4. August 1999 – Maisie
»Wir haben gehofft, dass Ihnen doch noch etwas zu dem Mann eingefallen ist, der Seraphine tätlich angriff«, sagte die Polizistin. »Jetzt, nachdem Sie sich etwas von dem Schock erholen konnten.« Sie hob die Hand. »Ich weiß, Sie sagten, es war dunkel, und das verstehen wir. Aber Sie haben doch beobachtet, was mit ihr geschah – also haben Sie vielleicht auch mitbekommen, wie der Täter aussah?«
Maisie öffnete den Mund und wollte erwidern: Ich konnte nichts erkennen, das habe ich doch schon gesagt. Doch dann wurde ihr klar, dass das nicht reichen würde. Wenn sie nicht irgendeine Beschreibung lieferte, würde die Polizei ihr keine Ruhe lassen – und die Medien auch nicht. Wenn sie Ric beschrieb und er von der Polizei aufgegriffen wurde … Undenkbar, was er dann sagen würde, um es ihr heimzuzahlen.
»Er war groß«, antwortete sie schließlich und merkte selbst, wie schwach das klang. »Und dünn.«
»War er weiß?«, wollte Claire wissen. »Oder schwarz?«
»Weiß.« Vielleicht hätte sie sagen sollen, dass er schwarz gewesen war … damit wäre Ric aus dem Schneider gewesen. Aber jetzt war es zu spät. »Richtig blass erschien er mir«, fügte sie rasch hinzu und dachte an Rics gebräunten Teint.
»Was ist mit der Haarfarbe?«, fragte Claire in einem ermutigenden Tonfall; offenbar war sie froh darüber, dass Maisie ihnen endlich etwas gab. »Hatte er braunes Haar?«
»Nein, nicht braun«, antwortete sie und dachte an Rics hellbraune Mähne. »Aber blond auch nicht.« Sie seufzte, als ihr klar wurde, dass sie sich bei dem Versuch, auf keinen Fall Ric zu beschreiben, in Teufels Küche brachte. »Schwarz vielleicht.«
Derek Barnes und Claire tauschten einen Blick, und zu spät erkannte Maisie, dass sie möglicherweise das Falsche gesagt hatte. Der Raum erschien ihr nur noch halb so groß wie vorher: Ihr kam es so vor, als würden sich mit jeder Stunde, die verstrich, die hellgrauen, mit Raufaser tapezierten Wände dichter um sie schließen. Sie war müde, so furchtbar müde, und die Augen taten ihr weh; die grelle Neonbeleuchtung drohte eine furchtbare Migräne auszulösen. Seit etwa einer halben Stunde zuckte ein Nerv unter ihrem linken Auge. Sie hatte das Gefühl, allmählich bereit zu sein, einfach alles zu sagen, nur um hier rauszukommen und in ihr billiges, aber sicheres und Trost spendendes Hotelzimmer zurückkehren zu können.
»Sind Sie sicher?« Claires Augen blitzten vor angespannter Erwartung. Das war es, was sie hatten hören wollen; daran bestand kein Zweifel. Maisie sollte noch viele Jahre später bereuen, was sie dann tat, aber zu der Zeit hatte sie absolut keine Ahnung, was sie damit in Bewegung setzen würde.
»Ja«, bestätigte sie. »Ich bin mir jetzt sicher. Er hatte eindeutig schwarzes Haar.«
Die Polizisten wechselten wieder einen Blick, und dann beugte sich Derek langsam vor und schlug die Akte auf, die er vor sich liegen hatte. Maisie war ein bisschen erstaunt, dass der Aktendeckel überhaupt etwas enthielt – so lange hatte er zugeklappt auf dem Tisch gelegen. Sie war geschockt, als sie das Foto sah, das Derek herausholte und ihr zuschob.
»Erkennen Sie diesen Mann wieder?«, fragte er; seine Stimme klang fast so, als wollte er sie zu etwas überreden.
»Ja«, antwortete Maisie wahrheitsgemäß.
