Dienstag, 30. November
Die Sicherheitsexpertin heißt Sandra Baker. Ihr Transporter ist mattsilbern, und an der Seite klebt ein Werbebanner mit dem Bild einer Kameralinse in einem Auge. Vermutlich verfolgt die ganze Nachbarschaft, wie sie bei uns vorfährt. Ich werde Rob gar nicht anlügen müssen – binnen einer Woche werden alle hier in der Nähe Überwachungskameras haben. Es den Nachbarn gleichtun wollen und so. Als Sandra aussteigt, muss ich mich sehr bemühen, meine Überraschung zu verbergen. Sie ist klein, noch nicht mal eins sechzig, schätze ich, hat langes blondes Haar, eine Stupsnase und grüne Augen. Sie sieht aus wie eine Anwärterin auf den Titel der Miss World – ohne jedoch das Paillettengewand zu tragen. Und entspricht so gar nicht der Vorstellung, die ich mir von ihr gemacht habe.
Vermutlich hat sie schon sehr oft erlebt, dass ihre Kunden so dreinschauen wie ich jetzt, denn sie lacht. »Ich weiß, ich sehe nicht aus wie eine durchschnittliche Sicherheitsberaterin.«
»Tut mir leid«, entschuldige ich mich. Und ärgere mich über mich selbst, weil ich vorschnell geurteilt habe. »Sie müssen es ja so was von satthaben, dass die Leute das sagen.«
»Macht mir nichts aus«, entgegnet sie mit einem Achselzucken. »Es hat seine Vorteile, unterschätzt zu werden.«
Sie ist ganz mein Fall. Ich bin mein Leben lang unterschätzt worden.
»Ich habe mir Ihre Grundrisse angesehen«, fährt sie fort und inspiziert die Vorderfront des Hauses. »Und ich stimme Ihnen zu, was die besten Positionen für die Kameras angeht. Wir sollten in der Lage sein, das ganze Grundstück abzudecken, wenn Sie das wollen.«
»Und was ist mit unserem Auto, das auf der Straße steht?«, frage ich, denn mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass der Mercedes der eigentliche Grund dafür ist, weshalb Rob alldem zugestimmt hat. Was er eigentlich noch gar nicht getan hat, denn er weiß immer noch nicht, dass ich bereits aktiv geworden bin. Aber es wird mir leichterfallen, ihm alles zu erklären, wenn zumindest eine Kamera auf seinen geliebten Mercedes gerichtet ist.
»Sie müssen vorsichtig sein, wenn Sie etwas aufzeichnen, was außerhalb Ihres Grundstücks liegt«, warnt sie. »Datenschutz. Möglich ist es, aber Sie müssen mit einem Schild darauf hinweisen, und wenn Personen, die gefilmt wurden, das aufgenommene Material sehen wollen, müssen Sie es ihnen zeigen. Ich habe noch ein paar solcher Schilder im Transporter, wenn Sie wollen.«
Ich überlege. Ja, soll er doch wissen, dass er beobachtet wird. »Das wäre toll«, antworte ich. »Also schön, legen wir los. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein danke. Wenn ich morgens zu viel Kaffee trinke, muss ich ständig die Leiter runtersteigen, um aufs Klo zu gehen. Ich mach dann mal weiter.«
Die restlichen Zweifel, die ich vielleicht aufgrund ihres Model-Aussehens gehegt habe, verschwinden, als ich sehe, wie gekonnt sie die Leiter aufstellt – so gut wie jeder Mann, und zweifellos besser als mein eigener. Rob wird schon schwindelig, wenn er auf einen Tritt steigen und eine Glühbirne wechseln muss. Und als ich zuschaue, wie Sandra die Leiter erklimmt wie Spider-Woman, bin ich froh, dass ich mir Hilfe von außen geholt habe.
Ich gehe ins Haus und versuche, ein bisschen Bürokram zu erledigen. Eigentlich sollte ich im Atelier sein und den Fotorahmen, den ich entsorgen musste, durch einen neuen ersetzen; aber ich bin nicht in der Lage gewesen, das Atelier zu betreten, seit ich gestern den Einbruch entdeckt habe. Es fühlt sich jetzt irgendwie anders an, im Atelier zu sein, nicht mehr so sicher. Und nach dieser Busgeschichte mit Faye gestern Nachmittag bin ich völlig durch den Wind. Ich lag die ganze Nacht wach und spielte immer wieder in Gedanken durch, was alles hätte passieren können, wenn Rob nicht rechtzeitig an der Bushaltestelle eingetroffen wäre. Tamra hat sich heute Morgen, als ich die Kinder zur Schule brachte, zehntausendmal entschuldigt, was nur dazu geführt hat, dass ich mich noch mieser fühle. Sie kann nicht begreifen, wie das passieren konnte. Sie hat den Anruf nicht selbst entgegengenommen und kann sich die Sache nur so erklären, dass der Name des Kindes falsch verstanden wurde. Nur dass nach Schulschluss kein Kind übrig geblieben ist, das eigentlich in den Bus gesetzt hätte werden sollen.
