Der junge LutherMit den Aktivitäten Martin Luthers (1483–1546)$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner begann die Reformation, eine BewegungBewegung(en) mit dem Ziel, die katholische Kirche zu erneuern. Sie führte schließlich zur Spaltung in eine evangelische und eine katholische Konfession. In der Schweiz wurde die Reformation von Huldrych Zwingli (1484–1531)$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator und Johannes Calvin (1509–1564)$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus angestoßen.
1505, als 23-Jähriger, brach Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner nach einer existentiellen Erfahrung bei einem Gewitter sein Jurastudium ab, trat in Erfurt in ein Kloster ein und wurde Mönch. Obwohl Luther sein Leben als Augustiner-Eremit sehr ernst nahm, quälte ihn die Sorge, vor dem richtenden und strafenden Gott der BibelBibel nicht bestehen zu können. Ihn trieb die Frage um, wie der sündige Mensch GnadeGnade bei Gott finden könne.
1510/11 reiste er im Auftrag seines Ordens nach Rom. Dort nahm er viele Missstände wahr und erste Zweifel an der römischen Kirche kamen bei ihm auf.
Ablasshandel – Kennzeichen der Kirche im frühen 16. JahrhundertDer zu der Zeit amtierende Papst war Julius II.$Julius II., Pontifikat 1503–1513, römisch-katholischer Papst (Pontifikat: 1503–1513), ein Papst mit militärischen Interessen und zugleich ein Förderer der Kunst. Unter seiner Ägide begann der Bau der Peterskirche in Rom. Zur Finanzierung schrieb Julius II. 1506 einen vollkommenen AblassAblass aus, der erstmals in der ganzen Christenheit verkündet werden sollte. Im Deutschen Reich wurde der Ablass seit 1515 durch Albrecht Kardinal von Brandenburg$Albrecht von Brandenburg, 1490–1545, römisch-katholischer Erzbischof von Brandenburg, Kurfürst von Mainz, römisch-katholischer Kardinal (1490–1545) umgesetzt. Der wiederum hatte vom Papst das Mainzer Erzbistum gekauft und dafür immense Schulden beim Bankhaus der Fugger aufgenommen. Die Abzahlung der Schulden erfolgte hauptsächlich über den eingetriebenen Ablass. Das Ablasswesen prosperierte in dieser Zeit enorm.
Der reformatorische DurchbruchMartin Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner wechselte 1511 nach Wittenberg, wo er 1512 zum Doktor der Theologie promoviert wurde und die Professur für Biblische Exegese übernahm. Seine Suche nach einem gnädigen Gott setzte sich hier fort. In der Zeit von etwa 1514 bis 1517 kam Luther die für ihn umwälzende und befreiende Erkenntnis, dass es sich bei dem gerechten Gott nicht um einen richtenden Gott handelt. Beim Durchdenken des Römerbriefs, speziell Röm 1,17: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ erkannte er, dass die Gerechtigkeit Gottes darin besteht, dass der Mensch durch Christus gerechtfertigt, d.h. vor Gott gerecht, ist. Allein der Glaube an Jesus ChristusJesus Christus als den Retter und Erlöser macht vor Gott gerecht. Die im wahrsten Sinne des Wortes „Recht-Fertigung“ des Menschen kann allein durch die GnadeGnade Gottes geschehen. Dieser sogenannte reformatorische Durchbruch, der historisch nicht genau datierbar ist, veränderte die gesamte Theologie Luthers. Er war für den weiteren Verlauf der Kirchengeschichte umwälzend und führte Luther in Opposition zu seiner römischen Kirche. Nach Röm 3,28: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch Glauben“ sah er schon bald, dass für die RechtfertigungRechtfertigung / Rechtfertigungslehre keine Werke, keine guten Taten und nicht das Einhalten von Gesetzen nötig sind. Um dem Höllenfeuer zu entkommen, bedarf es allein des Glaubens an die Barmherzigkeit Gottes, an die Gnade Gottes.
Luthers Kritik des AblasswesensIn Wittenberg kam der Theologieprofessor auch wieder mit dem Ablasswesen in Berührung: Der Subkommissar für den Ablasshandel im Bistum Magdeburg, Johann Tetzel$Tetzel, Johann, um 1460–1519, Dominikanermönch, Ablassprediger (um 1460–1519), wirkte im nahe gelegenen Jüterborg, wohin zahlreiche Wittenberger Bürger reisten, um bei ihm Ablassbriefe zu kaufen, sehr zum Ärger Luthers. 1517 verfasste er ein Protestschreiben an Albrecht Kardinal von Brandenburg$Albrecht von Brandenburg, 1490–1545, römisch-katholischer Erzbischof von Brandenburg, Kurfürst von Mainz, römisch-katholischer Kardinal, der als ErzbischofBischofErzbischof von Mainz und Magdeburg in Halle residierte. Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner forderte eine Stellungnahme zu der verheerenden Ablasspraxis und legte seinem Schreiben 95 Thesen bei, die er möglicherweise auch am 31. Oktober 1517 zum Zweck einer Disputation mit Gelehrten in Wittenberg an die Tür der Schlosskirche anschlagen ließ.
In den Ablassthesen wandte sich Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner mit deutlichen Worten gegen die Ablasspraxis, die lediglich den steigenden Einnahmen der Kirche, aber nicht der Vergebung der Sünden und der Gewinnung des Heils diene. Niemand könne Vergebung ohne Reue erhalten, aber wer wirklich bereue, habe auch Anspruch auf Vergebung, ohne Geld dafür zu bezahlen. Hier kam Luthers Theologie, die er später vertiefte und ausbaute, an einem konkreten Beispiel, dem Ablasswesen, zum Ausdruck und ist in den Grundzügen zu erkennen: Niemand kann sein Heil erarbeiten. Die GnadeGnade, den Menschen zu erretten, geht nur von Gott aus.
Unter dem Schutz Friedrichs III.Die Thesen Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner sorgten für Aufsehen und wurden rasch verbreitet. Albrecht von Brandenburg$Albrecht von Brandenburg, 1490–1545, römisch-katholischer Erzbischof von Brandenburg, Kurfürst von Mainz, römisch-katholischer Kardinal antwortete nicht darauf, sondern leitete sie nach Rom weiter, wo rasch der Verdacht aufkam, man habe es mit einem Ketzer zu tun. Luther wurde vorgeladen. Mithilfe des Kurfürsten von Sachsen und Gründers der Universität, an der Luther dozierte, Friedrich III., auch Friedrich der Weise, von Sachsen (1463–1525), konnte eine Anhörung auf deutschem Gebiet erwirkt werden. Der sächsische Kurfürst warf von nun an seinen politischen Einfluss, seine Macht als Kurfürst und seine strategische Klugheit für seinen Schützling Luther in die Waagschale. Ohne seinen Schutz in der wechselhaften Politik der Zeit hätte Luther die Reformation nicht vorantreiben können.
Luther und Cajetan$Cajetan, Thomas, 1469–1534, dominikanischer Ordensgeneral, römisch-katholischer Kardinal, Melanchthon$Melanchthon, Philipp, 1497–1560, evangelischer Theologe, Reformator, die Leipziger DisputationDie Anhörung vor dem päpstlichen Legaten Kardinal Cajetan$Cajetan, Thomas, 1469–1534, dominikanischer Ordensgeneral, römisch-katholischer Kardinal (1469–1534) fand 1518 in Augsburg statt. Auf die Aufforderung seine Thesen zu widerrufen weigerte sich Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner, es sei denn, er würde durch die BibelBibel widerlegt.
In Wittenberg sammelte Luther Professoren und Freunde um sich, die sich seinen Ideen anschlossen. Zu ihnen gehörte der Gräzist Philipp Melanchthon$Melanchthon, Philipp, 1497–1560, evangelischer Theologe, Reformator (1497–1560), der, von der Strömung des HumanismusHumanismus geprägt, noch eine wesentliche Rolle für die Reformation spielen sollte.
1519 kam es in Leipzig zu einer Disputation zwischen dem Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck (1486–1543)$Eck, Johannes, 1486–1543, römisch-katholischer Theologe und führenden Vertretern der Reformation, bei der Eck erste reformatorische Äußerungen Luthers provozierte. Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner sagte u.a. aus, dass der Papst de iure erst seit 400 Jahren Oberhaupt der Christenheit sei und dass sich auch KonzileKonzil / Konziliarismus irren könnten und der Heiligen Schrift unterzuordnen seien.
Verhängung des Kirchenbanns über LutherDamit hatte sich Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner als Häretiker offenbart. Die Kirche erklärte ihn zum Ketzer. Das geschah im Juni 1520 mit der päpstlichen Bannbulle Leos X.$Leo X., Pontifikat 1513–1521, römisch-katholischer Papst (Pontifikat: 1513–1521) „Exsurge Domine“. In ihr wurde Luthers Lehre verdammt und ihm eine Frist von 60 Tagen zum Widerruf gesetzt, ansonsten drohte ihm die ExkommunikationExkommunikation. Im Dezember 1520 verbrannte Luther die Bannbulle öffentlich.