»Könnte das der Mann sein, der Seraphine angegriffen hat?«
»Nein«, erwiderte Maisie instinktiv. »Nein, das ist unmöglich. Er war wirklich nett zu uns … Er sah nicht so aus, als würde er … Nein, er kann es unmöglich gewesen sein.«
»Vergessen Sie, was Sie über ihn zu wissen glauben«, riet ihr Claire. Frustration hatte sich wieder in ihre Stimme geschlichen. »Konzentrieren Sie sich nur auf das, was Sie in dieser Nacht gesehen haben. Sie haben uns bereits gesagt, dass Mitchell Dyke sich lange mit Seraphine unterhielt und dass Sie sahen, wie beide zusammen den Zeltplatz verließen. Deshalb haben Sie ja nach ihr gesucht. Mehrere Camper haben gesehen, wie ein Mann, auf den die Beschreibung passt, zusammen mit einem jungen Mädchen zwischen den Bäumen verschwand.«
»Vielleicht ist ja jemand durch den Wald gekommen«, sagte Maisie. »Vielleicht hatte dieser Mann gar keine Zulassungsbescheinigung für den Trail.«
»Aber Sie haben Ihr Zelt an jenem Abend in der Nähe von Mitchells Gruppe aufgestellt, nicht wahr? Sie haben mit ihnen am Lagerfeuer gesessen und getrunken. Also wie wahrscheinlich ist es, dass ein anderer Mann, auf den die Beschreibung passt, sich heimlich auf den West Coast Trail geschmuggelt und Ihre Freundin umgebracht hat? Es sei denn …« Sie hielt inne und warf Derek einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Es sei denn was?« Maisie blickte zwischen den beiden hin und her. »Es sei denn was ?«
»Es sei denn, Sie lügen uns an, Maisie«, antwortete Claire ruhig. Die Migräne, deren Kommen Maisie geahnt hatte, brach über sie herein, der lähmende Schmerz breitete sich in Wellen aus. »Es sei denn, Sie haben Seraphine selbst etwas angetan und versuchen jetzt, es zu vertuschen.«
»Nein«, murmelte Maisie und vergrub das Gesicht in den Händen. Das lief alles verkehrt. Völlig verkehrt. Warum hatte sie überhaupt Alarm geschlagen? Warum hatte sie nicht einfach die Klappe gehalten und getan, was Ric ihr gesagt hatte? »Nein, nein, nein.«
»Also sagen Sie es uns, Maisie«, setzte Claire nach.
Maisie wünschte, man würde ihr eine kurze Pause gewähren, damit sie nachdenken konnte. Damit sie die Möglichkeit hatte, sich zu überlegen, was sie aussagen sollte, um in Ruhe gelassen zu werden. Damit man sie in den Flieger steigen und zu ihrem langweiligen, sicheren Leben zurückkehren ließ, wo nur von ihr erwartet wurde, dem Baby die Windeln zu wechseln und im Café zu arbeiten, Bacon-Sandwiches und bitteren Kaffee zu servieren. Hauptsache, sie musste nie wieder irgendwelche Polizisten aus der Nähe sehen. Hauptsache, sie wurde nie wieder bei einer Vernehmung »Maisie« genannt, was vorgeblich zum Ausdruck bringen sollte: »Wir wollen dir helfen, wir sind auf deiner Seite.« Doch jedes Mal, wenn die beiden hier »Maisie« sagten, hörte sie nur »schuldig, schuldig, schuldig«. Und sie wusste, wenn sie dem jetzt kein Ende machte, wenn sie nicht handelte und irgendetwas tat, würde sie das den Rest ihres Lebens zu hören bekommen – von der Polizei, vom Gericht, von den Zeitungen, von der ganzen Welt. Schuldig, schuldig, schuldig.
»Haben Sie uns eben angelogen?«, fuhr die Polizistin fort. »War es eine Lüge, dass ein Mann Seraphine tätlich angegriffen hat? Oder könnte der Mann, den Sie gesehen haben, der Mann auf diesem Foto sein?«
»Ja«, flüsterte sie. Tränen verschleierten ihre Sicht, und der Schmerz hämmerte in ihren Schläfen. »Ja.«
»Ja – was, Maisie?«, hakte Derek nach.
Jetzt klang seine Stimme hungrig. Wie ein Liebhaber, wenn er fragt, ob du es willst, ob du es wirklich willst.
»Ja, er war es«, sagte sie, und Tränen liefen ihr über die Wangen, und Lichtblitze zuckten in ihrem Gesichtsfeld. »Er war es. Er hat Seraphine umgebracht.«