Kapitel 30

Alustin hatte nicht gescherzt, als er ihnen befohlen hatte, sämtliche Todesopfer der Großen Bibliothek auswendig zu lernen.

 

Anna Kaltfunke: Stürzte zu Tode, als sie nicht auf den Trittsteinpfad achtete, dem sie hätte folgen müssen.

Unbekannter Magier #12: Wurde halb verhungert und tödlich dehydriert aufgefunden, als hätte er die Große Bibliothek seit Jahren durchwandert.

Helgrim der Korpulente: Von einem Schwarm Zauberbücher verspeist.

Durham der Grimmige: Verschwand ohne Spur. Zwei Jahre später wurde seine Biographie in der Bibliothek gefunden, mit einem Einband aus menschlichen Knochen und Seiten aus menschlicher Haut.

*

Hugh verzog das Gesicht und legte die Liste beiseite, um sich seinen anderen Übungsaufgaben zuzuwenden.

Alustin und Artur Mauerbrecher hatten entschieden, dass es sinnvoller sei, den Lehrlingen zwei Wochen vor der Labyrinthprüfung nicht noch zusätzliche Zaubersprüche beizubringen. Stattdessen sollten sie sich auf drei Dinge konzentrieren: bereits vorhandene Fähigkeiten zu üben, mehr über das Labyrinth herauszufinden … und natürlich die Liste mit Todesopfern der Großen Bibliothek auswendig zu lernen. Zum Glück hatten die ersten beiden Punkte eindeutig Vorrang.

Leider erwarteten ihre Meister trotzdem, dass sie sich zumindest einen Teil der Liste eingeprägt hatten.

Der Lesestoff über das Labyrinth war tatsächlich weniger verstörend als der über die Bibliothek. Es konnte ebenfalls extrem gefährlich sein, doch das galt selten für die oberste Ebene. Zuweilen konnte es vorkommen, dass Schüler bei der Prüfung starben, aber das war eine Ausnahme – und geschah zum allergrößten Teil deshalb, weil sie so dumm gewesen waren, sich in eine der Ebenen weiter unten zu wagen. So vereinzelt diese Todesfälle auch waren, hatten sie doch dazu geführt, dass Schüler das Labyrinth inzwischen nur noch in Gruppen durchqueren durften.

Leider konnten sie ihre Route nicht schon vorher planen. Genau wie die gefährlichen Ebenen der Tiefe konnte auch die oberste ihre Form verändern. Niemand hatte je beobachtet, wie es geschah, aber dafür war das Ergebnis unübersehbar.

Immerhin gab es zwischen den verschiedenen Versionen in der Regel ein paar Gemeinsamkeiten: Die oberste Ebene hatte eine vage Kreisform, an deren Außenrand sich mehrere Eingänge befanden. Die Mitte bildete ein großer runder Saal mit einer Treppe, die immer der Hauptzugang zum unteren Labyrinth war, obwohl ab und zu noch andere Treppen auftauchten.

Im Mittelsaal würde eine Gruppe Vollmagier warten, um die Schüler in Empfang zu nehmen, und zwar aus drei Gründen: Erstens händigten sie allen, die es bis zu ihnen geschafft hatten, eine Symbolmünze als Beweis aus, zweitens hielten sie Schüler davon ab, in tiefere Ebenen hinabzusteigen und drittens hielten sie wiederum besonders gefährliche Ungeheuer davon ab, in die erste Etage hinauf zusteigen. Die Aufgabe der Schüler bestand ganz einfach darin, den Mittelsaal zu erreichen, sich eine Symbolmünze pro Person abzuholen und das Labyrinth durch einen beliebigen Ausgang wieder zu verlassen.

Natürlich war es in Wirklichkeit alles andere als einfach. Abgesehen von den äußerst verzwickten Irrwegen im Labyrinth hatte selbst die oberste Ebene mehr als genug Fallen und Ungeheuer zu bieten. Normalerweise nichts, was einen vernünftig ausgebildeten Zauberlehrling überfordern würde, dennoch gab es jedes Jahr genug, die bei der Prüfung versagten.

Deshalb verbrachten Hugh und die anderen nun jeden Tag mehrere Stunden damit, Augenzeugenberichte und Ratgeber zur obersten Ebene zu studieren, um die verschiedensten Kreaturen und Fallen kennenzulernen und eine Strategie zu planen.

Allerdings waren es die Lehrstunden, in denen sie ihre magischen Fähigkeiten ausfeilen sollten, die sich als richtig hart herausstellten. Vorher hatten Alustin und Artur beim Unterricht nur grundlegende Kompetenz erwartet. Jetzt verlangten sie Perfektion bis zur Erschöpfung. Sabae sollte ihre Sturmhiebe jederzeit auf Abruf hervorbringen können, während sie gleichzeitig eine Windrüstung aus Arm- und Beinschienen manifestieren und mehrere Minuten am Stück aufrechterhalten musste. Von Talia wurde erwartet, dass ihre Traumfeuerblitze jedes Mal auf den Punkt genau trafen.

Und Hugh? Er sollte die ganzen simplen Kleinsprüche seines Repertoires sekundenschnell und fehlerlos abrufen können. Das war … bei seinem Lernstand nicht gerade eine große Herausforderung, aber Erleichterung empfand er deswegen keine. Offen gesagt führte sein Mangel an Vollbindungen dazu, dass er ohne Hexerpakt bei Weitem das schwächste Mitglied ihrer Truppe war. Zwar kam er mit seinem großen Mana-Reservoir auch nie in die Gefahr, dass ihm für Kleinsprüche die magische Energie ausging, aber solche simplen Zauber hatten nun einmal ihre Grenzen.

Vermutlich würde sein Projekt ein bisschen helfen, trotzdem machte Hugh sich immer noch große Sorgen, dass er für seine Freunde ein Klotz am Bein sein würde. Nicht genug damit, dass sich die Gruppe mit einem wenig schlagkräftigen Kämpfer begnügen musste, vermutlich würden die anderen ihre Zeit damit vergeuden müssen, ihn zu beschützen.

Als er Alustin seine Bedenken vortrug, sagte sein Meister nur, „er solle sich und seinen Freunden mehr vertrauen.“

Seinen Freunden vertraute er durchaus. Mit sich selbst hatte er Schwierigkeiten.