Die drei reformatorischen HauptschriftenDas Jahr 1520 war für Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner und für die Reformation ein bedeutendes Jahr. Er wurde nicht nur zum Häretiker abgestempelt und das Scheitern seiner Reform der katholischen Kirche wurde immer deutlicher. Luther selbst ging nun zum theologischen Gegenangriff über. Drei Schriften entstanden 1520, die sogenannten reformatorischen Hauptschriften. Mit ihnen und ihrem raschen und zahlreichen Druck und der weiten Verbreitung begann der Sturm der Reformation.
„An den christlichen Adel deutscher Nation“In der ersten der drei Schriften „An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung“ appellierte Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner an den Adel, d.h. die Obrigkeit, Verantwortung für des christlichen Standes Besserung zu übernehmen. Er stimmte auf ganzer Linie in die zeitgenössische Kritik an der katholischen Kirche ein. Im zweiten Teil der Schrift bezeichnete Luther den Papst offen als „Antichrist“. Am Bild von drei Mauern, die das PapsttumPapsttum errichtet habe, erläuterte Luther, wie Reformen in der Kirche bisher verhindert wurden. In seinen Forderungen, die u.a. die Abschaffung des ZölibatsZölibat und eine stärkere Schriftorientierung im Theologiestudium betrafen, wurde er sehr konkret. Die Schrift war an die weltlichen Stände des Reichs gerichtet und sollte sie an ihre Verantwortung als Christen erinnern, nach dem Versagen der geistlichen Stände die Reform der Kirche mit Gottes Hilfe umzusetzen. Möglich wurde das mit der Vorstellung eines allgemeinen Priestertums. Konkret hieß es in der Passage, die die Abschaffung einer heilsvermittelnden Kirche bedeutete:
Dan alle Christen, sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein unterscheyd, denn des ampts halben allein […]. Das macht allis, das wir eine tauff, ein EvangeliumEvangelium, eynen glauben haben, unnd sein gleyche Christen, den die tauff, Evangelium und glauben […], die machen allein geistlich und Christen volck. Das aber der Bapst odder Bischoff salbet, blatten macht [Tonsur schert], ordiniert, weyhet, anders dan leyen [sich anders als Laien] kleydet […] macht aber nymmer mehr, ein Christen odder geystlichen menschen. Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet. (Kohnle, 2015, 10f.)
„Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“Der Titel der zweiten Schrift Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraners aus dem Jahr 1520 lautete „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. In ihr wandte sich Luther an die Theologen und nahm ausführlich Stellung zur Sakramentsfrage. Er definierte ein SakramentSakrament als ein mit der Zusage der Sündenvergebung verbundenes Zeichen, das Christus selbst gestiftet hat. Danach können nur TaufeTaufe, AbendmahlAbendmahl und mit Einschränkungen auch die Buße wahre Sakramente sein. Die weiteren katholischen Sakramente, nämlich PriesterPriester- bzw. BischofsweiheWeiheBischofsweihe, Firmung, Ehe und die Krankensalbung sind keine Sakramente. Außerdem bestritt Luther in der Schrift die katholische Lehre von der TranssubstantiationTranssubstantiation, d.h. die sich im Messopfer vollziehende Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu ChristiJesus Christus, und kritisierte das Fehlen des Kelches, d.h. des Darreichens des Blutes Jesu Christi bei der Messe (De capititate Babylonica Ecclesiae 2009).
„Von der Freiheit eines Christenmenschen“In der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die mit einem Sendschreiben an Papst Leo X.$Leo X., Pontifikat 1513–1521, römisch-katholischer Papst, dem „allerheyligsten in gott vatter“ (Kingreen, 2017, 2), versehen war, reagierte Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner auf die gegen ihn gerichtete Bannbulle und begründete darin die christliche, vom EvangeliumEvangelium gewirkte Freiheit des Christen. Pointiert läuft diese Freiheit auf die berühmte Formel im Eingang der Schrift hinaus:
Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar [dienstbarer] knecht aller ding und yderman [jedermann] unterthan. (Kingreen, 2017, 26)
Besonders auf die „Freiheitsschrift“ griffen im Laufe der nächsten Jahre die von Fürsten, Adligen und Landbesitzern unterdrückten Bauern, Leibeigenen und Handwerker zurück, die gegen ihre teilweise katastrophalen Lebensbedingungen aufbegehrten. Sie bezogen „Freiheit“ auf ihre Lebenssituation und forderten deshalb das Ende von Leibeigenschaft und Unterdrückung. Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner aber meinte „Freiheit“ in rein theologischem Sinn und distanzierte sich 1525 scharf von anderen Lesarten seines Textes.
1520 waren bereits mehrere hunderttausend Drucke von Luthers Flugschriften und Büchern im Umlauf. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 durch Johannes Gutenberg$Gutenberg, Johannes, um 1400–1468, Erfinder des Buchdrucks (1400–1468) hatte eine solche Entwicklung möglich gemacht. Die Reformation erzielte zeitnah Breitenwirkung.
Melanchthons „Loci communes rerum theologicarum“Eine weitere wichtige Schrift der Wittenberger Reformation waren die „Loci communes rerum theologicarum“ (= „Hauptpunkte der Theologie“) von Philipp Melanchthon$Melanchthon, Philipp, 1497–1560, evangelischer Theologe, Reformator, dem engen Mitarbeiter Martin Luthers in Wittenberg. Er veröffentlichte mit den „Loci communes“ 1521 den ersten Versuch einer Dogmatik der reformatorischen Theologie. Das Werk wurde von ihm mehrfach überarbeitet und entwickelte sich zu einem wichtigen Lehrbuch der Reformation. Melanchthon wurde zum Dogmatiker der Reformation, im Gegensatz zu Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner, der seine theologischen Überlegungen nicht systematisch anlegte, sondern auf Ereignisse reagierte.
Luther auf dem Wormser ReichstagDurch die massive publizistische Tätigkeit Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner herausgefordert, drängte Papst Leo X.$Leo X., Pontifikat 1513–1521, römisch-katholischer Papst auf eine Auslieferung Luthers. Nachdem der päpstliche Bann über ihn verhängt war, sollte nun auch die politische Ächtung durch den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs folgen. Der wiederum war von den Reichsfürsten abhängig, von denen sich viele gegen ein eigenmächtiges Vorgehen des Kaisers wehrten, zum ersten aus einer prinzipiellen Haltung heraus, aber zum zweiten auch, weil einige Luthers Kritik an den Missständen in der Kirche teilten. Sie setzten durch, dass Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner zunächst persönlich angehört werden sollte, bevor er geächtet würde. Friedrich der Weise arrangierte, dass Luther 1521 vor ein Schiedsgericht auf den Wormser Reichstag geladen wurde und freies Geleit zugesagt bekam.
Am 17. April 1521 begann das Verhör vor dem Kaiser und den Reichsfürsten, dessen Ergebnis Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner BekenntnisBekenntnis war, er wolle kein Wort in seinen Schriften korrigieren oder widerrufen, weil es beschwerlich, nicht heilsam und gefährlich wäre, gegen das Gewissen zu handeln. Nur wenn er durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund des Irrtums überführt werde, wäre er zum Widerruf bereit. Er schloss mit den Worten „Got kumm mir zuhülf. Amen. Da bin ich“. Die Legende machte daraus den großen Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“
Luther auf der WartburgKaiser Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs verhängte daraufhin die Reichsacht gegen Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner und seine Anhänger. Er bekam noch einen Schutzbrief über 21 Tage für die Reise und war danach für „vogelfrei“ erklärt: Niemand durfte ihm helfen oder Unterkunft gewähren und jedermann durfte ihn jederzeit töten. Die Reichsacht, die Ächtung, nicht der päpstliche Bann, war im Mittelalter das Ende jeglicher Sozialität und eine der schlimmsten Strafen überhaupt. Sie bedeutete früher oder später den Tod. Um das zu verhindern, ließ Friedrich der Weise den Geächteten auf der Heimreise nach Wittenberg zum Schein überfallen und verschleppen. Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner wurde auf die Wartburg gebracht, wo er zehn Monate lebte und die Zeit zur Übersetzung des Neuen TestamentNeues Testamentes ins Deutsche nutzte.
Reformatorische NeuordnungenIn dem Jahrzehnt von 1520 bis 1530 kam es zu Neuordnungen in den Gebieten, die von der Reformation geprägt waren. Die Gottesdienstordnungen wurden umgestellt und die Predigt bekam einen zentralen Platz im GottesdienstGottesdienst. Das Bildungswesen und die Armenfürsorge, ursprünglich zwei wesentliche Aufgaben der Kirche, wurden zunehmend von den weltlichen Obrigkeiten übernommen. Für diese zusätzlichen Aufwendungen wurden die Erträge des Kirchengutes herangezogen. Die Bildung der Laien begann eine immer größere Rolle zu spielen. Das monastische Leben erfuhr einen tiefen Einschnitt. Klöster verwaisten, da Mönche und Nonnen die Klostermauern verließen und heirateten.
