Als Cecilia das erste Mal träumte, Karl sei zurückgekommen, weinte sie, bis sie aufwachte. Der Traum war so lebendig gewesen, so reich an Details. Und doch durfte sie nicht darin verweilen.
Es heißt, der Herbst wäre in diesem Jahr ungewöhnlich spät gekommen. Die Bäume dürften ihre Blätter ungewöhnlich lange behalten, und der Herbst sei noch nie so hell und bunt gewesen. Offensichtlich hat der Oktober die Einwohner von Kungshamn seit mehreren Jahrzehnten nicht zu so vielen Sonnenstunden eingeladen.
Doch Cecilia hatte überhaupt nichts davon bemerkt.
Sie verbrachte fast all ihre Zeit zu Hause und ging nur zum Einkaufen raus. Sie war krankgeschrieben, und so würde es wohl noch eine gute Weile bleiben. Ihr Arbeitgeber hatte großes Verständnis gezeigt und gesagt, sie würde alle Zeit bekommen, die sie bräuchte, um geheilt zu werden.
Das war der Ausdruck, den sie verwendeten: um geheilt zu werden.
Als ob das überhaupt möglich wäre.
In Cecilias Welt war der Versuch genauso unsinnig, wie sie zu bitten, zwanzig Zentimeter zu wachsen. Das klappte nicht.
Ihre Schwester kam einmal die Woche vorbei, um zu sehen, wie es ihr ging.
Dann plauderten sie ein wenig, sprachen das Nötigste, bis sie wieder nach Hause ging. Cecilia nahm an, dass ihre Schwester auch den Eltern berichtete, und fand das im Grunde in Ordnung.
Ansonsten war so gut wie nichts in Ordnung.
Karl war ausgezogen. Er hatte sich selbst darum gekümmert, die Schule wechseln zu können, und hatte eine Familie gefunden, bei der er wohnen konnte. Das Jugendamt war natürlich beteiligt gewesen, und obwohl Cecilia in dem ganzen Prozess das Gefühl hatte, als würde ihr Herz pulverisiert, gelang es ihr doch, sich zu beherrschen und ihn loszulassen.
Das war der einzige Weg, den sie sich vorstellen konnte, der garantierte, dass er nicht für immer mit ihr brach. Und ihre Strategie hatte sich schon ausgezahlt. Einmal die Woche sprachen sie über Skype miteinander, und darüber hinaus antwortete er pflichtschuldigst auf jede SMS, die sie ihm schickte.
Cecilia hatte die Familie, bei er wohnte, nicht kennengelernt, aber mit ihnen telefoniert, und sie hatten einen vernünftigen Eindruck gemacht. Der Mann arbeitete in einem Technikunternehmen und die Frau in einem Arzneimittelkonzern. Außerdem hatten sie zwei Kinder in Karls Alter, mit denen er offenbar gut zurechtkam.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, hatte die Frau zu Cecilia gesagt, »Karl ist bereits wie ein Familienmitglied.«
Nachdem Cecilia das Gespräch beendet hatte, entrang sich ihr ein abgrundtiefes Brüllen.
Karl ist bereits wie ein Familienmitglied.
Und ich?, hatte sie gedacht, geschrien, gebrüllt. Was ist mit mir?
Dann hatte sie sich ins Auto gesetzt und war zum Gefängnis in Uddevalla gefahren, wo Erling saß. Bis zu dem Moment hatte sie nicht einmal im Entferntesten daran gedacht, ihn zu treffen, sondern ihn mehr oder weniger als tot betrachtet. Doch wenn einem eine fremde Frau erzählte, dass Cecilias einziges Kind, der beste Astronaut des Universums, eine neue Familie gefunden hatte, dann konnte sie ihre Wut gegen niemand anders richten als Erling.
Doch sie hatte ihn nicht gesehen. Er unterlag allen möglichen Restriktionen und durfte weder Besuch bekommen noch Anrufe und nicht einmal Briefe.
Wie sie nach Hause gekommen war, daran konnte sich Cecilia nicht erinnern. Es war, als hätte das Auto sich selbst gefahren.
Inzwischen waren zwei Wochen seit diesem unseligen Ausflug nach Uddevalla vergangen, und Cecilia hatte nicht vor, noch einmal dorthin zu fahren. Sie war nicht einmal sicher, ob sie hingehen und das Gerichtsverfahren verfolgen wollte.
