Kapitel 22

Danach änderte sich Hughs gewohnter Tagesablauf drastisch. Godrick nahm nun an den meisten morgendlichen Übungsstunden teil, genau wie sein Vater. Artur Mauerbrecher war aus der Nähe noch überwältigender als Hugh vorher schon gedacht hatte. Das lag sowohl an seiner puren Körpergröße als auch an seiner Persönlichkeit. Gegen ihn wirkte Godrick geradezu still und zurückhaltend. Die ersten weißen Strähnen zierten Arturs Bart- und Haupthaare, und auf seinen Muskelbergen prangten mehr Narben, als Hugh zählen konnte. Trotz der ganzen Kampfspuren wirkte er noch gutmütiger als sein Sohn, falls das überhaupt möglich war.

Danach verlief der Tag ungefähr wie gewohnt bis zum Mittagessen. Alustins Lehrlinge (ohne Godrick, der zu einer anderen Zeit aß) plauderten sehr viel lebhafter miteinander als früher. Selbst Hugh meldete sich öfter zu Wort, da ihm die anderen immer vertrauter wurden.

Später am Nachmittag, beim Unterricht in Zauberei, zeigten Talia und Sabae erstaunliche Fortschritte.

Inzwischen konnte Talia ihr Traumfeuer auf Abruf manifestieren und sogar faustgroße Stücke davon mit recht guter Treffsicherheit auf Ziele schleudern. Ein bisschen unheimlich es war jedes Mal, wenn die Ziele vom Traumfeuer nicht in Flammen gesetzt, sondern auf andere Art zerstört wurden. Manche gefroren zu Eis und zersplitterten, dann wieder alterten sie rapide und zerfielen zu Staub. Bei einer unvergesslichen Übungsstunde wurde das Ziel in Hunderte kleiner Quadrate zerschnitten, jedes genau einen halben Daumen breit. Immerhin benahm sich das Traumfeuer in ungefähr drei von vier Fällen ähnlich wie gewöhnliche Flammen. Eine Anwendung für Talias Bindung an Knochen hatte Alustin leider immer noch nicht gefunden.

Auch Sabae hatte enorme Fortschritte gemacht, zumindest was die Windmagie betraf. Inzwischen wurden ihre Faustschläge grundsätzlich von Sturmhieben begleitet. Außerdem hatte sie angefangen, sich mit dieser Fähigkeit eine rudimentäre Windrüstung zu bauen. Das hieß, sie konnte Armschützer aus rotierenden Miniaturstürmen hervorbringen, die um ihre Handgelenke kreisten und an blasse Tornados erinnerten. Bisher ließ sich damit nicht allzu viel abwehren, und mehr als einige Sekunden am Stück überdauerten die Armschützer selten, weil Sabaes Vorrat an Mana nicht groß genug war. Doch die Hiebe eines Gegners verloren dadurch schon einen bedeutenden Teil ihrer Kraft. Ihre Affinitäten für Wasser und Blitze benutzte sie bisher überhaupt nicht, weil Alustin ihr davon abriet. Und was ihre Heilerkräfte anging, weigerte Sabae sich weiterhin, sie anzuwenden.

Hughs Liste möglicher Vertragspartner war deutlich gewachsen. Neu hinzugekommen und von Alustin abgesegnet waren Chelys Mot, die Erdbebenschildkröte, Lasnabourne, der Phönix, sowie ein hochintelligenter Dschungelbaum, der andere Pflanzen befehligen konnte und von derselben Inselgruppe stammte wie Lasnabourne.

Im Gegensatz zu den übrigen Lehrlingen hatte Hugh jedoch noch nicht einen einzigen Zauber gewirkt, abgesehen von seinen Schutzbarrieren und dem simplen Lichtspruch, den er vorher schon beherrscht hatte. Immerhin wusste er nun, warum der Lichtzauber funktionierte. Anders als die meisten Kleinsprüche war dieser dazu gedacht, sehr verschiedene Mengen von Mana zu tolerieren, um die Helligkeit je nach Wunsch verändern zu können. Deshalb hatte in diesem Fall die enorme Mana-Flut nicht geschadet, die Hugh automatisch jeder Art von Magie einflößte.