Der BauernkriegBauernkriegMitte der 1520er beeinflusste der BauernkriegBauernkrieg die Reformation. Er entzündete sich an Forderungen von Bauern, die diese aufgrund der Schrift Luthers über die „Freiheit eines Christenmenschen“ erhoben. Die Grundherren, auf deren Seite sich Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner stellte, zeigten sich unnachgiebig, und die Bauern erlitten 1525 in mehreren Schlachten, besonders in der Entscheidungsschlacht bei Frankenhausen, entsetzliche Niederlagen.
Die ProtestationProtestation von SpeyerDas Wormser Edikt des Kaisers, in dem er 1521 über Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner die Reichsacht verhängt und seine Schriften verboten hatte, stellte ein dauerhaftes Problem für die Anhänger der Reformation dar, die auch unter den Fürsten immer zahlreicher wurden. 1526, auf dem ersten Reichstag zu Speyer, wurde das Edikt modifiziert und seine Ausführung den Reichsständen überlassen, da Kaiser Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs außenpolitisch abgelenkt war. Auf dem zweiten Reichstag in Speyer 1529 wollte er die Beschlüsse von 1526 revidieren. Die Mehrheit der auf dem Reichstag versammelten Stände stimmte der neuerlichen Verfügung des Kaisers zu, d.h. der Durchführung des Wormser Edikts. Den anwesenden Evangelischen wurde erklärt, dass sie sich einem Mehrheitsbeschluss beugen müssten.
Sechs Fürsten und 14 Reichsstädte protestierten dagegen und stützten sich auf die Argumentation, dass Glaubensfragen nicht mit Mehrheitsbeschlüssen entschieden werden sollten. Sie verfassten eine Protestschrift, die zwar nicht vom Kaiser oder seinem Vertreter entgegengenommen wurde, aber durch Publikation an die Öffentlichkeit gelangte. So entstand der Name „Protestanten“ für die Evangelischen: Sie protestierten auf dem Reichstag zu Speyer.
Confessio AugustanaConfessio Augustana (CA)/Augsburger BekenntnisBekenntnisUm die Glaubensfragen in seinem Reich endgültig zu klären, berief Kaiser Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 1530 einen Reichstag nach Augsburg ein. Im Gegensatz zu dem harschen Verlauf des Reichstages 1529 war die Einladung in versöhnlichem Ton gehalten und die Protestanten hofften auf eine gütliche Einigung. Die evangelischen Fürsten beschlossen, von Melanchthon$Melanchthon, Philipp, 1497–1560, evangelischer Theologe, Reformator einen Text ausarbeiten zu lassen, der die evangelische theologische Position enthielt. So entstand die Confessio AugustanaConfessio Augustana (CA), das ,Augsburger BekenntnisBekenntnis‘, die dem Kaiser im Juni 1530 auf dem Reichstag vorgelegt wurde. Den evangelischen Ständen ging es vor allem um den Nachweis, dass ihre Lehre nicht von der kirchlichen Lehre abwich. Melanchthon gelang es, die protestantischen Anliegen prägnant zu formulieren und gleichzeitig die Differenzen zu marginalisieren und mit „Missbräuchen“ zu begründen, nicht mit grundsätzlich divergenten theologischen Haltungen. Zentral war die Lehre von der RechtfertigungRechtfertigung / Rechtfertigungslehre allein aus Glauben. Es wurde das Bemühen der Protestanten deutlich, die römische Kirche zu reformieren und nicht eine neue zu gründen. Der Kaiser ließ eine Widerlegung (lat.: Confutatio) ausarbeiten und befahl den Evangelischen zum alten Glauben zurückzukehren, was sie verweigerten. Stattdessen schlossen sie mit dem Schmalkaldischen Bund ein protestantisches Bündnis.
Die Situation in den 1530er JahrenDie 1530er Jahre brachten den Protestanten zwar immer noch keine offizielle Erlaubnis ihrer Lehre, aber sie wurden geduldet. Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs benötigte die Hilfe der einflussreichen protestantischen Stände für seine Kriegszüge gegen die Türken und die Franzosen. Die lange Friedenszeit auf deutschem Gebiet sowie der außenpolitische Druck auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation brachte für die Protestanten eine weitere Ausbreitung ihrer Lehre.
Eine der wesentlichen Neuerungen, die die neue Lehre auf den protestantischen Gebieten bewirkte, war die Übernahme der Verantwortung für die neue religiöse Ordnung durch die Landesherren, die die Rolle der Bischöfe einnahmen. In den Jahren 1526 bis 1532 bildete sich das protestantische → LandeskirchentumLandeskirchentum heraus.
Der junge ZwingliEin wichtiger Zweig der Reformation neben dem, der sich in Wittenberg herausbildete, entstand in Zürich unter dem Einfluss von Huldrych Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator.
Zwingli war etwa gleichaltrig mit Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner, durchlief aber, durch andere äußere Umstände geprägt, divergente Lebensstationen und begann sein reformatorisches Wirken aus einer anderen Perspektive. Er war sehr musikalisch, weshalb ihn der Dominikanerkonvent in Bern für seinen OrdenOrden gewinnen wollte. Dagegen protestierte Zwinglis Familie, sodass er im Gegensatz zu Martin Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner keine Erfahrungen mit dem Klosterleben machte. Die Frage nach dem gerechten Gott, die Luther umtrieb und letztendlich ins Kloster führte, war für Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator kein Antrieb seines theologischen Nachdenkens. Ihn prägte vielmehr der HumanismusHumanismus.
HumanismusHumanismusDer HumanismusHumanismus war eine von der Epoche der RenaissanceRenaissance beeinflusste Reformbewegung des späten 15., frühen 16. Jahrhunderts innerhalb der Theologie. Mit dem Ziel der Rückführung zum einfachen Frömmigkeitsleben auf der Grundlage der BibelBibel und dem Ideal des Urchristentums verschrieben sich die Humanisten der Erneuerung und Reform der katholischen Kirche. In Anlehnung an die Renaissance zielte der Humanismus auf das Vorbild des antiken Menschen, der seine Persönlichkeit auf der Grundlage allseitiger theoretischer und moralischer Bildung frei entfaltet. Seine Kritik richtete sich scharf gegen moralische Missstände der Kirche. Führender Kopf der BewegungBewegung(en) war der niederländische Theologe und Philologe Erasmus von Rotterdam$Erasmus von Rotterdam, um 1467–1536, römisch-katholischer Priester, Theologe, Humanist (um 1467–1536). Seine antiklerikale Satire „Das Lob der Torheit“ trug zur europaweiten Verbreitung humanistischen Denkens bei.
Zwinglis frühe KirchenkritikAn Zwinglis Studienorten, an den Universitäten in Wien und Basel, waren Humanisten tätig und prägten Zwinglis theologische Sicht. 1506 wurde er zum PriesterPriester geweiht und trat kurz darauf seine erste Pfarrstelle in Glarus an. Bereits in dieser Zeit ging Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator gegen Missstände in der Kirche, aber auch der Gesellschaft generell vor. So wandte er sich z.B. gegen den sogenannten „Reislauf“, die Praxis der Schweizer, Waffendienst in fremdem Sold zu leisten. Später erreichte er in Stadt und Land Zürich das Verbot der Anwerbung als Söldner. Von 1516 bis 1518 wirkte Zwingli im nahegelegenen Einsiedeln, einem der bekanntesten Wallfahrtsorte der Schweiz. Hier begann er Heiligenverehrung und AblassAblass kritisch zu sehen.
Zwingli studierte die antiken Schriftsteller, v.a. Platon$Platon, 428/427 v. Chr.-348/347 v. Chr., Philosoph (428/427 v. Chr.-348/347 v. Chr.) und Aristoteles$Aristoteles, 384 v. Chr.-322 v. Chr., Philosoph, Wissenschaftsbegründer (384 v. Chr.-322 v. Chr.), und die Schriften der Kirchenväter. Außerdem beschäftigte er sich eingehend mit dem Neuen TestamentNeues Testament. Er schrieb große Teile des von Erasmus auf Griechisch herausgegebenen Neuen Testaments eigenhändig ab und lernte sie auswendig. Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator blieb Erasmus stets dankbar für die Erschließung des Urtextes des Neuen Testaments.
1516 kam Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator zu der Einsicht, dass die Klarheit der Schrifterkenntnis im Erfassen des buchstäblichen Sinns der Schrift liege. Die Entwicklung seines Denkens und seiner theologischen Vorstellungen führten immer stärker zu Reformideen wie sie v.a. in humanistischen Kreisen geäußert wurden.
