Kapitel 27

„I bin ned sicher, ob die Idee wirklich a gute is“, sagte Godrick zum wiederholten Male. Trotz seiner beachtlichen Größe zeigte er von ihnen vier die schwächsten Nerven.

„Stimmt, aber dafür macht sie Spaß!“, sagte Talia.

Hugh verdrehte die Augen. „Es wird schon nichts passieren, Godrick.“

Beim Durchstöbern des Archivs hatte Hugh etwas Interessantes entdeckt: eine Tür, die zu den tieferen Ebenen der Bibliothek führte ... entschieden tiefer als die Etagen, die Alustin ihnen erlaubt hatte. Hier lag der Sperrbereich, den Schüler nicht betreten durften. Wobei die Tür selbst eigentlich nichts Besonderes war, denn im Archiv gab es verschiedenste Zugänge zu den tieferen Ebenen. Interessant wurde sie dadurch, dass sie vom Bibliothekspersonal offenbar vergessen worden war. Niemand hatte ihre Schutzzauber instand gehalten und sie waren allmählich erodiert.

Vermutlich hatte es damit zu tun, dass sich die Tür in einem verstaubten Bereich des Archivs befand, ganz hinten in einem Lagerraum, wo sich die Bücher bis zur Decke stapelten, dessen Eingang halb hinter einem weiteren Regal verborgen war. Die Freunde mussten tatsächlich erst über Kisten voller alter Lehrbücher und Ähnlichem klettern, um dorthin zu gelangen. Eigentlich war auch Hugh überrascht, dass er den Zugang gefunden hatte, selbst bei den vielen Stunden, die er durchs Archiv gestreift war. Er hatte einfach auf sein Bauchgefühl gehört.

Bei all der Zeit, die er mit dem Studium von Schutzzaubern zubrachte, war es kein Wunder, dass er nebenbei auch eine Menge über ihre Deaktivierung gelernt hatte. Im Nachhinein war ihm klar, dass Rhodes nicht viel gebraucht hatte, um durch die Abschirmung seines alten Zimmers zu kommen. Dazu hatte ein scharfes Messer gereicht, um das Schutzdiagramm zu zerschneiden, sowie ein simpler Kleinspruch zur Störung des Magieflusses. Die Arbeit eines Barrierebrechers war nicht annähernd so schwierig, wie ihre Lehrer am Anfang hatten durchblicken lassen.

Das galt zumindest für einfache Schutzzauber. Die Abschirmung an dieser Tür war von einem ganz anderen Kaliber. Hätte man sie nicht jahrzehntelang unbeachtet verwittern lassen, wäre Hugh nicht einmal auf die Idee gekommen, eine Deaktivierung zu versuchen. Die Spruchformeln waren verteufelt kompliziert und fortgeschrittener als alles, was er bisher selbst in Angriff genommen hatte. Während er für seine Zauber schlichte Malkreide benutzte, waren die Zeichen hier in ein Messingband eingraviert, das vor der Tür in den Boden eingelassen war. Die Abwehrmaßnahmen waren auch nicht zum einmaligen Gebrauch bestimmt wie seine, sondern bestanden aus mehreren übereinandergeschichteten Effekten … unter anderem einem körperlich spürbaren Schutzschild, der dauerhaft aktiv war.

Hugh übertrug sorgfältig die magischen Zeichen und Muster auf die ersten Seiten seines neuen Spruchbuchs, während die anderen zuschauten. Er fand diese Zeichnungen ziemlich passend, um sein Geschenk einzuweihen.

Bisher zeigten die anderen überraschende Geduld, saßen nur auf den Bücherstapeln im Lagerraum herum und warteten. Nun ja, es war nicht überraschend, dass Sabae geduldig sein konnte, aber Talia?

Hugh grinste in sich hinein. Auf den ersten Blick hatten die Schutzzauber so kompliziert ausgesehen, dass sie einem den Magen umdrehten, aber im Grunde funktionierten sie auch nicht anders als jede Barriere, die Hugh bisher entworfen hatte. Sie bestanden aus einer Serie von Spruchformeln, die miteinander verbunden waren. Jede davon bestimmte im Detail, wodurch die Abwehr ausgelöst wurde und welche Folgen sie für den Eindringling haben sollte. Hätte Hugh einfach nur versucht, die Zauber zu durchbrechen, wären sie sofort losgegangen.

Andererseits, wenn er behutsam vorging, konnte er die Schutzmagie so verändern, dass sie nicht mehr auf die vorgesehenen Auslöser reagierte.

Hugh warf einen letzten prüfenden Blick auf die Diagramme in seinem neuen Spruchbuch und zog ein Stück Malkreide aus der Tasche. Dann begann er vorsichtig, am Abwehrzauber der Tür zu arbeiten.

„Bist du sicher, dass die Zeichnung über das Messing hinausreichen sollte, Hugh?“, fragte Talia. „Das scheint mir keine gute Idee zu sein. Schutzzauber sind doch immer schnurgerade oder kreisförmig.“

Tja, das geduldige Warten hatte zumindest ein Weilchen angehalten.

„Schutzzauber müssen keine bestimmte Form haben, solange die Zeichenfolge nirgends unterbrochen ist“, erklärte Hugh. „Sie als gerade Linie oder Kreis zu zeichnen, ist eigentlich nur eine Frage der Tradition … und außerdem praktisch.“

„Eigentlich?“, wiederholte Godrick nervös.

„In manchen Fällen ist die Form wichtig, aber nicht in diesem“, sagte Hugh.

Talia wollte etwas erwidern, wurde jedoch von Sabae zum Schweigen gebracht, woraufhin sie ihr die Zunge herausstreckte.

Mit einem Kopfschütteln kehrte Hugh zu der Aufgabe zurück, dem ursprünglichen Schutzzauber weitere Zeichen hinzuzufügen. Im Grunde sollten sie als eine Umleitung dienen, um den Mana-Strom von den Symbolen wegzulenken, die Hugh und seine Freunde von der Tür abhielten. Die magische Barriere würde zwar weiterhin vorhanden sein, aber nicht mehr reagieren, wenn Schüler sie durchquerten. Natürlich wäre Hugh normalerweise gar nicht nah genug herangekommen, um diesen Trick anzuwenden. Das war nur möglich, weil der Schutzschirm schon im Vornherein geschwächt gewesen war.

Sehr, sehr behutsam fügte Hugh die letzte Verbindungslinie hinzu … und die Kreidestriche begannen zu glühen, als das Mana sie durchströmte. Das Licht wurde bald wieder schwächer, aber Hugh konnte spüren, dass die Magie weiter floss wie vorgesehen.

„Das war’s, wir können durch! Aber seht euch vor, dass ihr nicht auf die Kreidezeichen tretet, sonst wird die Umleitung unterbrochen“, sagte Hugh.

„Is des wirklich a sichere Sache?“, fragte Godrick.

„Vermutlich“, sagte Hugh.

„Vermutlich?“, sagte Godrick.

„Vermutlich“, sagte Hugh und öffnete die Tür.