Ansonsten lernte Hugh nur täglich mehr über die Konstruktion von Spruchformeln. Er wusste nun, wozu die verschiedenen Grundformen gut waren und wie sie aufeinander wirkten. Je nachdem, welche Sackgassen, Kreuzungen, Ecken und Winkel man einbaute, wurde das Fließen des Manas in seiner Geschwindigkeit und Turbulenz beeinflusst. Aber Alustin brachte ihm immer noch nicht bei, tatsächlich einen Zauber zu wirken.

Am Ende eines Tages voller Magietraining war Hugh oft unglaublich frustriert. Aber auf das Abendessen freute er sich jedes Mal. Inzwischen saß er immer mit Talia und Sabae zusammen und meistens kam auch Godrick dazu. Das machte tatsächlich Spaß, und Hugh stellte fest, dass er immer öfter an ihren Gesprächen teilnahm … auch wenn ihn weiterhin niemand als Plaudertasche bezeichnen würde.

Rhodes hielt sich anscheinend zurück, aber Hugh fiel auf, dass nur sehr wenige Schüler bereit waren, in der Nähe ihres Vierertisches zu sitzen. Vermutlich hat Rhodes alle wissen lassen, dass sie auf seiner Liste unerwünschter Personen standen.

Damit konnte Hugh leben. Was ihm allmählich wirklich zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er bei angewandter Magie überhaupt nicht vorankam.

*

Schließlich, ungefähr drei Wochen nach dem Zusammenstoß mit Rhodes und dem ersten Mittagessen mit Godrick, verlor er in Alustins Büro die Beherrschung. Sabae war gerade bei ihrem Kampftraining, und Talia befand sich in der Bibliothek, wo sie einige neue Bücher aufspüren sollte, unter anderem eine seltene Rarität: die Biografie eines Traummagiers aus dem Ithonischen Imperium.

„Warum haben Sie mir immer noch keine Zaubersprüche beigebracht?“, fragte Hugh.

Alustin hob eine Augenbraue. „Ich dachte, das hätte ich die ganze Zeit.“

„Haben Sie nicht!“, entgegnete Hugh. „Ich kenne keinen einzigen neuen Spruch außer meiner Schutzzauber.“

Alustin schien einen Moment darüber nachzudenken, dann nickte er entschieden. „Ich habe dir auf jeden Fall neue Sprüche beigebracht, du hast bloß nicht richtig zugehört.“

Hugh gab einige stotternde Geräusche von sich, bis Alustin ihn unterbrach.

„Was habe ich dir am Anfang gesagt, welche Fähigkeiten ich dir beibringen würde, Hugh?“

„Wie ich Zaubersprüche für mich anpassen und spontan neue erschaffen kann?“, sagte Hugh.

„Ganz genau. Ich glaube nicht, dass ich je behauptet hatte, ich würde dir vorgefertigte Zaubersprüche beibringen. Stattdessen lernst du, wie Spruchformeln konstruiert sind ... genau zu dem Zweck, sie selbst zu entwerfen.“ Alustin schnappte sich Zettel und Schreibfeder und reichte beides an Hugh weiter. „Du wirst jetzt einen Levitationsspruch erfinden, um dieses Buch in die Luft zu heben.“

Hugh warf einen ungläubigen Blick auf Alustin, dann auf das dicke Buch. „Wie soll ich das machen?“

„Zuerst zeichnest du die Basislinien deiner Spruchformel.“

Hugh zögerte einen Moment, dann begann er. Die Basislinien waren der wichtigste Teil jeder Formel. Damit wurde das Mana eines Magiers in das gesamte Zeichenmuster hineingezogen und kanalisiert. Hugh entschied sich für eine achteckige Basis mit hoher Aufnahmekapazität.