Zwingli am Großmünster in ZürichAufgrund seiner Reputation als gelehrter und engagierter PriesterPriester wurde Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator 1519 an die bedeutendste Kirche des Stadtstaates Zürich, an das Großmünster, berufen. In der Erinnerungskultur reformierter Kirchen läutete Zwinglis Wechsel nach Zürich den Beginn der Reformation ein, denn hier zeigte er sich als konsequenter Reformer der Kirche und des Zürcher Gemeinwesens. In vier Jahren setzte er am Großmünster Liturgiereformen durch und predigte, mit der üblichen Perikopenordnung brechend, in fortlaufender Auslegung ganze biblische Bücher. In seinen Predigten wandte er sich gegen das ausschweifende Leben der Mönche, gegen Heiligenverehrung, die Lehre vom Fegefeuer und die Praxis des Zehnten, nach der die Bauern regelmäßig Abgaben zu zahlen hatten, die die Haupteinnahmequelle der kirchlichen Institutionen bildeten.
Zwingli über LutherÜber sein Verhältnis zu dem Wittenberger Reformator Martin Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner und die gleichzeitig in Wittenberg verlaufende Reformation schrieb Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator in der Auslegung des 18. Artikels der Schrift „Auslegen und Gründe der Schlußreden“ von 1523, bis 1519 hätten weder er noch Theologen aus seinem Umfeld mehr über Martin Luther in Wittenberg gewusst als dass dieser sich gegen den AblassAblass wandte. Er selbst, Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator, habe schon 1516 begonnen, das EvangeliumEvangelium Christi zu predigen, indem er die Worte der Schrift durch die Schrift auslegte. Außerdem sei er schon zu dieser Zeit der Überzeugung gewesen, der Ablass sei Betrug und „unwahrer Schein“. Da ihn immer wieder „Päpstler“ als „Lutheraner“ bezeichneten und ihm unterstellten, er müsse wohl lutherisch sein, da er so predige, wie Luther schreibe, hielt er ihnen entgegen:
Ich predigen doch glych als wol wie Paulus schrybt; warumb nempstu mich nit as mär [ebenso gut] einen Paulischen? Ja, ich predgen das wort Christi; warumb nempstu mich nit as mär einen Christen? […] Hierumb lassend uns, frommen Christen, den eerlichen namen Christi nit verwandelet werden in den namen des Luters; denn Luter ist nit für uns gestorben, sunder lert er uns erkennen den, von dem wir allein alles heyl habend. (Zwingli 1908, 147.149)
Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator schätzte Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner für dessen Mut, dem Papst entgegen zu treten, wurde aber nicht auf den Spuren Luthers, sondern des Humanisten Erasmus von Rotterdam$Erasmus von Rotterdam, um 1467–1536, römisch-katholischer Priester, Theologe, Humanist zum Reformator.
Zwei Hauptstränge der ReformationSo entwickelten sich im frühen 16. Jahrhundert parallel zwei Hauptstränge der Reformation: Einmal durch das Wirken Zwinglis in Zürich, zum anderen unter Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner Führung in Wittenberg. Aber auch in weiteren Städten brach sich die Reformation bereits sehr zeitig und vorbereitet durch das Wirken engagierter Personen und Gruppen Bahn, z.B. in Venedig, Riga, Basel oder Worms.
Zwinglis$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator frühe Reformation in Zürich nahm die allgemein verbreitete Kritik der kirchlichen und politischen Missstände auf und zielte auf die Rückkehr zu den biblischen Quellen und die Predigt des EvangeliumsEvangelium. Damit stieß er, der mehr und mehr Einfluss auf den Großen und Kleinen Rat der Stadt gewann, bei der Zürcher Obrigkeit auf positive Resonanz. Zürich war im Vergleich zu dem feudalen landesfürstlich-patriarchalischen Kurfürstentum Sachsen ein souveräner, teils aristokratisch, teils demokratisch regierter Stadtstaat. Das zog gravierende Unterschiede in der Entwicklung der Reformation nach sich.
Das Zürcher WurstessenZum entscheidenden Konflikt in Zürich kam es, als Anhänger Zwinglis$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator am 9. März 1522 demonstrativ gegen die kirchliche Fastenordnung verstießen und im Haus des Verlegers und Druckers Christoph Froschauer$Froschauer, Christoph, 1490–1564, Buchdrucker, Verleger (1490–1564) bei einem Essen auch Wurst verzehrten, die in der Fastenzeit streng verboten war. Juristisch war das eine Ordnungswidrigkeit, für die sich Froschauer später vor dem Rat der Stadt verantworten musste. In erster Linie aber stellte es eine symbolische Demonstration evangelischer Freiheit dar, die sich über alles sogenannte „nicht Biblische“ hinwegsetzte. Für die katholische Kirche musste das demonstrative Wurstessen zwangsläufig eine massive Provokation sein. Kurze Zeit später kam es mit derselben Intention in Basel zu einem etwas opulenteren Spanferkel-Essen. Für die Reformation in der Schweiz und für die reformierte Kirche im Allgemeinen hat das „Zürcher Wurstessen“, „Froschauer-Wurstessen“ oder kurz einfach „das Wurstessen“ eine ähnlich große Bedeutung wie der Thesenanschlag Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner für die Wittenberger Reformation und die lutherischen Kirchen.
Nachdem Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator sowohl in einer Predigt als auch schriftlich in der Abhandlung „Vom Erkiesen [Auswählen] und Freiheit der Speisen“ zu der Fastenfrage Stellung genommen und den Fastenbruch mit biblischen Argumenten verteidigt hatte, beschloss der Stadtrat in der Fastenfrage nur noch gelten zu lassen, was die BibelBibel dazu sage. Die Bibel und Zwinglis Schriftprinzip wurden somit in Folge eines ersten, paradigmatischen Ereignisses Grundlage des kirchenpolitischen Handelns einer weltlichen, nicht geistlichen Institution.
In den folgenden Wochen kam es zu Gottesdienststörungen durch radikale Anhänger Zwinglis. Der BischofBischof von Konstanz ermahnte die Zürcher Obrigkeit zur Einhaltung der kirchlichen Ordnung und forderte sie zum Schutz der Kirche auf. Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator widerlegte das bischöfliche Mahnschreiben und bestritt der kirchlichen Hierarchie wegen ihres verderbten Zustandes das Recht, sich in Fragen der Verkündigung und kirchlichen Ordnung zu äußern.
Die Zürcher Disputationen 1523Daraufhin berief der Große Rat für Ende Januar 1523 eine Disputation ein, an der alle an der Religionsfrage beteiligten Parteien teilnehmen konnten. Es war die erste von drei Zürcher Disputationen. Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator verfasste für sie 67 Disputationsthesen und zu ihnen auslegende „Schlußreden“, die unter dem Titel „Auslegen und Gründe der Schlußreden“ eine der frühen deutschsprachigen evangelischen Dogmatiken wurden.
Der Konstanzer BischofBischof sandte eine Abordnung unter Leitung des Humanisten und späteren Bischofs von Wien, Johannes Fabri$Fabri, Johannes, 1578–1541, römisch-katholischer Bischof, Humanist (1578–1541), der zu dem damaligen Zeitpunkt Diplomat und Ratgeber von Ferdinand$Ferdinand I., 1503–1564, Erzherzog von Österreich, König von Böhmen, Kroatien und Ungarn, 1558–1564 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs I. (1503–1564, Kaiser: 1558–1564), dem Bruder und Stellvertreter des Kaisers, war. Ursprünglich stand Fabri der Reformation sympathisierend gegenüber, fühlte sich aber nach und nach von den Entwicklungen abgestoßen und gab 1523 einen „Ketzerhammer“ heraus, der gegen die Evangelischen gerichtet war.
Der Zürcher Rat legte im Vorfeld der Disputationen fest, dass nur Argumente zählen sollten, die sich direkt mit der BibelBibel begründen ließen. Da Fabri$Fabri, Johannes, 1578–1541, römisch-katholischer Bischof, Humanist Zwinglis$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator Thesen nur Feststellungen der TraditionTradition und von Konzilien entgegensetzen konnte, sprach der Zürcher Rat Zwingli den Sieg in der Disputation zu.
Die zweite Disputation fand Ende Oktober 1523 statt und behandelte das in den reformierten Kirchen wesentlich stärker als in den lutherischen Kirchen diskutierte Thema BilderverehrungBilderverehrung und Bilderdienst.
Die Betonung der Gleichwertigkeit von Altem und Neuem Testament im reformierten Denken unterstreicht die besondere Betonung des Bilderverbotes. Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator berief sich auf das biblische Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ und las darin das Verbot von Bildern, die auf Altären verehrt würden. Außerdem argumentierte er, die äußere Darstellung lenke vom Wort ab, das Christus zu erkennen lehre. Im Gegensatz dazu lag für Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner der BilderverehrungBilderverehrung in den reformierten KirchenSchwerpunkt bei der Frage nach der BilderverehrungBilderverehrung auf der damit eng verbundenen Werkgerechtigkeit: Indem er Bilder verehre, vermeine der Mensch sich sein Heil zu erkaufen. Argumentativ etwas anders gelagert, aber ebenfalls ablehnend äußerte sich später Johannes Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus in Genf [→ Evangelische Konfessionsfamilie: Besonderheiten der historischen Entwicklung]. Er sah in Darstellungen von Gott dessen Majestät verletzt.