»Und Rob ist ganz sicher, dass er nicht angerufen hat? Vielleicht ist es ihm ja einfach entfallen?«, fragte sie mit entschuldigender Miene. Es ist verständlich, dass sie eine Erklärung finden will, die die Schule von aller Schuld freispricht, aber die Wahrheit ist – fast hätten sie zugelassen, dass ein Kind … Gott, ich mag es nicht einmal denken. Aber die Schule muss dringend ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärfen. Nur dass ich nicht sagen kann, warum sie das tun sollten.
»Vielleicht sollte die Schule ein Passwort für Eltern einführen, die telefonisch mitteilen, dass sich ihre Pläne geändert haben«, schlug ich vor.
Tamra sah mich entsetzt an. »Mein Gott, Laura. Glaubst du, dass jemand angerufen hat, um Faye absichtlich in den Bus zu locken?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll, ehrlich gesagt«, log ich. »Und mir ist klar, dass in einer so kleinen Schule solche Dinge praktisch nie vorkommen. Bis sie es dann doch tun.«
Ich fühlte mich furchtbar, als ich sie mit diesen unheilschwangeren Worten stehen ließ. Aber wenn das dazu führt, dass sie in Zukunft zweimal nachfragt, bevor sie meine Tochter aus ihrer Obhut entlässt, soll es mir recht sein.
Ich hole mein Prepaidhandy hervor und gebe »Menschliche Überreste West Coast Trail« bei Google ein. Es gibt ein paar neue Artikel, aber in ihnen wird nur wiederholt, was am Wochenende bereits geschrieben wurde: die rechtsmedizinischen Untersuchungen laufen, es gibt keine neuen Informationen, die kanadische Polizei will sich noch nicht äußern.
Rastlos wandere ich wieder nach draußen, einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand, und schaue Sandra beim Ausmessen und Bohren zu. Als sie von der Leiter steigt, hat sie etwas in der Hand. Sie hält es mir hin. »Die andere Kamera habe ich abmontiert«, berichtet sie. »Die sollten Sie nicht mehr brauchen. Die Kameras, die ich gerade installiert habe, erledigen die Aufgabe genauso gut.«
Eine Sekunde lang habe ich keine Ahnung, wovon sie redet. Dann sehe ich die Kamera, die sie mir wie eine Gabe hinhält. Es war bereits eine Überwachungskamera auf unserem Dach!
»Die habe ich da nicht anbringen lassen«, sage ich, und Sandra runzelt die Stirn.
»Ihr Mann vielleicht? Männer sind in solchen Dingen immer so hilfreich. Wäre noch hilfreicher, wenn sie uns erzählen würden, was sie gemacht haben.«
Ich sollte ihr einfach zustimmen; damit wäre dieses Gespräch zu Ende. Aber ohne groß nachzudenken, sage ich: »Das würde er nie tun. Er ist nicht sehr gut in so was; er wüsste gar nicht, wie das geht.«
Sie mustert die Kamera. »Sie ist solarbetrieben. Kein schlechtes Gerät, aber nicht so gut wie die Kameras, die ich gerade angebracht habe.« Als sie wieder mich ansieht, schaut sie besorgt. »Wenn Sie das da nicht angebracht haben und Ihr Mann auch nicht, müssen Sie die Polizei rufen.«
»Das werde ich«, lüge ich. Dann kommt mir plötzlich ein Gedanke. »Könnte es noch mehr davon geben?«
Sie neigt den Kopf zur Seite. »Stecken Sie irgendwie in Schwierigkeiten? Wissen Sie, wer das war?«
Vielleicht liegt es daran, dass sie so nett zu mir ist, dass sie eine Frau ist – oder einfach daran, dass ich das Lügen satthabe. Jedenfalls platze ich mit der Wahrheit heraus, ohne auch nur einen kurzen Moment darüber nachzudenken. »Ja, ich glaube schon. Jemand, den ich mal kannte, ein Mann.«
Mehr ist nicht nötig, um in ihr den Gedanken zu erwecken, dass ich von einem irren Ex verfolgt werde. Ihr grimmiges Lächeln verrät mir, dass sie nachvollziehen kann, was ich durchmache. Sie nickt. »Ich bin ins Sicherheitsgeschäft eingestiegen, weil ich auch mal so jemanden kannte«, erklärt sie voller Mitgefühl. »Hören Sie, wie ich schon am Telefon sagte, ich habe heute keine weiteren Termine. Wie wär’s, wenn ich das Haus gründlich nach weiterem Überwachungsgerät absuche? Dann nenne ich Ihnen die Details, die Sie an die Polizei weitergeben können. Und ich gebe Ihnen die Nummer der Agentur, die mir bei meinem Problem geholfen hat. Wenn ich Ihre neuen Kameras und die Haustürkamera eingestellt habe, zeige ich Ihnen, wie man sie benutzt. Ich habe noch ein paar zusätzliche Taschenalarme im Transporter – nur damit Sie sich sicherer fühlen.«
»Vielen Dank!« Ich bin sowohl dankbar als auch beschämt. Sie nimmt an, dass es mir so ergeht wie einst ihr – dass ich das unschuldige Opfer eines übergriffigen Ex mit Kontrollwahn bin. Das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Aber ich brauche ihre Hilfe und habe kein Problem damit, zu lügen, um sie zu bekommen. Es geht hier darum, meine Familie zu beschützen. »Ich mache uns einen Kaffee, während Sie Ihre Arbeit fortsetzen.«
Als ich nach einer ganzen Weile den Kaffee einschenke, taucht Sandras Kopf vor dem Hintereingang auf. Ich schließe auf – ja, mittlerweile bin ich paranoid genug, die Küchentür zum Garten immer abgeschlossen zu halten – und lasse sie ins Haus. Sie hält eine weitere Kamera in der Hand.