„Als Nächstes zeichnest du die Definitionslinien.“ Damit wurde das Mana in die benötigte Form gebracht. In diesem Fall zeichnete Hugh einige steile Diagonalen, die den Zauberspruch informierten, dass er ein Objekt mit kinetischer Energie aufladen sollte.

„Und zuletzt kommen die Ziellinien.“

Hugh setzte einige kurze Striche auf die Definitionslinie, um dem Zauberspruch mitzuteilen, in welche Richtung die kinetische Energie ihre Wirkung entfalten sollte.

Alustin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Nun wende den Spruch an.“

Hugh prägte sich das Diagramm, das er entworfen hatte, sorgfältig ins Gedächtnis ein. Dann konzentrierte er sich auf das dicke Buch. In Gedanken zeichnete er das Achteck nach, gefolgt von den steilen Diagonalen und schließlich den Ziellinien. Um den Spruch tatsächlich wie gewünscht in Gang zu setzen, musste man seinen Willen darauf richten. Offenbar war ein kleiner Anteil von Willensübertragung immer nötig, auch wenn weniger Zauberer es sich leisten konnten, ihre Magie so damit zu tränken, wie Hugh es bei seinen Schutzbarrieren tat. Ganz zuletzt ließ er sein Mana vorsichtig in die Formel fließen.

Das Buch schoss mit irrer Geschwindigkeit vom Tisch in die Höhe und klatschte gegen die Decke. Bei dem lauten Geräusch hörte Hugh erschrocken auf, Mana in die Formel fließen zu lassen, und sofort platschte das Buch zurück auf den Tisch, wobei ein paar Seiten zerknickt wurden.

Hugh spürte wie er rot wurde. „Das funktioniert immer noch nicht richtig! Das ganze Üben war Zeitverschwendung!“

Alustin hob das Buch auf und glättete die Seiten. „Es ist levitiert, oder nicht?“

„Schon, aber dann hätte es in der Luft anhalten sollen, und das hat es nicht getan!“, sagte Hugh.

Alustin nahm noch einen Zettel und entwarf mit ein paar schnellen Strichen eine weitere Spruchformel. Sie besaß die gleichen Definitionslinien und sehr ähnliche Ziellinien, aber eine ganz andere Basis.

„Hier haben wir die Levitationsformel, die normalerweise als Grundform gelehrt wird“, sagte Alustin. „Ein einfaches Diagramm aus Basis, Definition und Ziel. Was passiert, wenn du versuchst, so etwas zu benutzen?“

Hugh warf ihm einen mürrischen Blick zu. „Entweder explodiert der Zauber oder schickt einen blendenden Lichtblitz oder raucht wie verrückt.“

„Und was ist der Unterschied zwischen den beiden Formeln?“ Alustin hielt sie nebeneinander in die Höhe.

„Die Basis der normalen Levitationsformel ist dafür gedacht, nur wenig Mana aufzunehmen … viel weniger, als durch mich fließt“, sagte Hugh.

„Genau darum reagieren die Zauber so dramatisch. Sie können die übergroße Mana-Menge nicht aufnehmen und werden zerstört“, sagte Alustin. „Das ist bei deiner neuen Levitationsformel jedoch nicht passiert, denn du hast ihr eine ausreichende Kapazität gegeben, um mit deiner Mana-Menge fertigzuwerden.“

„Und wieso ist es trotzdem schiefgegangen?“, fragte Hugh.

„Ist es nicht. Versuche es noch einmal.“

Hugh warf seinem Meister einen skeptischen Blick zu, aber begann von vorne. Wie beim ersten Mal schoss das Buch auf die Decke zu, sodass Hugh erschrocken den Zauber verpuffen ließ.