Das Bilderverbot wurde später in den reformierten BekenntnisschriftenBekenntnisBekenntnisschriften häufiger aufgegriffen als in den lutherischen. Im Heidelberger KatechismusHeidelberger Katechismus von 1563 heißt es in der Antwort zur 98. Frage über den Gehalt der Wissensvermittlung durch Bilder, Gott wolle „seine Christenheit nit durch stumme götzen […], sonder durch die lebendige predig seines worts […] underwiesen haben.“ (Neuser, 2009, 201)
Der Rat der Stadt Zürich entschied in Folge der Zweiten Zürcher Disputation, dass alle Bilder über einen Zeitraum von einem halben Jahr friedlich aus den Kirchen entfernt werden sollten. Als sich dieser Anordnung einzelne PriesterPriester widersetzten, kam es zu gewaltsamen Bilderstürmen.
Reformen in ZürichDie dritte Zürcher Disputation fand Mitte Januar 1524 statt und behandelte die Frage der Messe. Alle drei Disputationen, die eine hohe Aufmerksamkeit erfuhren und unter großen Zuhörerscharen stattfanden, gingen zugunsten von Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator aus.
Daraufhin beschloss der Rat der Stadt Zürich weitreichende Reformen: Die Messe wurde abgeschafft und der evangelische GottesdienstGottesdienst eingeführt, d.h. die schriftgemäße Predigt des EvangeliumsEvangelium stand nun im Mittelpunkt des gottesdienstlichen Geschehens. Die evangelische Abendmahlsfeier wurde eingeführt. Klöster wurden geschlossen, eine geregelte Armenpflege eingeführt. Es erfolgte die Beseitigung von Bildern aus den Kirchen. Mit Zwingli als Berater ordnete der Rat der Stadt Zürich zügig und konsequent die kirchliche Verkündigung und Ordnung sowie das Schulwesen neu. Zwinglis Richtlinie war, wie das bürgerliche und kirchliche Gemeinwesen so organisiert werden könne, dass es der Vorgabe der göttlichen Gerechtigkeit entspreche.
AbendmahlsstreitAbendmahlAbendmahlsstreit1529 kam es zur Konfrontation zwischen Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator und Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner sowie ihren jeweiligen Anhängern, wobei es um das rechte Verständnis des AbendmahlsAbendmahl ging. Luther sah im Abendmahl das tiefste Erlebnis der sichtbar gewordenen GnadeGnade Gottes. Durch die Konsekration komme es zur praedicatio identica, zu „Leibsbrot“ und „Blutswein“, und „in, mit und unter Brot und Wein“ werde der wahre Leib und das wahre Blut Christi ausgeteilt und mit dem Mund empfangen. Diese Vorstellung meint RealpräsenzRealpräsenz oder auch Konsubstantiation, ein Begriff, der von manchen lutherischen Kirchen als missverständlich abgelehnt wird und zudem von keinem Reformator verwendet wurde.
Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator hingegen sah im AbendmahlAbendmahl ein Gemeinschafts-, Verpflichtungs-, Dank- und Erinnerungsmahl. Der Auferstandene ist dabei nicht in den Elementen präsent, sondern, in der Form der anamnetischen RealpräsenzRealpräsenz, im Gedächtnis der Gläubigen (lat.: in mente fidelium).
Einig waren sich Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner und Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator in der Ablehnung der TranssubstantiationTranssubstantiation, also der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi bei der Heiligen Messe der katholischen Kirche.
Auf Wunsch von Landgraf Philipp I.$Philipp I. von Hessen, (der Großmütige), 1504–1567, Landgraf von Hessen von Hessen (1504–1567), der die unterschiedlichen Ausprägungen der oberdeutsch-schweizerischen und der Wittenberger Reformation zusammenführen wollte, trafen sich Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator und Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner im Oktober 1529 in Marburg, um einen Konsens in der Abendmahlsfrage herzustellen. Bei diesem Marburger Religionsgespräch konnten sich die beiden Reformatoren auf 14 Artikel einigen. Nur im Hinblick auf die RealpräsenzRealpräsenz im AbendmahlAbendmahl gingen sie im Dissens auseinander.
Die unterschiedliche Interpretation des AbendmahlsAbendmahl schlug sich dann auch in den jeweiligen BekenntnisschriftenBekenntnisBekenntnisschriften nieder. In der Confessio AugustanaConfessio Augustana (CA) wurde in Artikel X festgehalten, dass „warer leib und blut Christi warhafftiglich unter gestalt des brods und weins im Abentmal gegenwertig sey und da ausgeteilt und genomen wirt.“ (Die Confessio Augustana, 2014, 104) Diese Formulierung war den Lutheranern zu wenig eindeutig und wurde 1577 in der Konkordienformel (lat.: Formula Concordiae) ausgeführt. Das „wirklich“ bekam in den Affirmativa in Artikel VII die Charakterisierung als „warhafftig und wesentlich gegenwertig.“ (Die Konkordienformel, 2014, 1258)
In dem vielerorts als reformierte BekenntnisschriftBekenntnisBekenntnisschriften geltenden Heidelberger KatechismusHeidelberger Katechismus wurde in der Antwort auf die 78. Frage zusammengefasst, dass beim AbendmahlAbendmahl aus Brot und Wein explizit nicht der Leib und das Blut Christi werden, sondern dass die Elemente wie das Wasser der TaufeTaufe, das ebenfalls nicht in das Blut Christi verwandelt wird, „allein ein Göttlich warzeichen und versicherung“ (Neuser, 2009, 195) sind.
Die Fragen, wie und in welcher Abgrenzung zueinander das AbendmahlAbendmahl zu verstehen sei, durchzog beginnend bei dem Marburger Religionsgespräch die gesamte Kontroverse zwischen Reformierten und Lutheranern im 16. Jahrhundert. Auf lutherischer Seite schlug sich die Problematik in einer offenen Verdammung der „Sakramentarier“ in der Konkordienformel nieder, d.h. derer, die vertreten, dass
der Leib Christi im heiligen Abendmal nicht mündlich mit dem Brot, sondern allein Brot und Wein mit dem munde, der Leib Christi aber allein geistlich durch den Glauben empfangen werde [und dass ] Brot und Wein im heiligen AbendmahlAbendmahl nicht mehr dann kennzeichen sein, dadurch die Christen einander erkennen. (Die Konkordienformel, 2014, 1262)
Der AbendmahlsstreitAbendmahlAbendmahlsstreit sollte die beiden protestantischen Lager dauerhaft in zwei Konfessionen spalten: in die lutherische und die reformierte.
Zweite Kappeler Schlacht und Tod Zwinglis1529, in demselben Jahr, in dem das Marburger Religionsgespräch stattfand, schlossen sich in der Schweiz die katholischen Stände zur Christlichen Vereinigung zusammen und reagierten damit auf das protestantische Bündnis Christliches Burgrecht. Der Erste Kappelerkrieg 1529 war eine Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken in der Schweiz, die, ohne dass es zu Kampfhandlungen kam, endete. Zwei Jahre später brach der Konflikt erneut los, diesmal als blutiger Religionskrieg. Am 9. Oktober 1531 erklärten die katholischen Kantone der Schweiz Zürich den Krieg. Die unzureichend vorbereiteten Zürcher erlitten in der Zweiten Schlacht bei Kappel am 11. Oktober eine schwere Niederlage. In der Schlacht fiel u.a. Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator, der die Kämpfenden unterstützte. Sein Leichnam wurde gevierteilt, verbrannt und in alle vier Winde zerstreut.
Mit der militärischen Niederlage zerschlug sich Zwinglis Plan, die gesamte Schweizer Eidgenossenschaft für die Reformation zu gewinnen. Auch in der Schweiz kam es nun zu einer dauerhaften konfessionellen Glaubensspaltung. Manche Gebiete wurden zwangs-rekatholisiert.
Heinrich Bullinger$Bullinger, Heinrich, 1504–1575, reformierter Theologe, ReformatorZwinglis$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator reformatorischer Nachfolger wurde Heinrich Bullinger$Bullinger, Heinrich, 1504–1575, reformierter Theologe, Reformator (1504–1575), der im Dezember 1531 mit 27 Jahren zum höchsten Vorsteher (= Antistes) der reformierten Kirche in Zürich gewählt wurde, ein AmtAmt, das er bis zu seinem Tod 1575 innehatte. Bullinger konsolidierte die Reformation in der Schweiz, war 1536 Mitverfasser des Ersten Helvetischen BekenntnissesBekenntnis (lat.: Confessio Helvetica prior) und Verfasser des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses (lat.: Confessio Helvetica posterior) von 1566. Er war einer der am besten informierten und vernetzten Gelehrten Europas in seiner Zeit und hinterließ u.a. den umfassendsten Briefwechsel des 16. Jahrhunderts in Europa. Bullinger arbeitete eng mit Johannes Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus zusammen, der 1536 in Genf begann, die Reformation durch eine Gemeindeordnung mit strenger KirchenzuchtKirchenzucht einzuführen [→ Evangelische Konfessionsfamilie: Besonderheiten der historischen Entwicklung]. Beiden gelang es, ein Auseinanderbrechen der Reformierten und Calvinisten und damit der gesamten reformierten Kirche in der Frage des AbendmahlsAbendmahl zu verhindern.
