Kapitel 1

Hugh aus Emblin hatte nicht viele Talente, aber er war sehr, sehr gut darin, sich zu verstecken. Und darüber war er wirklich froh, denn diese Gabe brauchte er dringend.

„Wo hast du dich verkrochen, Schafscherer? Je länger wir dich suchen müssen, desto schlimmer!“

Hugh rutschte tiefer in die Lücke hinter dem Bücherregal. Rhodes und seine Freunde hatten ihn zu ihrem Lieblingsopfer auserkoren, aber normalerweise war ihre Aufmerksamkeitsspanne kurz. Wenn er sich lange genug versteckte, wurde es ihnen irgendwann langweilig. Dann würden sie eine andere Beschäftigung finden, um sich zu amüsieren.

Hugh wartete, bis ihre Stimmen verklangen, und begann sich langsam zu entspannen – leider zu früh. Eine Hand griff in die Lücke, packte seinen Arm und zerrte ihn in den Bibliotheksgang. Hugh stolperte hinterher, bis er auf dem polierten Granitboden kniete.

„Und was machst du hier bei den Büchern, Schafscherer?“, frage eine Stimme.

Hugh atmete tief durch und schaute hoch. Rhodes Charax lächelte spöttisch auf ihn hinunter, flankiert von zwei grinsenden Handlangern. Rhodes vereinte alles in sich, was Hugh fehlte: Er war hochgewachsen statt schmächtig, muskulös statt dürr, gutaussehend statt unauffällig. Seine Augen waren blau statt braun, seine Haare blond statt dunkel, seine Familie von Adel statt schlichte Händler und im Übrigen war er ein weitaus besserer Magier als Hugh sich jemals erhoffen konnte. Sogar Rhodes weiße Schuluniform war sichtlich maßgeschneidert, während Hugh sich mit einem schlechtsitzenden, verwaschenen Exemplar begnügen musste, das aus dem Akademievorrat stammte.

„Jeder weiß, dass Bauerntölpel nicht lesen können, also treibst du dich nicht deshalb in der Bibliothek herum. Warum bist du hier, Schafscherer?“

„Ich bin kein Schafscherer“, murmelte Hugh leise und spürte, wie er rot wurde.

„Was hast du gesagt?“, fragte Rhodes.

Hugh funkelte ihn an. „Ich bin kein Schafscherer.“

Rhodes trat ihn in die Rippen, sodass er der Länge nach hinfiel. „Hat dir niemand beigebracht, Höhergestellte nicht anzulügen, Bauernbengel?“, herrschte Rhodes ihn an. „Aber wer weiß, vielleicht wolltest du nur sagen, dass du in Wirklichkeit zu den Schafen gehörst. Das könnte ich dir vielleicht sogar glauben.“

Rhodes’ Mitläufer kicherten. Mit geballten Fäusten erhob sich Hugh wieder auf die Knie.

„Du solltest am Boden bleiben, Schafscherer. Da gehörst du hin.“ Rhodes holte mit dem Fuß aus, um Hugh erneut zu treten, als eine Stimme ertönte: „Ich schätze, er gehört in den Klassenraum – genau wie ihr drei.“

Rhodes und seine Kumpel fuhren erschrocken herum, sodass Hugh Gelegenheit bekam, sich aufzurappeln.

„Wir haben gerade eine Freistunde.“ Rhodes wirkte kein bisschen besorgt und hatte auch keinen Grund dazu. Sogar mitten im Klassenraum hatte er sich schon Schlimmeres geleistet, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Das war nicht überraschend – schließlich hatte seine Familie einen enormen politischen Einfluss, der Hunderte von Meilen über ihre Grenzen hinausreichte.

„Nun, dann solltet ihr eure Freizeit anderswo verbringen.“ Die unbekannte Stimme klang wenig amüsiert. Hugh war es bisher nicht gelungen, an seinen Peinigern vorbei einen Blick auf den Sprecher zu werfen. „Ihr nutzt die Bibliothek wohl kaum zu ihrem vorgesehenen Zweck.“

Rhodes warf Hugh einen Blick zu, der Ärger für die Zukunft verhieß, doch immerhin marschierte er mit seinen Kumpanen davon. Noch in Hörweite brachen sie in Gelächter aus. Hugh zuckte zusammen. In den seltenen Fällen, wenn ein Lehrer oder sonstiger Magier sich einmischte, benahm Rhodes sich tagelang noch schlimmer als sonst.

Der Bibliothekar, dem die unbekannte Stimme gehörte, musterte ihn. Er war hochgewachsen und drahtig mit einem ungezähmten braunen Haarschopf, der aussah, als sei er seit Tagen mit keiner Bürste in Berührung gekommen. Hugh schätze ihn höchstens doppelt so alt wie seine eigenen 15 Jahre.

Nach einigen Momenten des Schweigens stieß der Bibliothekar einen Seufzer aus. „Wie heißt du?“

„Hugh.“ Er wandte den Kopf ab und hoffte, der Mann würde weitergehen. Im Moment wollte er nur einen Ort finden, wo er allein sein konnte.

„Nur Hugh?“

„Man nennt mich Hugh aus Emblin, Sir. Zur Unterscheidung von den anderen Schülern, die Hugh heißen.“

Der Bibliothekar warf ihm einen neugierigen Blick zu. Hugh fühlte die üblichen Fragen auf sich zukommen. In Emblin wurden grundsätzlich keine Magier geboren und doch gab es Hugh. Auch wenn er garantiert nie einen besonders guten Zauberer abgeben würde. Zu seiner Überraschung fragte der Bibliothekar jedoch nicht nach seiner Herkunft.

„Möchtest du, dass ich deine Mitschüler melde?“, erkundigte er sich stattdessen.

Hugh konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. Der Bibliothekar wartete geduldig, bis Hugh sich von seiner Überraschung erholt hatte.

„Das würde nichts nützen, Sir“, sagte Hugh schließlich.

Der Bibliothekar hob eine Augenbraue. „Würde es nicht?“

Hugh blickte wortlos zu Boden und wartete darauf, dass er endlich gehen durfte. Nach einer Weile wurde jedoch klar, dass der Bibliothekar bereit war, den Rest des Tages auf seine Antwort zu warten.

„Das war Rhodes Charax, Sir.“

Der Mann betrachtete ihn nur weiter geduldig.

„Sein Onkel ist der König von Highvale, Sir. Außerdem ist er der talentierteste Nachwuchsmagier in unserem Jahrgang. Für die Lehrerschaft kann es nur von Nutzen sein, sich mit ihm gutzustellen. Dagegen bin ich ein Niemand. Keiner von den Ausbildern wird für mich den Kopf hinhalten.“

Der Bibliothekar schien einen Moment darüber nachzudenken, dann seufzte er wieder. „Nun gut.“ Er wandte sich zum Gehen, aber drehte sich noch einmal zu Hugh um. „Nächstes Mal solltest du dir lieber ein Versteck im Archiv suchen statt in der Juristischen Abteilung. Erstens gibt es dort mehr verborgene Ecken und zweitens ist der Lesestoff viel interessanter.“ Er sah aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, doch dann wandte er sich ab und verschwand.

Hugh stieß einen erleichterten Seufzer aus. Immerhin war er diesmal fast ungeschoren davongekommen. Und die Idee mit dem Archiv war nicht schlecht.