Kapitel 8

Niemand sprach, bis sie die Bibliothek erreicht hatten und selbst dann bestand der Wortwechsel nur daraus, dass Alustin die anderen Bibliothekare begrüßte. Alle schienen ziemlich erfreut, ihn zu sehen, und warfen den neuen Lehrlingen eine Menge neugieriger Blicke zu.

Alustins Büro befand sich tief im Mitarbeiterbereich der Bibliothek. Er blieb vor einer Tür ohne Namensschild stehen, die eher aussah, als würde sie zu einer Besenkammer führen. Doch als er sie aufschloss, lag dahinter ein Büroraum von so schockierend großen Ausmaßen, dass man dort Duellübungen hätte abhalten können, wäre die Decke nicht so niedrig gewesen. Zwar stieß sich Alustin nicht den Kopf daran, aber er hätte auch nicht gefahrlos hochspringen können.

„Nun kommt schon rein, nicht so schüchtern!“, sagte Alustin.

An den Wänden entlang drängten sich übervolle Bücherregale und große Kreidetafeln voller krakeliger handschriftlicher Texte, komplexer Diagramme und Spruchformeln sowie einiger beeindruckend präziser Zeichnungen. Kurz darauf erkannte Hugh, dass der Fußboden ebenfalls aus einer riesigen Kreidetafel bestand.

Ganz hinten stand ein klobiger Schreibtisch, der aussah, als hätte er einem früheren Schuldirektor oder sogar einem Monarchen gehört. Allerdings hatte er seine besten Zeiten seit mindestens hundert Jahren hinter sich, denn er war mit Kerben und Scharten übersät, und an einigen Stellen splitterte sogar das Holz ab. Hugh war sicher, dass der Tisch auf keinen Fall durch die Tür gepasst haben konnte, und erst recht nicht die schmale schmiedeeiserne Wendeltreppe hinab, die in einer Ecke zur nächsten Etage führte. Auf dem Tisch türmten sich unzählige Bücher, Schriftrollen und Papierstapel. Einen freien Platz zum Arbeiten entdeckte Hugh nirgends. Statt normaler Holzstühle, wie man sie erwarten würde, nahm den gesamten Platz hinter dem Tisch ein gigantischer lederner Lehnstuhl ein. Dagegen wirkte selbst der schlaksige Reisende Archivar zwergenhaft. Genau wie der Tisch war der Sessel reif für die Müllkippe, und das galt auch für die drei abgenutzten, aber bequemen Gästesessel davor.

Alustin marschierte auf seinen Schreibtisch zu, und die Lehrlinge wollten schon folgen, als Talia abrupt auf halbem Wege stehen blieb. Hugh und Sabae kamen verwirrt hinter ihr zum Halten.

„Was zur tausendsten Hölle wollen Sie mit jemandem, dessen Magie absolut nutzlos ist?“, fragte sie und wirkte noch giftiger als zuvor.

Hugh spürte seinen Wangen rot werden. Deshalb war sie also die ganze Zeit so wütend gewesen. Sie wusste, welchen Ruf er hatte, und fühlte sich beleidigt, weil er als lästiges Anhängsel hinter ihnen her trottete. Unauffällig warf er einen Blick auf Sabae und stellte fest, dass ihre Miene noch regloser geworden war. Sie starrte zur Seite und wollte ihn anscheinend nicht einmal anschauen, so sehr schämte sie sich, dass er derselben Gruppe aufgebürdet worden war. Schließlich war er ...

„Du bist nicht nutzlos, Talia“, sagte Alustin.

… Was?

„Ja, klar. Als nächstes erzählen Sie mir, dass es zu Mittsommer schneit! In meinem Clan gab es niemanden, der etwas mit mir anfangen konnte. Die ganzen Ausbilder, die sie für mich angeschleppt haben, will ich gar nicht erwähnen“, sagte Talia. „Ich sollte kämpfen lernen wie meine Eltern und Brüder und eine anständige Gefechtsmagierin werden. Stattdessen bin ich ein nutzloses Durcheinander. Aber nur, dass Sie es wissen: Auch wenn ich nicht zum Kämpfen tauge, lasse ich mich nicht von Ihnen in einen Bücherwurm verwandeln, der hier drinnen im Dunklen versauert. Und auf Mitleid kann ich auch verzichten.“

Hugh hatte nicht den geringsten Schimmer, was hier gerade los war. Talia … sie hatte von sich selbst gesprochen? Aber warum war Sabae dann so …?

Alustin schaute Talia während ihres Ausbruchs ruhig an.

„Du bist nicht nutzlos, Talia“, wiederholte Alustin. Er blickte zuerst zu Sabae, dann zu Hugh. „Das gilt für euch alle. Ihr habt nicht in der Magie versagt. Die Akademie war es, die versagt hat. Sie hat von euch erwartet, dass ihr euch schlicht dem Lehrstoff und den Methoden anpasst, die für alle anderen gelten. Aber so starr ist Magie nicht.“

„Was für ein Unsinn soll …“, sagte Talia.

Alustin redete einfach über sie hinweg. „Ich habe euch nicht aus Mitleid gewählt oder weil ich ein paar zusätzliche Helfer brauchte, um Papiere zu sortieren. Ich habe mich für euch drei entschieden, weil ich glaube, dass ihr Potenzial habt. Weil ich glaube, dass ihr großartiger Magier werden könnt.“

Talia sah fast so verblüfft aus wie Hugh sich fühlte. Sogar auf Sabaes Miene erschien endlich ein Ausdruck und sie warf Alustin einen scharfen Blick zu. Er hatte … er war ...

Alustin musste verrückt sein.

Hugh konnte nicht länger den Mund halten. „Jeder Lehrer, der versucht hat, mir etwas beizubringen, hat aufgegeben. Jeder einzelne. Ich bin kein echter Magier, das wissen doch alle. Ich bin … nur eine Art Freak.“

Alustin schaute ihn unbeeindruckt an. „Man sollte besser nie glauben, was alle wissen, Hugh.“ Er rückte einen Stapel Papiere auf seinem Tisch beiseite. „Alle haben gesagt, dass ich nie ein Gefechtsmagier werden kann, und ich habe ihnen das Gegenteil bewiesen.“

Hugh klappte den Mund wieder zu.

Jetzt sah Alustin tatsächlich ein bisschen verärgert aus. „Die Akademie hat angefangen, Schüler zu behandeln, als seien sie auswechselbar. Als gäbe es bloß eine Art, Magie zu lehren. Ständig werden die Klassen vergrößert, und von den Schülern wird erwartet, dass sie vorgegebene Zaubersprüche pauken wie aus dem Lehrbuch.“ Er lehnte sich vor. „So funktioniert Magie nicht. Es gibt zahllose Wege, die zu ihr führen. Aber wenn die Akademie auf etwas stößt, das zu weit von der Norm abweicht? Dann ist man hier völlig unfähig, damit umzugehen.“

Alustin atmete tief durch und schien sich ein wenig zu beruhigen. „Eigentlich wollte ich bis später warten und dieses Thema bei jedem von euch einzeln ansprechen, aber wie es aussieht, sollten wir es jetzt hinter uns bringen. Euch alle hat man fälschlicherweise glauben lassen, ihr wäret als Magier nutzlos. Ich habe vor, das Gegenteil zu beweisen.“