12. August 1999 – Maisie
Es gab nichts, was sie noch tun konnte. Der Prozess gegen Mitchell Dyke würde frühestens in einem Jahr beginnen, und die Polizei wollte ihren Aufenthalt hier nicht länger finanzieren, also sollte sie nach Hause fliegen und wiederkommen, wenn sie als Zeugin vor Gericht aussagen musste. Sie waren im Schutz der Dunkelheit aufgebrochen. Derek hatte sie mitten in der Nacht in einem unauffälligen Fahrzeug zum Flughafen gebracht, damit die Presse ihr nicht auflauerte. Die Journalisten, die rasch herausgefunden hatten, wo sie abgestiegen war, gingen mittlerweile abends nach Hause, nachdem sie in der ersten Woche ihr Hotel rund um die Uhr belagert hatten. Doch nachdem ihnen klargeworden war, dass sie nicht mitten in der Nacht herumwanderte – und dass sie, selbst wenn sie so etwas täte, nicht bereit wäre, mit ihnen zu reden –, belästigten sie Maisie nur noch tagsüber.
»Passen Sie auf sich auf!«, sagte Derek zu ihr, als er ihren Rucksack aus dem Kofferraum holte. Allein der Anblick des Rucksacks ließ sie inzwischen schaudern. Sie konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen und jeden einzelnen Gegenstand darin zu verbrennen, einschließlich des Rucksacks selbst. Am liebsten hätte sie ihn einfach im Hotel gelassen, aber sie konnte nicht riskieren, dass jemand ihn fand und darin eventuell auf irgendwelche Beweise stieß, von denen sie nichts wusste. Vermutlich würde in Zukunft alles, was sie tat, von einem Schuss Paranoia begleitet sein. Derek reichte ihr zwei Zwanzig-Pfund-Noten. »Für einen Snack und das Taxi am Ankunftsort«, erklärte er. Er wirkte verlegen, und Maisie hatte den Verdacht, dass es sein eigenes Geld war und er es nicht als Spesen ersetzt bekommen würde.
Sie errötete. In den letzten Tagen war Derek sehr nett zu ihr gewesen. Anfangs hatte sie ihn gehasst, ihn und auch Claire. Doch sobald sie Mitchell als Täter identifiziert und sich damit selbst von der Liste der Verdächtigen gestrichen hatte, war der Polizist umgänglicher geworden, sogar freundlich.
»Danke«, sagte sie, und ihre Fingerspitzen streiften einander, als sie das Geld entgegennahm. Seine Finger fühlten sich rau an. Sie dachte an Rics leichte Berührungen, seine geschmeidigen Hände, und ein Gefühl tiefen Bedauerns überkam sie. Derek schien ihren Gesichtsausdruck auf sich zu beziehen; offenbar befürchtete er, ihre Zuneigung gelte ihm oder sie begehre ihn sogar, denn er riss seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, und räusperte sich. Maisie hätte fast gelacht, so absurd war das alles. Ihre allererste Reise – und sie wurde von einem kanadischen Polizisten zum Flughafen gebracht. Das alles kam ihr immer noch unwirklich vor, so als würde es ihr gar nicht passieren.
»Denken Sie daran, was die Staatsanwaltschaft Ihnen gesagt hat?«
Maisie seufzte. »Sagen Sie nichts, was das Verfahren gefährden könnte. Sprechen Sie nicht mit dem Verteidiger des Angeklagten, auf jeden Fall nicht ohne Rücksprache mit uns. Teilen Sie uns jeden Wechsel Ihres Aufenthaltsorts mit, damit Sie bei Prozessbeginn als Zeugin vorgeladen werden können«, spulte sie die Anweisungen mit monotoner Stimme herunter.
