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Samstag, 27. November

Ich kann es nicht länger aufschieben, Rob anzurufen. Wenn er nach Hause kommt und sieht, dass mein Auto nicht in der Auffahrt steht, wird er Fragen stellen; und ich will ihm alles selbst berichten, bevor meine Plaudertasche von Tochter mich verpetzt.

»Er hat einfach gebremst, keine Ahnung, wieso«, sage ich. Meine Stimme bricht fast, was echt ist, da ich kurz davorstehe, in Tränen auszubrechen. Während der Taxifahrt konnte ich mich zusammenreißen. Aber nachdem ich die Kinder mit einem Snack versorgt hatte, setzte ich mich an die Kücheninsel, legte den Kopf auf die kalte Marmorplatte und versuchte, meine Gedanken davon abzuhalten, sich zu überstürzen und gegeneinanderzukrachen. Dennoch wollte ich nicht weinen … bis ich Robs Stimme hörte. Ich weiß nicht genau, ob ich wegen des Unfalls weine, wegen der Nachrichten oder über den Tod von jemandem, den ich vor zwanzig Jahren gekannt habe. Vielleicht alles zusammen.

»Hey, keine Sorge, die Versicherung regelt das schon.« Wie immer hat Rob einen beschwichtigenden Tonfall angeschlagen. Während ich in unserer Beziehung das Feuer bin, ist er das Eis – immer bereit, mich zu beruhigen, wenn ich aufbrause und mal wieder an die Decke gehe. Er hätte garantiert nie zugelassen, dass ich jemanden den Lack zerkratze, weil er mir einen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat.

»Aber ich bin schuld, oder? Selbst wenn er unvermittelt gebremst hat … Es ist mein Fehler gewesen, dass ich ihm hinten reingefahren bin. Ich bin so eine Idiotin.«

»Hör auf damit, Lollypop.« Wenn er mich so nennt, komme ich mir vor wie ein Kind, und doch hat sein Kosename mir immer gefallen. Jetzt mehr denn je. Wenn er mich so nennt, fühle ich mich geborgen, geliebt – so, wie ich mich als Kind nie geliebt gefühlt habe. »Dafür ist die Kfz-Versicherung da. Weil Unfälle nun mal passieren. Sogar dir, Mrs Unzerstörbar. Geht es den Kindern gut?«

Auch das liebe ich an Rob, obwohl ich ihm das nie sagen könnte, weil es sich anhören würde, als wäre er ein furchtbarer Vater. Er stellt mich an die erste Stelle. Er liebt die Kinder, das kann jeder sehen, und er ist ein perfekter Vater – genau die Art Vater, die ich mir ausgesucht hätte, gäbe es hierbei eine Wahlmöglichkeit. Er spielt mit ihnen, bringt ihnen alles Mögliche bei, unternimmt viel mit ihnen. Er ist wahnsinnig geduldig, sehr viel mehr als ich. Aber trotzdem vermittelt er mir immer das Gefühl, dass ich für ihn an erster Stelle stehe. Ich weiß, dass ich ihm nicht das gleiche schöne Gefühl vermitteln kann; für mich kommen ganz klar die Kinder zuerst. Ohne zu zögern, würde ich mein Leben für sie geben – oder das meines Mannes. Rob hingegen würde unsere zwei Kinder gewiss mit seinem Leben verteidigen, doch ich weiß nicht genau, ob er auch mein Leben für das der beiden opfern würde. Keiner hat mich jemals so hoch geschätzt wie er. Und mit alldem wird es vorbei sein, wenn er die Wahrheit herausfindet und erfährt, was ich getan habe.

Ich hole tief Luft und nicke, obwohl ich weiß, dass er mich nicht sehen kann. Meine Augen stehen immer noch voller Tränen. »Den Kindern geht’s gut. Faye ist in ihrem Zimmer und kommandiert ihre Barbie-Puppen herum – ich glaube, sie tut so, als wäre sie eine Fitnesstrainerin. Und George guckt PAW Patrol: Helfer auf vier Pfoten im Wohnzimmer vorne.«

»Siehst du? Alles bestens. Hast du Schmerzen im Nacken? Ein Schleudertrauma womöglich? Hast du dir den Kopf gestoßen?«

»Nein, ich bin relativ langsam gefahren. Niemand wurde verletzt.«

»Na also. Alles gut.«

Was ich wirklich brauche, damit alles gut wird, sind Informationen. Wenn ich die habe, werde ich mich nicht mehr so ausgeliefert fühlen – und dann kann ich einen Plan detailliert ausarbeiten. Ist es zu früh dafür, Pläne zu machen? In diesem frühen Stadium an Flucht zu denken? Menschliche Überreste gefunden.

Nein. Diese Suchanfrage bei Google vorhin ist dumm von mir gewesen. Und mein Laptop kommt für so etwas nicht infrage; das darf auf keinen Fall in meinem Browser-Verlauf auftauchen. Ich werde ein Prepaidhandy brauchen, wenn ich mich auf dem neuesten Stand halten will. Die kanadischen Behörden sind zuständig, und ich werde Push-Benachrichtigungen für Eilmeldungen bei allen Zeitungen aus Vancouver aktivieren müssen. Ich kann fast spüren, wie meine Panik abebbt, während ich eine Liste von Dingen erstelle, die ich unternehmen kann, damit ich weiterhin alles unter Kontrolle habe.

