Die Lehrerin Agnes Eriksson war nicht länger verschwunden. Sie war tot und in einem Keller, der lange einem Bestatter gehört hatte, in einem Plastiksack begraben und mit Beton bedeckt worden.
Alles ging so schnell, dass Maria sich anstrengen musste, es in die richtige Reihenfolge zu bringen. Erst kam der Anruf von August. Als Maria ranging, waren sie und Ray-Ray bereits vor seinem Laden.
»Ihr müsst kommen«, hatte August gesagt. »Ich habe etwas gefunden.«
Sie hörte an seiner Stimme, dass es schlimm war, dass dies zu den schlimmsten Ereignissen gehörte, die er bisher erlebt hatte.
Er zeigte Maria und Ray-Ray den Keller und berichtete ihnen von einem Linoleumfußboden und dem Fehlen eines Holzbodens. August Strindberg war sachlich und gefasst, aber nicht kalt.
Sie riefen nach Verstärkung, sie sperrten alles ab.
Die Techniker kamen ins Haus, brachen den Beton auf und offenbarten, was darunter lag. Eine in blaues Plastik eingewickelte Leiche. Agnes’ Leiche. So schnell versteckt und begraben, dass derjenige, der sie im Keller des Bestatters zur Ruhe gebettet hatte, sich nicht vergewissern konnte, ob das Plastik auch ganz von dem Beton zugedeckt war.
Maria floss das Herz vor Trauer über.
Sie hatte schon lange gewusst, dass es so enden würde, aber das spielte keine Rolle. Dies war eine Niederlage, ein Scheitern.
Ein Verrat.
Einer der Techniker strich mit der behandschuhten Hand über den Beton.
»Das ist so scheußlich«, sagte er.
Es war nicht schön, aber das hatte auch niemand erwartet. Und dann der Geruch. Der Gestank. Widerlicher als alles andere.
Maria sah, wie aus Ray-Rays Gesicht alle Farbe wich. Bestimmt aus Schock, aber hauptsächlich vor Wut.
August Strindbergs Stimme war hinter ihnen zu hören:
»Ich kann den Handwerker nicht erreichen, der die Betonplatte gemacht hat, aber vielleicht habt ihr mehr Erfolg.«
Maria drehte sich schnell um.
»Komm, wir gehen hinaus«, sagte sie.
Sie verließen den Keller und gingen in den Laden hinauf. August vorneweg und Maria und Ray-Ray direkt hinter ihm.
Ray-Ray berührte sie vorsichtig am Arm.
»Wir müssen über etwas reden«, sagte er.
Sie entzog sich, ahnte instinktiv, was er wollte.
Paul.
Der sie im Wohnwagen aufgesucht hatte, um unmissverständlich zu zeigen, dass die alten Spielregeln, wonach ihre Arbeit ihre Freistatt war, nicht länger galten.
»Jetzt nicht«, sagte sie. »Wir haben hier alle Hände voll zu tun.«
Sie konnte nicht umhin, verärgert zu sein.
Hatte Ray-Ray jedes Gefühl für das richtige Timing verloren?
Der neue Blick, mit dem er sie ansah, erschreckte sie.
»Doch, natürlich«, sagte er. »Aber das hier kann nicht ewig warten.«
»Wir sprechen später darüber«, sagte Maria bestimmt.
Paul war das Letzte, woran sie jetzt denken wollte.
Vor allen Dingen, da sie gerade eben eine ermordete Frau gesehen hatte, die unter einem Kellerfußboden begraben worden war.
Maria schaute sich in Augusts Laden um. Der Raum hatte das Potenzial, charmant zu werden. Wenn August der Westküste nur eine Dosis Geduld schenkte, dann könnte das richtig gut werden.
August schlug vor, sich in die Küche zu setzen. Um sie herum gaben die Techniker ihr Bestes, um auch das kleinste Beweisstück zu sichern, doch das war eine sinnlose Aufgabe, das wussten alle Beteiligten. Es war zu spät. An diesem Ort waren schon zu viele Leute herumgelaufen, und außerdem war alles von einem nichts Böses ahnenden Verkäufer nach seinem Auszug geputzt worden.
In der Küche roch es nach frisch gekochtem Kaffee, und auf dem Küchentisch stapelten sich Papiere, Rechner und ein Notizbuch.
Maria sah August an.
»Welcher Handwerker?«, fragte sie.
August erwiderte ihren Blick. Seine Augen waren dunkelblau und hatten eine Schärfe, wie sie es noch bei niemandem gesehen hatte.
Bestimmt bereut er, hierher zu uns gezogen zu sein, dachte sie.
Wenngleich sie hoffte, es möge nicht so sein.