»Perfekt«, lobte Derek und blickte auf seine Füße hinunter. Offenbar wusste er nicht, wie er das Gespräch beenden sollte. Alles schien so unwirklich. Sie waren nicht befreundet; erst hatte er sie verdächtigt, sogar direkt beschuldigt, aber später hatte er sich dann um sie gekümmert, sie beruhigt, ihr Mut zugesprochen. So deprimierend es ist , dachte sie, aber das hier könnte die am tiefsten gehende Beziehung sein, die ich je mit einem Mann hatte .
»Ich geh dann mal besser«, meinte sie schließlich und hievte sich den Rucksack auf den Rücken. Derek schien erleichtert darüber, dass sie nicht in Tränen ausbrach oder ihn umarmte. »Danke für alles! Besonders das hier.« Sie machte eine weit ausholende Geste. »Keine Journalisten in Sicht. Wie haben Sie es bloß geschafft?«
»Dafür können Sie sich bei Claire bedanken«, erwiderte er grinsend. »Sie hat an die Presse durchsichern lassen, dass Sie morgen um elf das Land verlassen werden.«
»Echt clever von ihr«, sagte Maisie. »Bis dann!«
Derek hob die Hand, und sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, als sie durch die Automatiktüren des Flughafens von Vancouver ging. Hatte er sie immer noch in Verdacht, etwas mit Seraphines Tod zu tun zu haben? Oder empfand er Mitleid mit ihr?
Der Flughafen war zu dieser Nachtzeit fast unheimlich ruhig, und als Maisie am großen dunklen Schaufenster eines geschlossenen Ladens vorbeiging, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Schon komisch , dachte sie. Vor mehr als zwei Wochen war sie das erste Mal in diesem Flughafen gewesen – eine rundliche, unscheinbare, unerfahrene Jungfrau mit weichen Gesichtszügen. Kein Wunder, dass Ric und Sera sie sofort als leicht zu manipulierendes Opfer gesehen hatten. Doch das hatte sich geändert – und dies während einer kurzen Zeitspanne von nur sechzehn Tagen. Die junge Frau, die ihr im Spiegel des Schaufensters entgegenblickte, war eine schlankere Version ihres früheren Ichs mit schärfer geschnittenen Zügen. Durch den ganzen Stress und die Übelkeit, die sie an den meisten Tagen überkam, hatte sie bestimmt mehr als fünf Kilo abgenommen. Die Rundlichkeit war verschwunden, ihr Körper war straffer geworden. Aber nicht nur ihre Figur hatte sich verändert. Sie konnte es nicht genau benennen, doch in ihrem Gesicht lag jetzt eine gewisse Härte, und ihr Blick hatte etwas Wissendes, Erfahrenes. Wenn Ric und Sera an jenem ersten Tag diese neue Version von Maisie Goodwin zu sehen bekommen hätten, wäre sie ihnen vielleicht nicht als ein so leichtes Opfer erschienen. In der Tat hatte sie ihnen viel zu verdanken, und zwar allen beiden. Denn von jetzt an würde sie nie wieder zulassen, dass jemand sie wie Dreck behandelte.
Sie wusste, dass das Glück sie verlassen hatte, als sie sich in die Schlange beim Check-in einreihte und merkte, wie ihre Mitreisenden flüsterten und sich gegenseitig anstießen. Als sie dann im Flieger saß, wurde sie ganz unverhohlen angestarrt. Ihre Sitznachbarin versuchte mindestens dreimal, mit einer Wegwerfkamera ein Foto von ihr zu machen – bis Maisie die Kapuze aufsetzte, sich eine Decke um die Schultern legte und sie so weit hochzog, dass sie ihr Gesicht verdeckte. Der neunstündige Flug erschien ihr viel länger als der auf ihrer Hinreise; wahrscheinlich lag es daran, dass sie Angst hatte einzuschlafen. Sie wollte nicht plötzlich aufwachen und feststellen, dass ihr jemand eine Kamera vors Gesicht gehalten hatte, während sie sabberte und schnarchte.
