Kapitel 13

Am nächsten Morgen trafen sich Alustins Lehrlinge vor seinem Büro. Hugh kam als Letzter. Wenn man in einem Archiv lebte, gab es nach einer durchwachten Nacht wenig, was einen am Verschlafen hinderte.

Gerade öffnete Talia den Mund, um eine Bemerkung zu machen – und Hugh wettete, dass sie sich über seine Bummelei beschweren wollte – als die Tür aufging und Meister Alustin den Kopf herausstreckte.

„Wunderbar, ihr seid alle hier! Kommt doch herein!“

Hugh beeilte sich, durch die Tür zu schlüpfen, um einem Streit mit Talia zu entgehen. Er steuerte auf die Gästesessel vor dem Schreibtisch zu, doch da nahm Alustin ihn bei der Schulter und drehte ihn in Richtung einer Wand mit frisch abgewischter Kreidetafel.

„Also dann, die zweite Lehrstunde!“, verkündete Alustin.

„Die zweite?“, fragte Hugh.

„Tja, ich habe nicht vor, jedes Mal nachzuzählen“, sagte Alustin trocken.

Hugh sparte sich seine Antwort lieber.

Talia und Sabae gesellten sich zu ihnen, als Alustin auf der Tafel zu kritzeln begann.

„Ihr wollt also etwas über den Äther wissen“, sagte Alustin.

„Nicht wirklich“, murmelte Talia.

„Der Äther ist wie das Meer“, erklärte Alustin und zeichnete flüchtig das krakelige Bild eines Ozeans an die Tafel. Hugh fiel auf, dass es keinerlei Ähnlichkeit mit den künstlerischen Zeichnungen an den übrigen Wänden hatte.

„Was ist der Äther, und warum sollte es uns interessieren, ob er wie das Meer ist?“, fragte Talia.

Alustin wandte sich zu ihnen um. „Aus dem Äther ziehen Magier ihre gesamte Macht. Er ist pures Mana und füllt jeden Winkel auf unserer Welt. Und wie gesagt ähnelt er einem Ozean.“

„Gibt es Fische?“, fragte Talia. Hugh war ziemlich sicher, dass sie es sarkastisch meinte.

Alustin öffnete schon den Mund, um zu antworten, als Sabae ihm zuvorkam. „Hörst du bitte auf zu unterbrechen? Vielleicht willst du nichts lernen, aber wir schon.“

Talia funkelte Sabae an, und zu Hughs Missbehagen nahm sie als nächstes auch ihn ins Visier. Schnell schaute er weg.

Bevor Talia wieder dazwischenreden konnte, erhob Alustin die Stimme. „Ich möchte sehr hoffen, dass es im Äther keine Fische gibt. Diese Vorstellung ist ein bisschen … furchteinflößend.“ Er schüttelte den Kopf. „Nun, jedenfalls gleicht der Äther insofern einem Meer, als dass er wie Wasser flutet und verebbt, Strömungen, Gezeiten und Untiefen hat und sich am liebsten den Weg des geringsten Widerstands sucht. Doch anders als Wasser kümmert er sich wenig darum, was ihm im Weg liegt, und ist unbeeinflusst von der Schwerkraft. Der Äther fließt stets frei und ungehindert, außer ...“

Alustin drehte sich wieder zur Tafel um und versah die Meerlandschaft mit weiteren Details. Dabei sagte er eine ganze Weile nichts, bis Hugh klar wurde, dass er auf einen Vorschlag seiner Lehrlinge wartete.

„Außer man zwingt ihn, sich in eine Richtung zu bewegen!“, sagte Talia. Sabae warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Ich rate euch sehr dringend von dem Versuch ab, Zwang auf den Äther auszuüben. Habt ihr schon einmal versucht, das Meer zu etwas zu zwingen?“, fragte Alustin, ohne sich von seiner Zeichnung abzuwenden.

Das brachte sogar Talia einen Moment zum Verstummen.