Die Zürcher Reformation war die Wiege einer weiteren BewegungBewegung(en), die auch als der radikale Flügel der Reformation bezeichnet wird: die Täuferbewegung. Den Namen Täufer erhielten die Anhänger dieser aus der Reformation hervorgegangenen Strömung, weil sie die TaufeTaufe als das Siegel der bewussten Bekehrung zum Christentum ansahen und deshalb die Kindertaufe ablehnten. Von ihren Gegnern wurden sie „WiedertäuferTaufeWiedertäufer“ (= Anabaptisten) genannt, weil sie in einer Gesellschaft, in der jedes Kind getauft wurde, mit der Erwachsenentaufe zwangsläufig eine Zweittaufe vornahmen. Dieser Sachverhalt war der entscheidende Grund für ihre Verfolgung, denn nach Reichsrecht wurde die Wiedertaufe mit der Todesstrafe geahndet.
Die TaufeTaufe als bewusste Bekehrung war nur ein Aspekt der Lehre dieser BewegungBewegung(en), die eine radikale Rückkehr zu den Maßstäben der Urkirche und die Rechtgläubigkeit von Christen als Ausweis der Heiligkeit der KircheKircheHeiligkeit der Kirche propagierte. Verbunden war die Lehre mit einer Haltung der starken Abgrenzung zur „Welt“, zur katholischen Kirche und schließlich zur Reformation.
Luther$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner bezeichnete die radikalen Reformer häufig als „Schwärmer“, weil sie aus seiner Sicht die Beschränktheit der irdischen Existenz, also die grundsätzliche Sündhaftigkeit des Menschen, außer Acht ließen und sich Illusionen über die Möglichkeiten eines im Diesseits zu verwirklichenden Christentums hingaben.
Zürcher Reformation als Wiege der TäuferbewegungHuldrych Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator arbeitete mit den Gründungsgestalten der BewegungBewegung(en), mit den humanistisch geprägten und gebildeten Zürcher Bürgern Konrad Grebel$Grebel, Konrad, um 1498–1526, Mitbegründer der Täuferbewegung (um 1498–1526) und Felix Manz (um 1498–1527)$Manz, Felix, um 1498–1527, Mitbegründer der Täuferbewegung, ursprünglich eng zusammen. Über die Frage der Kinder- oder Erwachsenentaufe und der Radikalität der Reformation kam es dann zum Bruch. Anfang 1525 verbot der Zürcher Rat nach einer öffentlichen Disputation über die Tauffrage die Verweigerung der Kindertaufe und erteilte Grebel und Manz Lehrverbot. In Reaktion darauf nahmen die Täufer in Zollikon nahe bei Zürich im Januar 1525 an Georg Cajacob, genannt Jörg Blaurock$Blaurock, Jörg (Cajacob, Georg), um 1492–1529, römisch-katholischer Priester, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung (um 1492–1529), die erste Gläubigentaufe, d.h. Erwachsenentaufe, vor. Im Januar 1527 wurde Felix Manz$Manz, Felix, um 1498–1527, Mitbegründer der Täuferbewegung vom Zürcher Rat zum Tode verurteilt. Er war der erste in einer ganzen Reihe von Märtyrern der Täuferbewegung, die für ihre Überzeugung hingerichtet wurden.
Verbreitung der BewegungBewegung(en)Auch in anderen Gebieten entstanden Gruppen der Täuferbewegung: in Straßburg, in Österreich, in Süddeutschland, wo Hans Hut (um 1490–1527)$Hut, Hans, um 1490–1527, Missionar der Täuferbewegung und Balthasar Hubmaier$Hubmaier, Balthasar, um 1485–1528, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung (um 1485–1528) wirkten – letzterer hatte mit Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator an der Zweiten Zürcher Disputation teilgenommen – sowie in Mitteldeutschland. Im Baltikum, Norddeutschland und in Ostfriesland sammelte Melchior Hofmann$Hofmann, Melchior, um 1498-um 1543, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung, Namensgeber der Melchioriten (um 1498-um 1543) Anhänger, die nach ihm Melchioriten genannt wurden, und gründete Täufergemeinden. Bei den mährischen Fürsten fanden Angehörige der Täuferbewegung Aufnahme, weil sie als Kolonisten geschätzt wurden. Unter Jakob Huter (um 1500–1536)$Huter (Hutter), Jakob, um 1500–1536, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung, Namensgeber der Hutterer, der aus Tiroler Gemeinden Flüchtlinge nach Mähren führte, organisierten sie sich dort als Gruppen mit gemeinschaftlichem Eigentum und errichteten sich auf diese Weise eine eigene Sozialstruktur.
Die Schleitheimer Artikel1527 gaben sich die Schweizer Brüder, wie sich die Anhänger der Täuferbewegung aufgrund ihrer Genese aus der Schweizer Reformation um Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator nannten, unter dem Vorsitz von Michael Sattler$Sattler, Michael, um 1490–1527, Mitbegründer der Täuferbewegung (um 1490–1527) mit den Schleitheimer Artikeln bzw. dem Schleitheimer BekenntnisBekenntnis ihre erste gemeinsame Glaubensformel.
Verbot der Wiedertaufe1529 wurde auf dem Reichstag zu Speyer das Wiedertäufermandat erlassen, nachdem es bereits punktuelle Verbote, in einzelnen Regionen und durch einzelne Herrscher erlassen, gab. Das Wiedertäufermandat verbot Erwachsenentaufen bei Todesstrafe und diente dem Ziel, die Täuferbewegung vollständig zu eliminieren.
Das Täuferreich zu Münster1534 sandte der Niederländer Jan Matthys$Matthys, Jan, um 1500–1534, Täufer, Mitbegründer des „Täuferreichs von Münster“ (um 1500–1534), ursprünglich ein Anhänger von Melchior Hofmann$Hofmann, Melchior, um 1498-um 1543, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung, Namensgeber der Melchioriten und Verfechter der Errichtung eines Gottesstaates, den von ihm getauften Jan Bockelson (1509–1536), der als Jan van Leiden$Leiden, Jan van (Bockelson, Jan), 1509–1536, Mitbegründer und König des „Täuferreichs von Münster“ bekannt wurde, nach Münster, wohin er ihm kurz danach folgte und die Stadt zum „neuen Jerusalem“ erklärte. Von 1533 bis 1535 errichteten Matthys$Matthys, Jan, um 1500–1534, Täufer, Mitbegründer des „Täuferreichs von Münster“ und van Leiden das sogenannte Täuferreich von Münster, ein militantes Endzeitreich der „Erwählten“. Die gesamte Leitung der Stadt wurde mit Täufern besetzt sowie die Wiedertaufe aller Bürger und die Gütergemeinschaft angeordnet. Wer sich dem verweigerte, wurde als „Gottloser“ vertrieben oder hingerichtet. Entgegen der ursprünglichen strengen Sittenwacht der Täufer wurde aufgrund des Frauenüberschusses in der Stadt im Sommer 1534 die Polygynie eingeführt. Jan van Leiden$Leiden, Jan van (Bockelson, Jan), 1509–1536, Mitbegründer und König des „Täuferreichs von Münster“, der seit dem Tod von Matthys$Matthys, Jan, um 1500–1534, Täufer, Mitbegründer des „Täuferreichs von Münster“ 1534 alleiniger König des Täuferreichs war, heiratete im Verlauf seines Endzeitreichs 16 Frauen. Er versuchte, die Täufer außerhalb Münsters zu einer gemeinsamen Erhebung anzuspornen, hatte damit aber keinen Erfolg, nicht zuletzt deshalb, weil das Täuferreich zunehmend abschreckend auf Außenstehende wirkte und die BewegungBewegung(en) nun sowohl seitens der katholischen als auch der reformatorischen Obrigkeit massiv verfolgt wurde. Als der BischofBischof von Münster und Philipp von Hessen$Philipp I. von Hessen, (der Großmütige), 1504–1567, Landgraf von Hessen im Juni 1535 die Stadt nach langer Belagerung einnahmen, wurde van Leiden$Leiden, Jan van (Bockelson, Jan), 1509–1536, Mitbegründer und König des „Täuferreichs von Münster“ gefangen genommen und im Januar 1536 zusammen mit weiteren Führern des Täuferreichs öffentlich gefoltert und hingerichtet. Ihre Leichname wurden als Abschreckung in Käfigen an der Lambertikirche in Münster zur Schau gestellt. Das Täuferreich von Münster war Anlass für weitreichende Verfolgungen der Täufer, obwohl sie in der Mehrzahl friedlich gesinnt und teilweise ausdrücklich Pazifisten waren.