Als sie endlich in Birmingham landeten, verschwendete sie keine Zeit, war als eine der Ersten beim Ausgang und versuchte, möglichst schnell durch die Sicherheitskontrolle und zur Gepäckausgabe zu kommen. Seltsam , dachte sie, aber zum ersten Mal seit Beginn meines Leidenswegs wünsche ich mir, es wäre jemand da, um mich zu unterstützen . Sie wünschte sich, von ihrer Mutter oder ihrem Vater vom Flughafen abgeholt zu werden, so wie das bei normalen Teenagern der Fall war. Plötzlich wäre sie am liebsten gar nicht weitergegangen; sie wollte nicht wissen, was sie hinter den Absperrungen in der Ankunftshalle erwartete. Laut der kanadischen Polizei wusste niemand, dass sie diesen Flug genommen hatte, und doch war sie in keiner Weise überrascht über den Medienrummel, die zahlreichen Journalisten, die laut ihren Namen riefen, als sie durch die Zollkontrolle ging. Die Presse würde ein gestochen scharfes Foto ihres verhärmten, müden Gesichts bekommen.
Doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass die West Midlands Police über ihre Ankunft in Kenntnis gesetzt worden war – danke, Derek! – und bereits auf sie wartete.
»Ms Goodwin?« Ein bewaffneter Polizist trat auf sie zu.
Maisie zuckte instinktiv zurück. Du bist unschuldig , sagte sie zu sich selbst. Diese Polizisten sind hier, um dir zu helfen, nicht um dich festzunehmen.
»Ja?«
»Sie können mit uns kommen«, sagte der Polizist. Sie hatte keine Ahnung, wie er aussah, weil er eine vollständige taktische Ausrüstung trug: Helm mit Visier, klobige schusssichere Weste. Wahrscheinlich war die Flughafenpolizei immer so angezogen – entweder das, oder es gab in diesem Land eine ernsthafte Bedrohung für ihr Leben, von der sie nichts wusste.
»Bin ich in Gefahr?«, fragte sie, unfähig, den Blick von der Waffe abzuwenden, die er am Gürtel trug.
»Es gibt keine konkreten Morddrohungen gegen Sie«, antwortete er, und sie atmete erleichtert auf, bis sie seinen nächsten Satz hörte. »Aber Sie haben im Moment hohen Nachrichtenwert. Wäre vielleicht besser, wenn Sie für eine Weile abtauchten. Draußen wartet ein Wagen, der Sie nach Hause bringen wird.«
Maisie dachte an die Journalisten in Kanada, die ihren Namen schrien, sobald sie sie zu Gesicht bekamen, und ihr die furchtbarsten Fragen entgegenschleuderten. Haben Sie etwas mit Seraphines Verschwinden zu tun? Haben Sie Seraphine umgebracht, Maisie? Stimmt es, dass Sie mit dem Blut ihrer Freundin bedeckt waren? Haben Sie beide am Abend ihres Todes Drogen genommen? Sie dachte an die Frau im Eckladen, die ihr ins Gesicht gespuckt hatte, der warme Speichel war ihre Wange hinabgeglitten und auf ihr T-Shirt getropft. Sie dachte daran, wie es sein würde, ihren alten Freundinnen und Kollegen zu begegnen, ihrer Mutter, ihren Schwestern.
»Muss ich nach Hause fahren?«, fragte sie, denn plötzlich war ihr eine Idee gekommen.
Der Polizist zuckte die Achseln. »Sie stehen nicht unter Arrest. Wir sind nur hier, um Sie sicher vom Flughafen wegzubringen. Wo Sie hinfahren, ist Ihre Sache.«
Maisie nickte nachdenklich. »In dem Fall …«, sagte sie und dachte an die Cunninghams und ihre Tochter, die nach Aussage der Eltern ihr einziges Kind war und sich von der Familie entfremdet hatte, »möchte ich nach Yorkshire. Können Sie mich dorthin bringen?«