Mittwoch, 1. Dezember
Die Sache ist noch dadurch verschlimmert worden, dass Faye das Armband für ein Geschenk des Elfen hält – der ganz offensichtlich Sera heißt. Daher wollte sie es unbedingt anlegen, bevor sie zur Schule ging. Zuletzt habe ich dieses Armband vor zwanzig Jahren gesehen, und die Erinnerung daran lässt mich würgen. In der Nacht, an die ich möglichst nie denke und die ich bis vor Kurzem erfolgreich verdrängt habe. Die Nacht, in der ich zur Mörderin wurde.
Jetzt trägt meine Tochter das Armband um ihr Handgelenk, sodass ich es ständig vor Augen haben werde – so lange, bis sie es wieder vergisst und ich es »verlieren« kann.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Würde dieses Armband als Beweismittel gelten? Wie lange hat Mitchell es schon in seinem Besitz, und wie hat er es in die Finger bekommen? Wenn nicht vorher schon DNA -Spuren von mir dran waren, dann jetzt bestimmt – ich habe es heute Morgen sehr oft angefasst. Vielleicht rechnet Mitchell damit, dass ich es wegwerfe, damit er es aus meinem Hausmüll holen und zur Polizei bringen kann – mit meiner frischen DNA darauf. Na, da bin ich dir einen Schritt voraus , denke ich. Wenn es sein muss, wasche ich es mit einem scharfen Putzmittel und werfe es in den Fluss. Der Scheißkerl wird keine einzige meiner Hautzellen in die Finger kriegen.
Und was ist mit dem Rest des Hausmülls? Sollte ich da vorsichtiger sein? Ich könnte die Müllbeutel zur Recyclinganlage fahren, anstatt sie in die Hausmülltonne zu werfen. Oder wäre das absurd? Ist es das, was er vorhat? Will er mich in den Wahnsinn treiben? Denn wenn das nicht verrückt ist – sich zu überlegen, ob man die Joghurtbecher gründlich reinigen soll, bevor man sie in den Müll wirft –, dann weiß ich es auch nicht.
Ich denke darüber nach, wie schnell ich Rob überreden könnte, von hier wegzuziehen; und das tue ich nicht zum ersten Mal, seit ich erfahren habe, dass Mitchell aus dem Gefängnis entlassen wurde. Immerhin kann ich überall arbeiten … Allerdings liebe ich mein Atelier und unser schönes Haus. Und die Kinder haben sich so gut in der Schule eingelebt … Was für ein Schlamassel!
Ich kann nicht den ganzen Tag zu Hause herumsitzen, die Straße im Auge behalten und mich fragen, ob Mitchell irgendwo da draußen ist und mich beobachtet, oder mir panisch überlegen, was er vorhaben könnte. Zur Schule fahren und da Wache halten kann ich auch nicht, wenn ich nicht will, dass man mich wegen merkwürdigen Verhaltens vor einer Grundschule meldet. In weniger als einem Monat ist Weihnachten, und ich habe noch keine Geschenke gekauft … Das scheint mir plötzlich eine gute Ablenkung zu sein.
Unter der Woche ist es im Stadtzentrum viel ruhiger, und ich verbringe ein paar angenehme Stunden damit, durch die Geschäfte zu streifen. Ich erwerbe Overalls für die Kinder, die neuesten Bände ihrer Lieblingsbuchreihen und ein Pandora-Armband sowie ein paar Anhänger für mich. Es wirkt vielleicht unromantisch, aber ich habe mir meine Weihnachtsgeschenke immer selbst gekauft. Ich stelle gern sicher, dass ich auch das bekomme, was ich mir wünsche, und die Freude des Geschenke-Einkaufens ist größer als jedes mögliche Überraschungselement. Ich habe Überraschungen noch nie sonderlich gemocht: Ich behalte gern die Kontrolle über alles. Als ich so viel gekauft habe, wie ich mit dem Bus nach Hause transportieren kann – mein Auto ist noch in der Werkstatt –, setze ich mich in eines der Cafés entlang der High Street, weil ich noch nicht nach Hause will, und gönne mir den Luxus eines heißen Kakaos mit Schlagsahne und Marshmallows. Ich beobachte gerade, wie die Schlagsahne im Kakao versinkt, als jemand fragt: »Laura?«
Ich blicke auf und sehe die Frau vom Samstag vor mir stehen – die Frau, die meiner Tochter das Leben gerettet hat. Sie ist beladen mit Einkaufstüten.
»Hallo«, sage ich leicht erstaunt. »Cally, stimmt’s?«
»Genau. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Sie anspreche; ich wollte bloß hören, wie es Faye geht.«
»Aber natürlich nicht! Und es geht ihr wieder gut. Möchten Sie sich setzen und auch etwas trinken? Oder sind Sie in Begleitung?« Ich schaue mich kurz um, woraufhin sie den Kopf schüttelt.
»Ich habe nur schnell ein paar Einkäufe erledigt«, antwortet sie. »Ich hole mir einen Kaffee und setze mich zu Ihnen, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Kann ich die hierlassen?« Sie deutet mit dem Kopf auf ihre Einkaufstüten. Ich nicke und schaue ihr nach, als sie zum Tresen geht und sich ihr Getränk bestellt. Sie hat denselben langen beigen Mantel an wie am Samstag, aber diesmal trägt sie eine rote Seidenbluse und einen schwarzen Bleistiftrock dazu. Sie sieht aus, als käme sie direkt aus dem Büro.