Menno Simons$Simons, Menno, 1496–1561, römisch-katholischer Priester, Theologe, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung, Namensgeber der Mennoniten und die TäufergemeindenNach dem Desaster von Münster sammelte der ehemals katholische PriesterPriester Menno Simons$Simons, Menno, 1496–1561, römisch-katholischer Priester, Theologe, führende Persönlichkeit der Täuferbewegung, Namensgeber der Mennoniten (1496–1561) mit großem Erfolg in Norddeutschland und den Niederlanden Täufer und gründete Täufergemeinden, die Apokalyptik und Militanz ablehnten und sich von radikalen Täufergruppen abgrenzten. 1542 erließ Kaiser Karl V.$Karl V., 1500–1558, 1520–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs ein Edikt gegen seine Anhänger und setzte ein Kopfgeld auf ihn aus. Simons wurde durch die Unterstützung von Freunden nie gefasst, aber einzelne Täufer, die mit ihm Kontakt hatten, erlitten den Märtyrertod. Simons’ Einfluss war so groß, dass sich Gemeinden nach ihm benannten, die sich bald eine feste Struktur gaben: die → Mennoniten. Der Name Mennoniten vermied allerdings auch den Begriff WiedertäuferTaufeWiedertäufer, der zu dieser Zeit einem Todesurteil gleichkam.
Erste Akzeptanz und weitere Verbreitung1572 sprach Wilhelm I. von Oranien (1533–1584)$Wilhelm I. von Oranien (von Nassau-Dillenburg), 1533–1584, Fürst von Oranien, der Statthalter in den Niederlanden, den Mennoniten sein Wohlwollen aus und verfügte 1577 ihre Befreiung von Eid und Waffendiensten, was ihre Verbreitung in den Niederlanden stark beförderte.
Weitere aus der Täuferbewegung hervorgegangene religiöse Gemeinschaften sind die in Nordamerika verbreiteten HuttererHutterer und die AmischenAmischen. Mit den → Baptisten gibt es zwar Berührungspunkte, aber diese wurzeln in der englischen Reformbewegung des PuritanismusPuritanismus und gehören unter konfessionellen Gesichtspunkten nicht zur Täuferbewegung.
Leben und Wirken Johannes CalvinsNeben Huldrych Zwingli$Zwingli, Huldrych, 1484–1531, evangelisch-reformierter Theologe, Reformator ist Johannes Calvin (1509–1564)$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus der für die reformierten Kirchen wichtigste Reformator. Er gehörte der zweiten Generation der Reformatoren an und wirkte seit den späten 1530er Jahren in Genf. Calvin wurde in Frankreich geboren und war als Student Mitglied humanistisch gesinnter Kreise der Pariser Universität. Mit Nicolas Cop (um 1501–1540)$Cop, Nicolas, um 1501–1540, Mediziner, Rektor der Universität Paris, dem Rektor der Universität, verband Calvin eine enge Freundschaft. Als sich Cop 1535 zum Luthertum bekannte, flohen beide aus Frankreich. Über Basel, wo Calvin 1536 seine bedeutendste Schrift „Institutio Christianae Religionis“ (= „Unterricht in der christlichen ReligionReligion“) herausgab, mit der er sich den Ruf eines Gelehrten der Reformationsbewegung erwarb, kam er nach verschiedenen Aufenthaltsorten 1536 nach Genf. Dort baute er gemeinsam mit dem französischen Reformator Guillaume (William) Farel$Farel, Guillaume (William), 1489–1565, französischer Reformator (1489–1565) die protestantische Gemeinde auf. Streitigkeiten in der Gemeinde und der Rigorismus der von Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus avisierten Kirchenordnung waren der Grund, weswegen Farel und Calvin 1538 ausgewiesen wurden. Calvin kehrte allerdings 1541 auf Bitte von Anhängern seiner Ideen zurück und errichtete in Genf in den nächsten beiden Jahrzehnten eine Kirche, die Vorbild für viele Gemeinden und Kirchen in ganz Europa werden sollte.
Kirchenordnung und KirchenzuchtKirchenzuchtIm Mittelpunkt der Bemühungen Calvins stand die Sorge um die Gestalt der Gemeinde und um die Übereinstimmung von Lehre und Leben. Die Kirche sollte „nach der Ordnung des EvangeliumsEvangelium erneuert“ werden und die Genfer Kirchenordnung von 1541 ließ erkennen, wie das in der Praxis auszusehen hatte. Für Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus war die kirchliche Verfassungsform im Neuen TestamentNeues Testament vorgezeichnet und beinhaltete vier ÄmterAmtvierfaches Amt: Prediger/Pastoren, Doktoren/Lehrer, Älteste/PresbyterPresbyter und DiakoneDiakon. Die Leitung der Gemeinde lag in den Händen der Pastoren und der Ältesten. Das von Laien besetzte Ältestenamt mit seiner zentralen Aufgabe der KirchenzuchtKirchenzucht sollte für calvinistische Gemeinden charakteristisch werden. Der Einfluss der Laien auf die Gestaltung der Kirche auf sämtlichen Ebenen war dadurch sehr groß und das von lutherischer Seite proklamierte Priestertum aller GläubigenPriesterPriestertum aller Gläubigen wurde evident in die Praxis umgesetzt.
Zur KirchenzuchtKirchenzucht gehörten Beratungen der Gemeindeglieder, Schlichtung von Streitfällen, in besonders schwierigen Fällen ExkommunikationExkommunikation oder Anzeige bei der staatlichen Gewalt. Dieses strenge Reglement, das der Reformator seiner Gemeinde auferlegte, wurde teilweise als Kontrollsystem empfunden und sorgte immer wieder für Widerstand. Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus aber wollte mit dieser Kirchenzucht eine Verherrlichung der Ehre Gottes im Gemeindeleben erreichen. Im Gegensatz zu den Wittenberger Reformatoren vertrat er ein stärker biblizistisches Schriftverständnis und hob Gottes Souveränität und Majestät in seinem gesamten theologischen Lehrgebäude deutlicher hervor. Seine Theologie war dezidiert theozentrisch ausgerichtet und der von ihm geforderte Glaubensgehorsam und damit verbunden die EthikEthik waren auf die Ehre Gottes ausgerichtet. Jeder Kultus, jede Form der Werkgerechtigkeit schränkt nach Calvin die Heiligkeit Gottes ein.
Die Lehre von der doppelten PrädestinationDie schärfsten Diskussionen rief Calvins Lehre von der doppelten PrädestinationPrädestination hervor, mit der er von den Vorstellungen der anderen Reformatoren deutlich abwich. Nach Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus erwählt Gott Menschen gleichermaßen zum Heil wie zur ewigen Verdammnis. Es gibt nicht nur die GnadeGnade Gottes, sondern auch die Verwerfung durch Gott. Beides erfolgt vor Anbeginn der Zeit, d.h. lange vor der Geburt der betreffenden Menschen, die dieser Erwählung vollkommen unterworfen sind und nichts tun können, um der Erwählung oder Verdammung zu entgehen. Gottes Entscheidung richtet sich nicht nach menschlichen Werken. Für die Auserwählten hat Gott die Erkenntnis und die Auferstehung bestimmt, für die Verdammten die Unwissenheit und die Hölle. Calvin erkannte deshalb nur drei der reformatorischen soli an. Das sola gratiaSolismenSola Gratia fiel bei ihm weg, da Gott auch zur Verdammnis erwählt und nicht nur Gnade gewährt.
Die Auseinandersetzung um Calvins Lehre, der Kampf zwischen seinen Anhängern und seinen Gegnern in Genf endete erst 1555. 1559 gewährte die Stadtverwaltung Genf ihrem Reformator die Bürgerrechte. Im selben Jahr gründete Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus die Genfer Akademie, die sich rasch zu einer Hochschule des reformierten Protestantismus in Europa entwickelte. Fünf Jahre später starb er.
Der Einfluss des CalvinismusDie von Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus geprägte reformatorische BewegungBewegung(en) und Zweig der reformierten Kirche, der Calvinismus (ein Begriff, den sowohl Calvin selbst als auch die calvinistischen Kirchen ablehnten), verbreitete sich in den folgenden Jahrzehnten erfolgreich in Europa, v.a. in Frankreich, England, Schottland und den Niederlanden sowie in Nordamerika. Einen direkten Einfluss hatte der Calvinismus sowohl auf den französischen Protestantismus, dessen Anhänger, die Hugenotten, von der Römisch-katholischen Kirche auf das Schärfste verfolgt wurden, als auch auf den sich der anglikanischen StaatskircheStaatskirche in England widersetzenden PuritanismusPuritanismus. Teilweise von ihm beeinflusst wurden die → Anglikanische Gemeinschaft, die → Baptisten und die → Methodisten.
Der PuritanismusPuritanismusDer PuritanismusPuritanismus [→ Anglikanische Gemeinschaft] bildete mehrere verschiedene Richtungen aus, die zwar durch die Westminster-Confession von 1646 geeint waren, aber unterschiedliche ekklesiologische Vorstellungen aufwiesen. Im KongregationalismusKongregationalismus wird die Kirche als unabhängige Einzel- oder Ortsgemeinde gesehen, die allein zuständig ist für ihre Lehre und ihr Gemeindeleben, im Presbyterialismus ist die Kirche das Zusammengehen von bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde mit synodaler Struktur. Der Presbyterialismus steht zwischen dem hierarchischen Episkopalismus und dem Kongregationalismus. Die Dissenters, die sich ebenfalls aus dem Puritanismus entwickelten, galten als nonkonformistische, kongregationalistisch geprägte Separatisten. Im Zuge von Verfolgungen in England wanderten viele Puritaner in die Niederlande und nach Nordamerika aus, wo sie entscheidend die Geschichte des Protestantismus prägten.