Ihr einziger Wunsch war, Karl zurückzubekommen.
Und das ging nicht.
»Vielleicht solltest du wieder anfangen zu arbeiten«, sagte ihre Schwester bei einem Besuch. »Nur ein paar Stunden in der Woche.«
»Ich warte lieber noch ein bisschen«, erwiderte Cecilia.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche des Morgenmantels, sah auf das Display und legte es auf den Küchentisch. Es könnte ja sein, dass Karl sich gemeldet hatte, ohne dass sie es merkte, und dann wollte sie es so schnell wie möglich erfahren. Damit er nicht meinte, sie hätte ihn vergessen, denn das hatte sie natürlich nicht.
Und auch sonst hatte niemand ihn vergessen. Mehrere Nachbarn waren vorbeigekommen und hatten sie besucht. Es war so deutlich erkennbar, dass sie nicht wussten, wie sie sich verhalten und was sie sagen sollten. Und doch wurde alles gesagt.
Sie litten mit ihr.
Sie machten ihr keinen Vorwurf für irgendetwas von dem, was passiert war.
Und sie hofften, sie würde sich melden, wenn sie irgendetwas brauchte.
Fredrik und Isak waren allerdings nicht vorbeigekommen. Wenn Cecilia richtig gehört hatte, war Isak von seinem Vater weggezogen, und Fredrik hatte gekündigt und würde das Haus verkaufen.
Cecilia vermied es, zu viel an die Familie Eriksson zu denken.
Und nur sehr selten dachte sie an Agnes.
Und wirklich niemals an Agnes und Karl.
Das war so weit von allem entfernt, was sie sich jemals hätte zusammenfantasieren können, dass es überhaupt keinen Sinn machte, sich dem Gedanken auch nur zu nähern. Eine erwachsene Frau und Cecilias Kind. Das war zu gestört, um es in Worte zu fassen.
»Willst du all diese Raumfahrtposter im Wohnzimmer haben?«, fragte ihre Schwester. »Ich finde, das sieht ein bisschen idiotisch aus.«
»Lass sie da«, antwortete Cecilia in scharfem Tonfall.
Sie schaute wieder auf ihr Handy.
Ihre Schwester sah skeptisch aus.
»Du wirst schon hören, wenn er sich meldet«, sagte sie leise.
»Nicht wenn ich zufällig an den Knopf komme, der die Lautstärke regelt«, entgegnete Cecilia. »Dann hört man nämlich gar nichts. Das ist einmal passiert. Nicht dass er sich gemeldet hätte, aber ich habe gesehen, dass die Lautstärke für … ja, bestimmt eine Stunde ausgeschaltet gewesen war. Ich habe es gemerkt, als ich … etwas anschauen wollte.«
Die Miene ihrer Schwester hellte sich auf.
»Wolltest du einen Film anschauen?«, fragte sie.
Cecilia schüttelte den Kopf.
Darüber wollte sie nicht reden. Das würde niemand verstehen und ihre Schwester am allerwenigsten. Challenger war immer noch ein Unglück, und Cecilia behielt das für sich.
Ihre Schwester wollte gerade noch etwas sagen, als Cecilia ihr zuvorkam.
»Hat Karl zu dir was über die NASA gesagt?«, fragte sie. »Also, irgendwas Neues?«
Sie wusste, dass ihre Schwester manchmal mit Karl sprach. Vielleicht hatte er etwas zu ihr gesagt, was er Cecilia gegenüber nicht erwähnt hatte.
»Darüber haben wir doch bereits gesprochen.«
»Ich habe gedacht, vielleicht hat er sich ja entschieden …«
Sie verstummte.
»Wofür entschieden, Cecilia?«
Cecilia spürte die Tränen hinter den Augen pochen.
»Ich habe gedacht, dass er es sich vielleicht anders überlegt hat«, flüsterte sie.
Ihre Schwester schüttelte den Kopf.
»Karl war noch nie so motiviert wie jetzt«, sagte sie. »Er wird es so unglaublich weit bringen und in dem, was er macht, ein Star werden.«
Cecilia antwortete nicht.
Wenn sie hätte entscheiden können, dann wäre Karl ein Star auf der Erde geworden und nicht am Himmel. Doch ihr war alles aus den Händen geglitten.
Alles war weg.
Karl, Erling, das Leben.
Und Cecilia hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie weitermachen sollte.