»Ich gehe raus und suche nach ihm. Ich muss sowieso noch mal ins Bootshaus.«

Das hatte Erling gesagt. Nachdem Cecilia ihn angerufen hatte, war er sofort nach Hause gekommen. Sie ertrug es einfach nicht, allein zu sein. Und sie wusste nicht, wohin Karl verschwunden war. Er hatte das Haus unbemerkt verlassen.

Und da hatte Erling entschieden, er müsse derjenige sein, der nach ihm suchte.

»Du bleibst hier und wartest«, hatte er zu Cecilia gesagt. »Einer von uns muss zu Hause sein.«

Cecilia hatte genickt, ohne richtig zu wissen, warum, doch schon kurz nachdem die Eingangstür zugefallen und er gegangen war, hatte sie es bereut. Sie wollte auch nach Karl suchen. Da sah sie Erling schon mit entschlossenen und langen Schritten Richtung Steg und Bootshäuser gehen.

Als sie ihm folgte, dachte Cecilia, dass sie doch nichts weiter wollte als einen harmonischen Alltag und eine Familie, die sie liebte und von der sie geliebt wurde. War das zu viel verlangt? Sie fand nicht, und genau das hatte sie ja auch bekommen. Eine lange Reihe guter Jahre und einen fantastischen Sohn, den sie genötigt hatten, viel zu schnell erwachsen zu werden. Das erkannte sie jetzt so deutlich. Sie hätten auf das ganze Gerede, er würde im Leben scheitern, wenn sie ihn zurückhielten, einfach nicht hören sollen. Sie hätten nicht zulassen sollen, dass er im Alter von nur sechs Jahren sofort in die zweite Klasse kam.

Aber jetzt sind wir für dich da, Karl, dachte Cecilia, als sie den Gehweg entlangeilte.

Es quälte sie, wenn sie daran dachte, wie Karl sich in den letzten Wochen verändert hatte. Er hatte regelrecht um Hilfe geschrien, aber sie hatten es nicht gehört und nicht begreifen wollen, mit welch großen Problemen er kämpfte.

Aber jetzt waren sowohl Erling als auch sie zu seiner Rettung unterwegs.

Cecilia hatte sich um das Messer gekümmert und Erling um den Pullover.

Eine Art Teamarbeit mit den edelsten Zielen.

Die Polizei allerdings durfte nicht eingeweiht werden. Die Gefahr war zu groß, dass man dort glauben würde, Karl hätte mit der Sache etwas zu tun. Das musste unter allen Umständen vermieden werden.

Jetzt waren sie am Steg, Erling vorneweg und Cecilia hundert Meter hinter ihm. Er hatte sie noch nicht gesehen, und das war gut, denn sonst würde er sie anweisen, wieder umzudrehen.

Erlings schwere Schritte donnerten über den Holzsteg. Cecilia ging schneller, um ihn einzuholen. Erling schloss das Bootshaus auf, ging rein und machte die Tür hinter sich zu.

Cecilia beeilte sich noch mehr.

Jetzt betrat sie den Steg, nur noch wenige Meter.

Da hörte sie einen markerschütternden Schrei, der sie innehalten ließ.

Die Stimme.

Sie erkannte die Stimme nicht.

Oder doch?

Karl.

Es war Karl, der da schrie, als wäre er besessen oder hätte Schmerzen.

»Was machen diese Stiefel hier, Papa? Hast du die Nachrichten an mich geschrieben?«

Dann folgten noch mehr Geräusche – Schläge, gedämpftes Stöhnen und laute Schreie. Erlings Brüllen vermischte sich mit dem von Karl.

»Jetzt bleib mal ruhig. Hörst du, was ich sage, Junge? Ich habe das zu deinem eigenen Besten getan.«

Jetzt rannte Cecilia den ganzen Weg bis zur Tür, doch dann hörte sie einen Schlag, der schwerer war als alle anderen. Als würde etwas fallen und hart auf den Boden aufschlagen.

Der Steg erzitterte unter ihren Füßen.

Und als sie gerade die Hand auf die Klinke gelegt hatte, hörte sie wieder Erlings Stimme:

»Ruhig, Karl, ruhig. Ich lasse dich nicht eher los, bis du ruhig bist.«

Karl weinte, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er klein gewesen war.

»Sag mir, was du getan hast«, schluchzte er. »Bitte, kannst du nicht einfach sagen, was du getan hast?«

Und da antwortete Erling:

»Es geht nicht darum, was ich getan habe. Sondern was du getan hast, Karl. Du und diese scheinheilige Scheißfrau.«

Cecilias Herz klopfte so hart, dass man es wahrscheinlich von außen hören konnte.

Wovon redete er?

»Ich habe euch gesehen«, sagte Erling. »Einen Abend Anfang August habe ich hier im Bootshaus gesessen und gesehen, dass in dem von Eriksson hinten Licht an war. Es war spät, und ich dachte, es wäre vielleicht jemand eingebrochen. Und dann warst du da. Du und Agnes.«

Kleider raschelten, und jemand bewegte sich.

»Was hast du mit ihr gemacht?«

Karls Stimme klang jetzt gedämpft.

»Jetzt sieh mich nicht so an«, sagte Erling. »Ich verstehe ja, dass du auf sie abgefahren bist. Auf ihre Weise war sie scharf, absolut. Aber, verdammt noch mal, sie war schließlich doppelt so alt wie du. Das muss dir ja wohl klar sein, dass ich so etwas nicht zulassen konnte, oder?«

Cecilia konnte nicht mehr als einen Bruchteil der Worte verarbeiten, die sie erreichten. Wovon redeten die?

Karl und Agnes?

Karl und Agnes?

»Agnes wusste, dass sie einen Fehler machte. Ich habe die SMS an dich geschickt, aber es war Agnes, die das Letzte geschrieben hat. Es war Schluss, Karl. Es war Schluss.«

Von drinnen waren Schritte zu hören, und dann spürte Cecilia ein Gewicht gegen die Tür drücken, an die sie ihr Ohr hielt.

Wieder Karl.

»Zum letzten Mal«, sagte er, und jetzt war seine Stimme so nah, so nah. »Sag mir, was du mit ihr gemacht hast. Sag es einfach. Denn ich muss es verdammt noch mal wissen.«

Cecilia hielt die Luft an.

»Papa, bitte, sag’s mir«, flüsterte Karl. »Hast du Agnes getötet?«