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Samstag, 4. Dezember

Als sie aus dem Schatten tritt, verspüre ich Erleichterung und bin überrascht, sie zu sehen. Ist sie mir etwa gefolgt?

»Tamra«, sage ich und lasse die Waffe leicht sinken. Was muss sie nur denken? Eine Mutter aus ihrer Schule richtet eine Pistole auf sie. Nur dass …

»Was hast du eben gesagt?« Verwirrung ergreift mich. »Wie hast du mich genannt?«

»Mörderin«, antwortet sie mit kalter Stimme. Und da ist der Hauch eines Akzents, den ich noch nie bei ihr gehört habe. Yorkshire vielleicht? »Denn das bist du doch, oder?«

»Sie war es«, verkündet Mitchell und deutet auf Tamra. Ich runzle die Stirn, woraufhin er mir erklärt: »Von ihr weiß ich, wo du lebst. Sie kam mich im Gefängnis besuchen, kurz vor meiner Entlassung, und sagte mir, dass du vermutlich noch am Leben bist.«

»Was tun Sie hier?«, will Kaz mit wutverzerrtem Gesicht von Tamra wissen. »Moment mal … Weiß Ihre Mutter, dass Sie hier sind?«

»Woher kennt ihr euch?« Verwirrt blicke ich zwischen Kaz und Tamra hin und her. Hat Kaz auch Kinder auf unserer Schule?

»Weißt du denn nicht, wer das ist?«, fragt Kaz mich.

»Ha! Natürlich weiß sie das nicht.« Tamra stößt ein bellendes Lachen aus. Sie deutet auf mich. »Warum sollte sie auch? Meine Mutter war Seraphine Cunningham völlig egal. Sie war ihr völlig egal, genau wie ihr beide. Sie ist untergetaucht, ohne auch nur einen Gedanken an euch zu verschwenden.«

»Nur dass es Ihre Mutter war, die gelogen hat.« Kaz’ Stimme ist voller Verachtung. Und ich weiß auch, warum. Mir wird klar, wer die Frau sein muss, die vor mir steht, und ich erkenne, wie weit sie gegangen ist, um sich in mein Leben einzuschleichen.

»Sie hatte keine andere Wahl.« Tamra zeigt abermals mit dem Finger auf mich. »Weil die da ihren eigenen Tod vorgetäuscht und es meiner Mutter überlassen hat, die Scherben aufzusammeln.«

»Ich verstehe nur nicht, warum das notwendigerweise mit einschloss, allen zu erzählen, Mitchell hätte Sera umgebracht«, sagt Kaz.

»Ich schon«, erkläre ich. »Maisie glaubte, sie hätte mich tatsächlich umgebracht. Und um sich selbst zu retten, hat sie Mitchell beschuldigt.«

Tamra Murray – Maisie Goodwins Tochter – lächelt mich an. Aber es ist nicht das warme, sonnige Lächeln, das ich von der netten Schulsekretärin kenne; es ist vielmehr kalt und berechnend.

»Hast du Faye überredet, mit dir zu kommen?« Sogleich schüttle ich den Kopf. »Nein, das war ja ein Mann, er wurde gesehen …«

»Tsss«, zischte Tamra abfällig. »Dieser Kerl ist ein Niemand. Bloß ein Mann, der sehr leicht zu manipulieren ist. Der nur zu gern bereit war, die Leidensgeschichte der armen Schulsekretärin, mit der er schläft, für bare Münze zu halten. Ich habe ihm erzählt, dass Faye meine Nichte ist und du mir jeden Kontakt mit ihr verweigerst, worunter ich sehr leiden würde. Er wird tun, was immer ich ihm auftrage.«

»Ich begreife nicht, warum Sie ihr das antun mussten«, hält Kaz ihr vor. »Und Ihre Mutter brauchte keine falschen Beschuldigungen gegen Mitch zu erheben.«

»Nicht zu fassen, dass Sie immer noch glauben, meine Mutter träfe mehr Schuld als die da«, faucht Tamra und tritt wutentbrannt einen Schritt auf mich zu. Ich richte die Pistole auf sie.

»Bleib, wo du bist!«

Sie lacht nur.

»Du hast mich gerade eine Mörderin genannt«, sage ich. »Warum?«

Tamra lehnt sich gegen den Türrahmen des Wandschranks. Sie wirkt viel zu unbesorgt für einen Menschen, auf den eine Waffe gerichtet ist. »Menschliche Überreste auf dem West Coast Trail entdeckt, Sera. Wessen Leiche das wohl sein mag? Was glaubst du?«

»Du weißt es.« Es ist eine Feststellung, keine Frage. Sie weiß Bescheid.

»Meine Mutter war mit einem jetzt pensionierten Angehörigen der kanadischen Polizei befreundet«, erzählt sie. »Sie hat ihm in einem ziemlich berühmten Mordfall geholfen.«

Mitchell stößt ein Knurren aus, tritt vor und will sich auf sie stürzen.

»Nicht«, sage ich. »Sie ist es nicht wert. Lass dich nicht von ihr aufstacheln.«

»Es war schnell klar, dass es das Skelett eines Mannes war, was man da gefunden hatte«, fährt sie fort. »Aber die Information sollte nicht sofort an die Öffentlichkeit gelangen; du weißt ja, wie die kanadische Polizei ist. Man wollte nicht, dass irgendeine Verbindung zum Mordfall Seraphine Cunningham hergestellt wird, denn dieser Fall wurde ja vor langer Zeit abgeschlossen. Aber meine Mutter wusste Bescheid.«

»Also wusste sie, dass es nicht meine Leiche war. Aber woher wusste sie, dass er es war?«

»Wer ist ›er‹?«, verlangte Kaz zu wissen. »Worüber redet ihr?«