Ich schnappe mir meine Handtasche und die Schlüssel, die auf der Arbeitsplatte liegen.

»Kinder!«, rufe ich im Wissen, dass sie meine Rufe zunächst ignorieren werden. »Faye! George!«

Ich stelle mich unten an die Treppe. »Faye Johnson! Hol deinen Bruder, wir müssen noch mal weg!«

Sie erscheint am obersten Treppenabsatz. »Wir sind doch eben erst nach Hause gekommen! Ich spiele gerade mit meinen Puppen. Außerdem hast du das Auto geschrottet.«

»Wir fahren mit dem Bus. Du fährst doch gerne Bus.«

Allein bei dem Gedanken, die Kinder an einem Samstagnachmittag in den Bus zu verfrachten, bekomme ich Kopfschmerzen, doch das Bedürfnis, mir irgendeine Art Kontrolle über die Situation zurückzuerobern, ist zu stark. Ich will nicht den ganzen Nachmittag die Versuchung unterdrücken müssen, nach belastenden Informationen auf meinem Smartphone zu googeln. Auf keinen Fall werde ich herumsitzen und zulassen, dass mein Leben zum zweiten Mal ruiniert wird.

In raschem Tempo gehen wir zur Bushaltestelle am Ende der Straße. Ich halte Georges kleine, pummelige Hand, und Faye, die sich langsamer bewegt, bleibt ein wenig zurück. Hoffentlich sieht uns niemand, während wir auf den Bus warten, und erkundigt sich, wo denn mein Auto ist. Das Lügen wäre kein Problem für mich, aber leider haben Rob und ich Kinder, die das ganz anders sehen. Faye würde mich ohne Zögern verpfeifen. Auch wenn es vermutlich nicht die geringste Rolle spielt, so vermute ich doch, dass die Nachricht aus dem Radio bereits angefangen hat, in mir zu arbeiten: Sie schottet mich von meinen Mitmenschen ab und löst in mir den Wunsch aus, mich zusammen mit meiner kleinen Familie in einen sicheren Kokon zurückzuziehen. Es hat begonnen, und ich muss die Lage unter Kontrolle bekommen, bevor die Polizei bei uns vor der Tür steht – oder, noch schlimmer, die Medien.

Niemand weiß, wo du bist , beruhige ich mich selbst. Niemand weiß, wer du bist. Du warst gründlich, du hast deine Spuren gut verwischt. Man hat dich zwanzig Jahre lang in Ruhe gelassen. Es wird schon werden.

Der Bus kommt ein paar Minuten später. Während ich voller Übereifer die Kinder hineinschiebe und mich begeistert darüber auslasse, wie toll Busfahren ist und was für ein Spaß das sein wird, entspanne ich mich unwillkürlich ein wenig. Die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln – egal wie kurz die Entfernung auch sein mag – hat mich immer schon lockerer werden lassen. Wenn ich im Bus, im Zug oder im Flieger bin, bleibt die Zeit stehen. Es gibt nichts, das ich tun könnte. Es ist wie freie Zeit, bei der das Transportmittel alle Arbeit für mich erledigt. Wenn ich allein unterwegs bin, kann ich ein Buch lesen oder die Augen schließen und mal durchatmen. Wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin, betrachte ich sie einfach und weiß wieder zu schätzen, wie wunderbar es ist, dass ich sie habe. Faye ist wie eine Miniaturausgabe von mir: eigensinnig, stur, bestimmend. Hat selbstverständlich immer recht. George ist mehr wie sein Vater: entspannt, zufrieden damit, dort hinzugehen, wo man ihn hinbringt. Aber so unglaublich liebevoll. Oft legt er sein Gesicht an meines, schaut mir tief in die Augen und verkündet: »Ich hab dich mehr lieb als die Welt.« Er streichelt meine Hand, wenn wir zusammen fernsehen, oder dreht eine meiner Haarsträhnen um einen Finger. Jetzt teilt er sich mit seiner großen Schwester einen Sitzplatz und winkt den Leuten draußen zu. Was soll aus den Kindern werden, wenn man mich verhaftet? Wie soll Rob damit fertigwerden? Wen wird George mehr lieben als die Welt? Der Gedanke ist mir nicht neu, natürlich, doch vor dem heutigen Tag war es nur eine flüchtige Überlegung, die sich leicht wegschieben ließ – so wie jede Mutter sich sorgt, was ohne sie aus ihren Kinder werden soll. Aber jetzt … Noch nie war diese Befürchtung so dicht daran, zur Realität zu werden.

Menschliche Überreste gefunden.

Ganz plötzlich ist meine Zukunft ungewiss, und wenn die Wahrheit herauskommt, sind all meine Pläne bedeutungslos. Wie lange wird es dauern, bis man die Identität der Leiche festgestellt hat? Wie lange wird es dauern, bis sie vor meiner Tür stehen?