„Man kann die Ätherströmungen nicht zwangsweise in Bewegung setzen, aber man kann ihnen Kanäle bahnen, damit sie hindurch fließen. Eure Körper tun das ganz von selbst, auf natürliche Weise. Sie nehmen Mana aus dem Äther auf und speichern es. Die Spruchformeln werden gebraucht, um diesen Vorrat anzuzapfen und zu benutzen. Während eure Körper das Mana absorbieren, wird es dem Äther um euch herum entzogen. Er wird gewissermaßen leer geschöpft, doch füllt er sich je nach seiner lokalen Dichte entweder schnell oder langsam aus der Umgebung wieder auf, so wie ein Teich die Leerstelle verschwinden lässt, die durch einen Schöpfeimer entstanden ist.“

„Kann man das Mana denn nicht direkt aus dem Äther ziehen, anstatt erst die Körperreserven auffüllen zu müssen?“, fragte Hugh.

Alustin hielt in seiner Zeichnung inne. „Theoretisch ist das möglich. Doch es ist so gefahrvoll und von geringem Nutzen, dass nur Wenige es versucht haben. Das pure, ungebundene Mana des Äthers lässt sich schlecht verwenden und die Bindung findet nun einmal im Körper statt. Daher ist es sinnvoller zu warten, bis der Körper sein Reservoir auf natürliche Art gefüllt hat. Die Wenigen, die es auf andere Art versuchen, wollen gewöhnlich nur damit prahlen.“ Er schaute einen Moment nachdenklich drein.

„Doch zurück zum eigentlichen Thema. Durch die natürlichen Ätherströme kann die Menge an Mana regional sehr verschieden sein. An manchen Orten wie Emblin“, hier nickte er Hugh zu, „hat der Äther eine so geringe Dichte, dass ein paar dürftige Kleinzauber ausreichen, um ihn für Stunden völlig zu leeren. Dagegen haben andere Orte wie Skyhold so reiche und kompakte Mana-Felder, dass Tausende von Magiern täglich ihre Zauberei ausüben können, ohne auch nur einen merkbaren Unterschied zu machen. Natürlich kann man auch hier an seine Grenzen gelangen. Wenn man sich bei der Zauberei überanstrengt, füllt sich zwar der Äther schnell wieder mit Mana auf, die körpereigenen Reserven aber nicht.“

Alustin wandte sich ihnen zu. Irgendwie war es ihm gelungen, seine simple Zeichnung in eine sagenhaft detaillierte Landschaft zu verwandeln. Hugh hätte nie gedacht, dass Tafelkreide überhaupt eine solche Fülle an Einzelheiten erlauben könnte.

„Was ist wohl die nächste Frage, die ihr stellen solltet?“, fragte Alustin.

Die Lehrlinge schwiegen einen Moment, dann meldete Sabae sich zu Wort. „Wo stammt das Mana her?“

Alustin lächelte ihr zu. „Ganz genau.“

Talia mischte sich ein. „Das weiß doch jeder: vom Leben selbst.“

Alustins Lächeln verschwand und er wedelte mit dem Finger. „Was habe ich über die Dinge gesagt, die jeder weiß, Talia?“

Er wirbelte wieder zur Tafel herum und malte einen Kreis darauf. „Viele Jahrhunderte lang war das tatsächlich die anerkannte Theorie, aber darin hat immer eine gewaltige Lücke geklafft. Nämlich, dass Mana-Wüsten und Gebiete mit Mana-Überfluss anscheinend nicht mit der Menge an Lebewesen übereinstimmen. Zum Beispiel ist die Endlose Erg wüst und leer, abgesehen von ein paar Ungeheuern, und dennoch unglaublich reich an Mana. Dagegen ist Emblin zum größten Teil mit Kiefernwäldern bedeckt und hat trotzdem so gut wie kein Mana. Die Gelehrten haben für dieses scheinbare Paradox tausende von Erklärungen erfunden, von denen eine noch komplizierter als die nächste war. Vor etwa einem halben Jahrhundert ist das ganze Kartenhaus dann zusammengebrochen. Wir brauchen nicht in die Details zu gehen, aber heutzutage lautet die Theorie anders. Woraus sich der Äther in Wirklichkeit speist, ist …“

Zwischenzeitlich hatte Alustin den schlichten Kreidekreis mit Einzelheiten versehen und in eine detaillierte Landkarte der Welt Anastis verwandelt, mit dem Kontinent Ithos im Mittelpunkt. Er hatte Emblin und die Endlose Erg darauf markiert, während er über sie sprach.

„… der Tod des gesamten Universums.“