruft«, sagte sie. »Und schnell außerdem.«

»Wir haben eine Geopositionierung des Telefons durchgeführt und herausbekommen, dass es sich zurzeit der Anrufe in Kungshamn befand«, erklärte Vendela. »Ich kann eine Karte schicken, dann siehst du ungefähr, um welches Gebiet es sich handelt. Aber mehr habe ich nicht zu bieten.«

»Ich verstehe«, sagte Maria.

Die Karte kam wenige Sekunden später per Mail. Maria öffnete sie und zeigte sie Ray-Ray. Er beugte sich herüber, um besser sehen zu können. Ein schwacher Duft von Shampoo und etwas anderem – vielleicht ein Haaröl – wehte über den Tisch.

Maria zeigte auf das eingekreiste Gebiet, in dem unter anderem das Haus von Agnes Eriksson lag und der Hafen mit den Bootshäusern.

»Was machen wir denn mit dem Auto?«, fragte Vendela. »Ich meine, das Auto, mit dem Fredrik gestern nach Hovenäset gefahren ist. Das gehört nicht ihm, sondern einem Bekannten.«

Maria sah wieder das Foto an, das August geschickt hatte.

Plötzlich wurde ihr klar, was das war.

»Behaltet es!«, antwortete sie scharf.

»Das ist schon klar«, erwiderte Vendela. »Aber der Besitzer hat sich gemeldet. Es ist ja durchgesickert, dass ein ›naher Angehöriger‹ von Agnes Eriksson in Untersuchungshaft sitzt. Der Besitzer hat sich schnell ausgerechnet, wer das wohl ist und dass sein Auto in der Sache vorkommen könnte.«

»Ich nehme Kontakt zu dem Besitzer auf«, sagte Maria.

»Man dankt«, antwortete Vendela, »dann muss ich das nicht machen.«

Sie beendeten das Gespräch.

»Sieh mal hier«, sagte Maria und zeigte Ray-Ray, was August geschickt hatte.

Dann hörte sie die auf laut gestellte Mobilbox ab.

Ray-Ray gab einen Pfiff von sich.

»Wir müssen den Besitzer des Autos checken«, sagte Maria.

»Bereits erledigt«, entgegnete Ray-Ray. »Wir haben nichts gegen ihn. Aber ich würde gerne mal mit diesem Jochen sprechen, wenn er aufwacht.«

»Wenn er aufwacht«, gab Maria zu bedenken.

Sie sah das andere Bild an, das August geschickt hatte und von dem er auf der Mobilbox bestätigt hatte, dass es sich um die Rückseite des Fotos handelte. Da war eine Uhrzeit angegeben, wann das Bild gemacht worden war.

Um 02.52 Uhr am 26. August.

Also spät in der Nacht, mehrere Stunden nachdem Agnes vermisst gemeldet worden war.

Danach , nicht davor.

Maria versuchte einzuordnen, was sie da hörte.

Sie konnten nicht sicher sein, dass die Uhrzeit stimmte, aber wenn, dann konnten sie ausschließen, dass Fredrik das Auto gefahren hatte. Da hatte er nämlich zusammen mit der Polizei am Sucheinsatz teilgenommen. Marias eigene Kollegen konnten ihm für diesen Zeitraum ein Alibi geben. Dasselbe galt für Isak.

Mit dem Auto war es anders.

Sie betrachtete noch einmal die Karte auf dem Computer.

»Könnte derjenige, der auf Agnes’ Handy angerufen hat, eine Person sein, die glaubt, dass sie sich freiwillig versteckt?«, gab sie zu bedenken. »So wie ihre Freundin Anna meinte?«

Ray-Ray biss sich auf die Lippe.

»Da muss man sich natürlich fragen, wie jemand auf eine solche Idee kommen kann«, meinte er.

»Vielleicht, weil er mehr weiß als wir?«, erwiderte Maria.

Ray-Ray brummelte etwas Unverständliches.

Marias Handy klingelte wieder.

»Du bist ja ganz schön beliebt«, stellte Ray-Ray fest.

Diesmal war es Roland.

»Was für ein elendes Durcheinander«, sagte er. »Haben wir Isak schon gefunden?«

Ray-Ray gestikulierte ein tonloses »Gleich zurück!« und verließ den Wohnwagen. Durch das Fenster sah Maria, wie er sich in sein Auto setzte und die Tür zuschlug, um dann sein Handy herauszuholen.

Maria informierte ihren Chef über die jüngsten Entwicklungen. Während sie sprach, wanderte ihr Blick zwischen der Karte auf dem Computer und den Fotos, die August geschickt hatte, hin und her. Jedes Mal, wenn sie Augusts Namen im Display sah, dachte sie kurz, da würde sich jemand über sie lustig machen.

August Strindberg.

August, der backte, der es gewagt hatte, von Stockholm nach Kungshamn zu ziehen, der alte Dinge sammelte und glaubte, dass man aus einem Hobby einen Lebensunterhalt machen konnte. Und der, wie er selbst erzählt hatte, offensichtlich gerne Holz hackte.

Maria ertappte sich bei einem Lächeln und ließ es geschehen. Zurzeit gab es nur weniges, das sie froh machte.

Ray-Ray kam zurück, als sie gerade das Gespräch mit Roland beendet hatte. Sein Blick sprühte vor Energie, und er beugte sich vor zu ihr. Offensichtlich war er so aufgeregt, dass er nicht einmal mehr gerade stehen konnte.

»Ich konnte mich nicht beherrschen!«, rief er. »Ich habe den Besitzer des silberfarbenen Autos angerufen und gefragt, wie das mit diesem Ausleihen so funktioniert. Der Typ wohnt in Göteborg, und dorthin sind es bekanntlich einhundertfünfzig Kilometer. Etwas weit, um hinzufahren und die Schlüssel zu holen, was offensichtlich der Grund dafür ist, dass er an zwei Personen Ersatzschlüssel verteilt hat, die immer zugänglich sind. Nicht weil diese Leute keine eigenen Autos hätten, sondern weil sie, wie ein anderer Nachbar sagte, manchmal einen zusätzlichen Wagen brauchen. Die einzige Regel dabei lautet: Niemand nimmt das Auto, ohne den Besitzer vorher darüber zu informieren.«

»Und wie heißen die Personen mit den Schlüsseln?«

»Fredrik Eriksson und Erling Lindgren.«

Maria runzelte die Stirn.

»Erling Lindgren?«

»Das ist der Vater von Isaks Freund Karl. Der hat einen Malerbetrieb und wohnt genau hier.«

Er zeigte auf der Karte auf einen Punkt in der Nähe von Familie Erikssons Haus.

In Marias Kopf arbeitete es schneller und schneller.

»Könnte er der Liebhaber sein?«, fragte sie. »Der Agnes von der nicht identifizierten Nummer aus anruft?«

»Das sollten wir wirklich herausfinden«, sagte Ray-Ray.

»Wir bestellen ihn ein«, sagte Maria.

Ray-Ray nickte eifrig und zeigte auf ihr Telefon.

»Ich will das Original von dem Foto sehen«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Maria. »Lass uns gleich zu Augusts Laden fahren. Ich will wissen, was das Auto dort mitten in der Nacht gemacht hat.«