»Die war hinten«, sagt sie. Ihre Miene zeigt, wie zornig sie das macht, aber ich bin wie betäubt. Daher kennt Mitchell also meinen Tagesablauf. Wie lange er mich wohl schon beobachtet? Tja, jetzt bist du an der Reihe , denke ich. Ich bin dir auf der Spur.
»Herrgott«, flüstere ich.
»Es ist beängstigend, zu was Menschen fähig sind«, meint sie kopfschüttelnd. »Ich habe Dinge gesehen, die wirklich kein gutes Licht auf den Zustand der Gattung Mensch werfen. Ehemänner spionieren ihre Frauen aus, Nachbarn versuchen sich wegen Parkstreitigkeiten gegenseitig zu überführen. Einmal hatte ich einen Kunden, der Kameras installiert haben wollte, weil er jeden Morgen, wenn er vor die Tür trat, menschliche Fäkalien auf dem Rasen vorfand. Jemand hat buchstäblich die Hosen runtergelassen und jede Nacht auf seinen Rasen gekackt. Er hatte drei Katzen und nahm an, die Nachbarn wollten sich revanchieren, weil die Tiere immer in ihrem Garten Exkremente hinterließen.«
»Hat er den Übeltäter erwischt?«
Sie grinst und nimmt einen Schluck Kaffee. »Klar doch. Es war seine Frau.«
Trotz allem, was bei mir gerade los ist, muss ich lachen. »Seine Frau?«
»Ja. Sie wollte die Katzen loswerden, also versuchte sie, es so aussehen zu lassen, als hätten die Nachbarn einen Exkrementekrieg gegen ihren Mann angezettelt. Jede Nacht, nachdem er eingeschlafen war, schlich sie sich raus, hob ihr Nachthemd und erleichterte sich auf dem Rasen. Sie war fünfundsiebzig. Manche Dinge vergisst man nicht wieder, das sag ich Ihnen.«
Wir lachen jetzt beide, aber als sie ihre Kaffeetasse hinstellt und mich ernst ansieht, weiß ich, was gleich kommen wird.
»Aber mal im Ernst, Laura, Sie müssen vorsichtig sein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal erlebt habe, dass jemand sich die Mühe gemacht hat, Kameras am Haus eines anderen anzubringen. Ist ja auch ein Risiko. Sie müssen zur Polizei gehen und ihr von diesem Mann erzählen. Das geht weit über irgendeinen kleinlichen Groll hinaus.«
»Das werde ich«, verspreche ich. »Ich kümmere mich darum.«
Sie trinkt ihren Kaffee aus, nennt mir Machart und Modell der Kameras, die sie entdeckt hat, und erklärt mir, was ich der Polizei sagen soll. Dann gibt sie mir eine Einführung in den Gebrauch der Kameras, die sie angebracht hat, und installiert eine App auf meinem Smartphone, die mir erlaubt, von überall auf die Bilder zuzugreifen. Die Türkamera hat einen Bewegungsmelder, der auch die Seitenpforte erfasst, und wenn jemand in unseren Garten eindringt, bekomme ich sofort eine Textnachricht. »Werden Sie zurechtkommen, bis Ihr Mann nach Hause kommt?«, fragt sie, als sie ihre Sachen einpackt.
»Ja«, versichere ich ihr. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, bevor Mitchell merkt, dass seine Kameras abmontiert wurden. Aber ich glaube nicht, dass er es riskieren wird, am helllichten Tag herzukommen. Außerdem bin ich noch nicht fertig. Ich habe noch einiges zu erledigen.