»Ich bin froh, dass Sie mich entdeckt haben«, sage ich, als sie zurückkommt und mit einem Caffè Latte mir gegenüber Platz nimmt. »Ich möchte Ihnen noch einmal danken. Ich glaube, Ihnen ist am Samstag gar nicht recht klargeworden, wie wichtig es war, was Sie getan hatten. Sie haben meiner Tochter das Leben gerettet, im buchstäblichen Sinne des Wortes.«
Ich habe sie in Verlegenheit gebracht, und sie schaut in ihren Kaffee. »Ich würde gern sagen, dass es nie bis zum Äußersten gekommen wäre, aber ich musste die ganze Nacht daran denken, wie leicht etwas Schlimmes hätte geschehen können. Man denkt ja immer, solche Dinge passieren anderswo, aber nicht in der Stadt, in der man lebt.«
»Das glauben alle gern«, stimme ich ihr zu. »Bis es ihnen dann selbst passiert. Der Gedanke daran, was alles hätte geschehen können, macht mich ganz krank. Danke übrigens, dass Sie so rasch der Polizei eine Täterbeschreibung gegeben haben.«
»Das war doch selbstverständlich. Nach meinem Arzttermin hatte ich eine Nachricht auf dem Handy, ich wurde gebeten, den zuständigen Sergeant anzurufen. Es klang, als würden sie die Sache ernst nehmen. Hat die Polizei den Kerl inzwischen schnappen können?«
»Nein.« Ich denke an Mitchell, wie er vor meinem Wohnzimmerfenster steht und am Rahmen einen Spielzeugelfen aufhängt. Und wie er Kameras auf meinem Dach anbringt. »Er läuft noch frei herum.«
»Erschreckender Gedanke. Wie geht Faye mittlerweile mit diesem Erlebnis um?«
»Ach, sie hat die Sache schon ganz vergessen.« Ich lächle. »Schließlich ist bald Weihnachten; das ist viel interessanter. Was ist mit Ihnen – haben Sie Kinder?«
»Nein.« Sie senkt wieder den Blick, und ich ärgere mich darüber, dass ich so unsensibel gewesen bin. Es ist eine dieser Fragen, die völlig unschuldig erscheinen, bis man sie einer Frau stellt, die keine Kinder bekommen kann; und dann ist es wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich habe wohl den Richtigen noch nicht getroffen. Ich dachte mal, ich hätte ihn getroffen. Aber Sie wissen bestimmt, wie solche Geschichten ablaufen.«
»Sie haben ja noch reichlich Zeit«, sage ich, aber sogar in meinen Ohren klingt diese Behauptung unaufrichtig. Cally muss ungefähr in meinem Alter sein, und ich werde nächstes Jahr einundvierzig. Frauen unseres Alters spüren den Druck sehr stark. »Kommen Sie gerade aus dem Büro?«
Bei meinem heutigen Glück beim Small Talk erwarte ich fast, dass sie mir mitteilt, sie sei gerade entlassen worden. Aber sie nickt.
»Ich habe mir einen halben Tag freigenommen, um Einkäufe zu erledigen. Ich arbeite für die Stadtverwaltung … in diesen neuen Gebäuden unten an der Straße, Sie wissen schon. Es ist zu weit weg, um in der Mittagspause schnell mal herzukommen, aber ich habe noch Überstunden abzufeiern.«
»Was machen Sie denn in der Stadtverwaltung?«, frage ich und nehme einen Schluck von meinem Kakao. Er ist immer noch zu heiß, und ich verbrenne mir die Zunge. Mist!
»Gehaltsbuchhaltung.« Sie verdreht die Augen. »Klingt langweilig, ich weiß. Was machen Sie denn so?«
»Ich habe ein eigenes Geschäft, ich entwerfe Geschenke«, antworte ich. »In dieser Jahreszeit mache ich eigentlich den meisten Umsatz, also sollte ich am besten pausenlos arbeiten. Doch nach dieser Sache mit Faye am Wochenende kann ich mich irgendwie nicht richtig konzentrieren. Ich habe Sorgen, um ehrlich zu sein.«
Es ist ein gutes Gefühl, zugeben zu können, dass ich es momentan schwer habe, auch wenn ich nicht ehrlich sagen kann, warum es so ist. Während wir weiterreden, hört Cally mir aufmerksam zu und macht mitfühlende Bemerkungen, und ich stelle fest, dass ich ihre Gesellschaft genieße. Es kommt mir vor, als würden wir einander schon ewig kennen. Es ist lange her, dass ich dieses Gefühl von Verbundenheit mit einer anderen Frau gespürt habe, und nach einer kleinen Weile duzen wir uns. Ich mag einige der anderen Schulmütter ganz gern, aber ich hatte immer so viel um die Ohren und habe so viele Einladungen abgelehnt, dass ich jetzt gar nicht mehr gefragt werde. Das war eine gewisse Erleichterung für mich – jeder, der jemals etwas wirklich Wichtiges zu verbergen hatte, wird wissen, dass sich irgendwann alles nur noch darum dreht, dieses Geheimnis vor anderen zu bewahren. Wenn ich mich mit Leuten anzufreunden beginne, fürchte ich immer, dass mir irgendwann etwas rausrutschen könnte. In den letzten zwanzig Jahren war Rob der einzige Mensch, den ich wirklich an mich herangelassen habe.
Als ich schließlich auf die Uhr schaue, ist es schon kurz nach zwei. »Oje, ich muss los und die Kinder abholen. Ich muss erst den Bus nehmen und mir dann ein Taxi rufen, um zur Schule zu fahren.« Ich habe ihr von dem Auffahrunfall erzählt, lediglich den Grund dafür habe ich verschwiegen. Sie nickt mitfühlend.
»Kann ich dich mitnehmen?«
»Nein, ist nicht nötig, ehrlich, vielen Dank.«
»Ich bestehe darauf. Es wartet sowieso niemand auf mich. Lass mich dir helfen.«
»Du bist sehr freundlich.« Ich lächle. »Wie mein Schutzengel.«