„Noch einmal, aber versuch deine Konzentration zu halten, auch wenn es gegen die Decke prallt.“

Also unternahm Hugh einen dritten Versuch. Sorgfältig rief er sich die Spruchformel ins Gedächtnis, atmete tief durch und ließ sein Mana hineinströmen. Das Buch sauste aufwärts, doch diesmal gelang es Hugh, den Zauber nicht vor Schreck loszulassen. Nachdem das Buch gegen die Decke geprallt war, blieb es einfach dort hängen … wie festgeklebt.

„Anders als bei den Zaubersprüchen, die man dir als Standard beigebracht hat, ist das Ergebnis diesmal nicht chaotisch und zufallsgesteuert. Die Spruchformel wurde von deinem Mana nicht zerstört“, erklärte Alustin. „Der übliche Levitationsspruch für Erstklässler lässt kleine Objekte ein paar Fuß hoch schweben. Mehr kann er nicht, weil die Basislinie nur wenig Mana hineinlässt. Deine Formel dagegen schwemmt genug Mana in den Spruch, um das Buch … 20 oder 30 Fuß hoch zu befördern, würde ich wetten.“

In diesem Moment sauste das Buch, das bist dahin reglos an die Decke gedrückt worden war, plötzlich zur Seite weg und knallte oben gegen die Bürotür. Überrascht verlor Hugh wieder die nötige Konzentration.

„Leider waren deine Ziellinien nicht die besten. In der Standardformel für Levitation sind sie so gezeichnet, dass sie das Objekt in der Waagerechten stabilisieren. Dagegen hat dein Diagramm dazu geführt, dass ein Teil der Energie schräg und waagerecht abgeleitet wurde. Vermutlich wäre das Buch auch dann zur Seite geschossen worden, wenn es genug freien Platz gehabt hätte, um tatsächlich das obere Ende deines Levitationszaubers zu erreichen.“

Hugh starrte das Buch einen Moment lang ungläubig an.

„Wenn du die Levitationshöhe verringern willst, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten“, fuhr Alustin fort. „Eine so genannte Beschränkungslinie kann den Ziellinien hinzugefügt werden, um dem Zauber an einer bestimmten Stelle ein Ende zu setzen. Oder du kannst unten an der Basis eine Überdrucklinie zeichnen, sodass alles überschüssige Mana abgeleitet wird, bevor es in den Zauberspruch fließen kann. Eine weitere Möglichkeit sind zusätzliche Definitionslinien – sagen wir zum Beispiel für Lichtmagie, sodass das Objekt leuchtet –, um mehr Mana zu verbrauchen und das Buch nicht ganz so hoch zu schleudern.“

Alustin verstummte kurz und schaute Hugh direkt in die Augen.

„Das alles wirst du lernen und noch mehr. Und jede zusätzliche Diagrammform, die du kennst, wird deinen Zaubersprüchen größere Vielfalt verleihen. Aber eigentlich hättest du schon seit ein paar Wochen deine eigenen Formeln entwerfen können. Ich hatte erwartet, dass du selbst darauf kommst, Hugh. Du kannst von deinen Lehrern – selbst von mir – nicht erwarten, dass sie dir alles unter die Nase reiben. Was du vor allem lernen musst, ist deine eigenen Antworten zu finden. Abgesehen davon …“ Alustin lächelte breit. „Herzlichen Glückwunsch zu deinem ersten frei erschaffenen Zauberspruch. Damit hast du bereits etwas erreicht, das die meisten Magier in ihrer gesamten Karriere nicht einmal versuchen.“

Hugh blinzelte, dann lächelte er zurück.

Leider tauchte genau in diesem Moment Talia im Büro auf und stolperte prompt über den Wälzer, den er hatte schweben lassen, sodass ihr eigener Bücherstapel zu Boden polterte.

„Welcher Idiot hat direkt im Eingang ein Buch liegen lassen? Soll sich vielleicht jemand den Hals brechen?“ Talia klang, als würde sie zu einer längeren Schimpftirade ansetzen. Hughs Lächeln wurde verlegen, und er stand auf, um Talia beim Einsammeln zu helfen.