Sie wollte, dass er blieb. Warum, das wagte sie nicht zu benennen, und das war auch nicht nötig. Das Gefühl hielt sie warm, und das genügte.
Zumindest fürs Erste.
»Er heißt Erling Lindgren.«
Maria hörte, wie Ray-Ray tief Luft holte.
Erling Lindgren. Schon wieder.
Die Antwort erstaunte Maria nicht, machte sie aber ungeheuer traurig. Dass sein Name ihnen aber auch so lange entgangen war. Hinter sich hörte sie, wie Ray-Ray augenblicklich an Roland berichtete, was sie erfahren hatten. Erling musste im ganzen Land zur Fahndung ausgeschrieben werden. Er konnte bewaffnet und gefährlich sein. Noch wussten sie nicht, was ihn zu seiner Tat getrieben hatte.
Marias Blick fiel auf die Fotografie, die August von Jochen Berg bekommen hatte und die jetzt zwischen den Papieren auf dem Küchentisch lag.
»Hier ist auch der Brief«, sagte August.
Maria und Ray-Ray standen am Tisch und lasen ihn.
»Teufel auch«, entfuhr es Ray-Ray.
Maria wusste nicht, was sie über Jochens Verhalten denken sollte.
Natürlich war der Mann alt, aber weder senil noch dumm. Er hatte sich bewusst an die Polizei gewandt und sie dazu gebracht, unnötige Zeit in das Verhör mit einem armen Restaurantbesitzer zu investieren, der mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte. Und jetzt schwebte Jochen im Krankenhaus zwischen Leben und Tod, und die Ärzte, die ihn behandelten, nannten die Prognose schlecht.
Ray-Ray wandte sich August zu.
»Zeigen Sie uns das Zimmer, von dem Jochen hier schreibt«, bat er. »Ich möchte wissen, wo die andere Leiche sein müsste.«
Ray-Ray hatte genug, das sah man.
Doch dann lenkte ihn das Klingeln seines Handys ab.
»Geht schon mal«, sagte er. »Ich muss hier mal kurz rangehen.«
August ging zur Treppe, die in den oberen Stock führte, doch Maria zögerte und wartete auf Ray-Ray. Niemand hatte es laut gesagt, aber sie wusste doch, dass es in diesem Gespräch um sie ging.
»Okay«, hörte sie ihn sagen. »Okay. Gut. Schließt den Teufel ein und lasst ihn nicht raus. Versprecht mir das.«
Er schob das Telefon wieder in die Tasche und drehte sich langsam um. Natürlich hatte er gewusst, dass sie direkt hinter ihm stand.
»Ich konnte nicht länger schweigen«, erklärte er. »Und ich konnte nicht warten, denn du …«
Die Stimme brach, und er musste nach Luft ringen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Noch ehe er zu sprechen begann, wusste Maria, was er erzählen würde.
»Was hast du getan?«, flüsterte sie.
»Ich konnte nicht warten«, sagte Ray-Ray. »Und es ist mir scheißegal, ob du mich für den Rest meines Lebens hasst, Maria, denn darum geht es schließlich. Das Leben. Dein Leben. Dass du es so lebst, wie du willst, und das auch kannst und darfst. Ohne erschöpft und bedrückt zur Arbeit zu kommen, ohne dass dir Rücken und Beine wehtun. Und verdammte Scheiße noch mal, wie ich mich dafür schäme, nichts getan zu haben, wo ich das hier doch geahnt und gesehen habe, wie du aussahst. Und das ändert sich ja nicht, das weißt du auch. Also habe ich heute Morgen Stopp gesagt und Paul angezeigt und einen unmittelbaren Freiheitsentzug erwirkt. Sie werden ihn achtundvierzig Stunden festhalten. Und zwar nicht nur deinetwegen, sondern auch meinetwegen. Damit wir in Ruhe im Wohnwagen arbeiten können. Und damit ich nicht noch mal bei einem Alarm ausrücken muss, zu einem anderen Keller, wo ich dann dich in einem blauen Plastiksack unter einer verdammten Masse Beton finde. Okay?«
Ray-Rays Augen glänzten, als hätte er Fieber, und obwohl sie ihn gerne gehasst hätte, fühlte sie doch überhaupt nichts.
»Okay?«, fragte Ray-Ray noch einmal.
Maria suchte nach Worten.
»Wie hast du den Freiheitsentzug durchgesetzt?«
Ray-Ray senkte den Blick, als müsse er Kraft sammeln.
»Er hatte Drogen bei sich.«
Maria starrte ihn an.
»Vergiss es«, sagte sie. »Ich kenne Paul. Er …«
»Er hatte Drogen bei sich«, wiederholte Ray-Ray. »Kannst du das vielleicht einfach akzeptieren?«
Maria schlug sich die Hand vor den Mund.
»Aber verdammt«, flüsterte sie, »Ray-Ray, was hast du …«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir reden nicht darüber«, sagte er leise. »Die Hauptsache ist, dass es dir gut geht.«
Da hörten sie von draußen ein Rufen.
»Stopp, sage ich! Du darfst hier nicht reingehen!«
Das war ein Kollege, der da rief. Maria rannte zur Tür. Als sie rauskam, hielt sie inne. Dort, auf dem sonnigen Bürgersteig, direkt an der Absperrung, standen zwei Streifenpolizisten und hielten einen jungen Mann zurück.
Maria erkannte ihn.
Es war Isaks Freund.
Karl Lindgren.
Der Sohn von Erling Lindgren.
Er schrie und zerrte, um loszukommen.
Und er weinte wie ein Kind.
Maria war außer sich, als sie ihn rufen hörte:
»Ich bin jetzt hier, Agnes! Ich bin jetzt hier!«
August
Mein Leben liegt in Trümmern. Noch bin ich die Einzige, die weiß, was passiert ist, aber die Uhr tickt, und alles, was bisher erschüttert worden ist, fällt nun in Stücke. Mir ist jetzt klar, dass ich Kungshamn verlassen muss. Fredrik muss die Verantwortung für Isak übernehmen, er wird derjenige sein, der dafür sorgt, dass unser Sohn bewältigen kann, was vor ihm liegt.
Den Schatten meines monumentalen Verrats und meiner beschämenden Sünde.
Mein größtes Geheimnis ist mir entglitten, und ich werde dieser Konfrontation nicht entkommen können. Erling weiß es. Er sagt, er habe mich und Karl Anfang August im Bootshaus gesehen. Das muss das vorletzte Mal gewesen sein, als wir uns sahen, denn nach dem Urlaub haben wir uns nur zweimal getroffen.
Dass ich aber auch nicht rechtzeitig aufhören konnte, dass ich mich nicht beherrschen konnte.
Das werde ich mir nie verzeihen. Niemals.
Erling und ich hatten bereits ein Treffen (in jeder Hinsicht schrecklich – laut und dramatisch und nahegehend, er wollte alles wissen, wo und wann wir uns getroffen haben), und da habe ich versprochen, Kungshamn zu verlassen. Von dem Makler, der das Bestattungsinstitut verkauft hat, habe ich gehört, dass dort ein Secondhandladen eröffnet werden soll, also habe ich nun dem neuen Besitzer gemailt. Ich muss irgendwie beweisen können, dass ich es ernst meine.
Obwohl es das letzte Mal so turbulent war, als wir versucht haben, miteinander zu reden, werden Erling und ich uns bald wieder treffen. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Er war so wütend, dass ich Angst bekam. Hoffentlich geht es diesmal besser.
Ich verspreche wegzuziehen, er verspricht zu schweigen.
Dann werde ich Fredrik sagen, dass ich ihn verlassen werde und die Scheidung will. Ich wette, er wird in maximal einem Jahr mit einer neuen Frau zusammenziehen. Fredrik wird mir nicht verzeihen, aber damit kann ich leben. Wir hätten uns schon längst trennen sollen.
Und dann Karl.
Guter, wunderbarer Karl.
Er wird von allen am besten ohne mich klarkommen.
Ich hoffe, dass er das versteht und mit der Zeit die Kraft findet, mir zu verzeihen. Hoffentlich wird das Verzeihen auch die Zeit überstehen und bis zu dem Tag währen, an dem er so alt ist wie ich jetzt. Ich werde eine SMS vorbereiten, die ich abschicke, wenn Erling zusieht. Dann weiß er, dass Schluss ist. Und zwar wirklich.
Am schlimmsten ist meine Verzweiflung, was Isak angeht.
Ich habe furchtbare Angst vor seiner Reaktion auf das, was ich erzählen muss, und darauf, was ich verschweigen werde.
Er wird so viele Fragen haben, so viele Antworten verlangen.
Und ich will doch nichts sagen.
Um meinetwillen, um Karls willen, aber auch um Isaks willen. Man will nicht wissen, dass die eigene Mutter so etwas getan hat.
Ich hoffe so inniglich, dass er mir eines Tages verzeihen wird. Aber ich habe auch Angst, dass das ziemlich lange dauern wird. Mir selbst habe ich gelobt, große Geduld zu zeigen – Isak soll wissen, dass seine Mutter ihm immer nur das Allerbeste gewünscht hat und immer für ihn da sein wird.
Immer.