Die Verbreitung des CalvinismusDie französische reformierte Kirche erhielt durch den Calvinismus entscheidende Impulse. Ihre Generalsynode übernahm 1559 die Kirchenordnung, die Calvin$Calvin, Johannes, 1509–1564, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber des Calvinismus 1541 in Genf eingeführt hatte.
Die Kirche von Schottland bekam durch John Knox$Knox, John, 1514–1572, schottischer Reformator, Mitbegründer der presbyterianischen Kirche (1514–1572), einen Reformator, der bei Calvin in Genf dessen Kirchenreformen studiert hatte, ein reformiertes Gepräge. 1560 nahm das Schottische Parlament die im Wesentlichen auf ihn zurückgehende Confessio Scotica an. Die Kirche von Schottland ist bis heute eine presbyterianische, d.h. reformierte Kirche, die stark vom Calvinismus beeinflusst ist.
In Deutschland war der Calvinismus nur schwach vertreten, wirkte aber auf den PietismusPietismus ein. Dieser erstreckte sich über die ErweckungsbewegungErweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in die → Gemeinschaftsbewegung hinein.
Eine spezielle historische Entwicklung in Deutschland und der Schweiz stellt die Herausbildung eines territorialen Staatskirchentums dar. Dieses Staatskirchentum, das auf deutschem Gebiet im sogenannten Landesherrlichen KirchenregimentLandeskirchentumLandesherrliches Kirchenregiment seine Ausdrucksform fand, hatte weitreichende Folgen für die Gestalt der Kirchen, ihre Bezüge zu der sie umgebenden und durchdringenden Gesellschaft und zur Politik. Für eine konfessionskundliche Darstellung ist insbesondere das Verhältnis der territorialen StaatskirchenStaatskirche zu den anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften von Interesse.
StaatskircheStaatskircheIn Europa gab es seit Antike und Mittelalter das Staatskirchenwesen, für das die prinzipielle Übereinstimmung der religiösen Weltanschauung, d.h. des Christentums, sowohl bei den weltlichen als auch bei den geistlichen Machthabern charakteristisch war. Staatsangehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft waren weitgehend identisch. Auch in der Reformationszeit, als sich die evangelische Konfession herausbildete, löste sich dieses Staatskirchentum nicht auf, sondern erhielt eine neue Gewichtung.
Der Landesherr als NotbischofBischofNotbischofBei der Neugestaltung der Kirche auf den reformatorischen Territorien kam es mit dem Wegfall der katholischen Bischöfe zu einem Vakuum des leitenden geistlichen Amtes. Vor dem Hintergrund einerseits der Vorstellung des Priestertums aller Gläubigen und andererseits der Territorialtheorie, nach der die Landesherren auf ihren Herrschaftsgebieten auch die Befehlsgewalt über die Kirche inne hatten, wurde den Landesherren die Kirchengewalt auf den jeweiligen Territorien, in der Art eines „NotbischofsBischofNotbischof“, verliehen. Der Landesherr wurde zum obersten BischofBischof seiner Kirche, zum Summus Episcopus und übernahm auf seinem Herrschaftsgebiet in Personalunion beide Funktionen: die weltliche und kirchliche Leitung. Damit wurden auf reformatorischen Gebieten Staat und Kirche erneut eins. Das Prinzip des cuius regio, eius religio, d.h. ,wessen Gebiet, dessen ReligionReligion‘, des Augsburger Religionsfriedens von 1555 – dort in der Formulierung „Ubi unus dominus, ibi una sit religio“, aus der der Jurist Johann Joachim Stephani$Stephani, Johann Joachim, 1544–1623, Rechtswissenschaftler (1544–1623) 1599 die Formel cuius regio, eius religio machte – ordnete die Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. In vertiefter Form erfolgte das im Westfälischen FriedenWestfälischer Friede von 1648. Nun hatten sich die Gläubigen nach der Konfession, d.h. dem römischen Katholizismus oder dem lutherischen oder reformierten Glauben des Landesherrn zu richten. Andernfalls mussten sie auswandern. In der Praxis kam es zwar sowohl in Reichsstädten als auch bei Konversionen von Landesherren zu Ausnahmen, aber dieses Prinzip blieb bis zum Ende der Monarchie und der Trennung von Staat und Kirche in der Verfassung des Deutschen Reichs, der Weimarer Verfassung von 1919, rechtlich in Kraft.
StaatskircheStaatskirche und FreikirchenFreikirchenNeben einer Vielzahl von Auswirkungen ging damit die scharfe Trennung und Abgrenzung der staatlichen Kirchen, der Landeskirchen und der sogenannten FreikirchenFreikirchen einher, d.h. den Kirchen, die nicht staatsopportun waren. Den Begriff „frei“ in ihrem Namen führen diese Kirchen auf die freie Wahl ihrer Mitgliedschaft zurück. Er meint aber gleichermaßen auch die Freiheit von der staatlichen Bindung. So verschieden Freikirchen untereinander waren, einte sie die Ablehnung der Verbindung von Staat und Kirche und das Ideal der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen wie in der Zeit der frühen Kirche, als das Christentum noch nicht in den Status einer Staatsreligion erhoben worden war. Lange Zeit waren sie staatskirchenrechtlich gegenüber den Landeskirchen stark benachteiligt, wenn nicht gar grundsätzlich verboten und verfolgt. Aus Sicht der Landeskirchen haftete ihnen aufgrund ihrer kirchlichen Opposition der Hauch des Häretischen an. Überall dort, wo sie sich niederließen, traten sie durch das System des LandeskirchentumsLandeskirchentum zwangsläufig in Konkurrenz zu der kirchlichen Arbeit der Landeskirchen. So bildete sich ein Gegenüber und ein Gegeneinander von Landeskirchen und Freikirchen heraus, das Auswirkungen auf die Gestalt von Kirche auf beiden Seiten hatte.
FreikircheFreikirchenDen Terminus „FreikircheFreikirchen“ gibt es also nur in den Ländern, in denen ein territoriales Staatskirchentum wie das landesherrliche Kirchenregiment existierte, das die Trennung in Landeskirchen, d.h. „Kirchen“, und „Freikirchen“ überhaupt möglich machte. So sind nicht nur direkte Vergleiche zwischen der kirchlichen Situation in Deutschland und Ländern ohne Staatskirchentum von vornherein zum Scheitern verurteilt, werden nicht die Implikationen des deutschen LandeskirchentumsLandeskirchentum in die Betrachtung einbezogen. Auch die Charakteristika ein und derselben Kirche variieren je nach Kontext. Z.B. entwickelten sich in den USA, wo es kein Landeskirchentum gab, die Kirchen und DenominationsDenomination gleichberechtig nebeneinander. Glaubensgemeinschaften, die in Deutschland als „Freikirchen“ eine Marginalisierungsgeschichte aufweisen, z.B. die → Baptisten und die → Methodisten gehören in den USA neben reformierten, lutherischen und anglikanischen Kirchen zu den sogenannten Mainline Churches, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Mehrheit der US-amerikanischen Christen stellten.
Für die KonfessionskundeKonfessionskunde ist die Abgrenzung von Landes- und FreikirchenFreikirchen in Deutschland ein ausschlaggebendes Phänomen, da es ein spezifisches Strukturelement der gegenseitigen Positionierung von Kirchen darstellt, die global gesehen nicht oder zumindest nicht in dieser Form gegeben ist.
Da sich die grundsätzliche und massive Benachteiligung eines Teils der Kirchen und religiöser Gemeinschaften in Deutschland über Jahrhunderte hinzog und manifestierte, löste sie sich 1919 mit der verfassungsgemäßen Trennung von Staat und Kirche und der prinzipiellen rechtlichen Gleichsetzung aller Religionsgemeinschaften durch die Möglichkeit, Körperschaften des öffentlichen RechtsKörperschaft des öffentlichen Rechts zu werden, lediglich rechtlichDie Weimarer Verfassung auf, aber nicht im allgemeinen Bewusstsein. Das zeigt sich u.a. daran, dass der Begriff „FreikircheFreikirchen“, der sich aus der Frontstellung einer staatlichen und einer staatsunabhängigen Kirche ergeben hatte, nicht obsolet wurde, sondern bis heute besteht. Das wird dadurch gestützt, dass sich auch in der Gegenwart Freikirchen im Hinblick auf die Frage des Kirchensteuereinzugs durch den Staat von den Landeskirchen unterscheiden und in dieser Hinsicht den Begriff „frei“ im Sinne von „Freiwilligkeit“ nach wie vor auf sich anwenden. Den äußeren Niederschlag findet dieser Umstand darin, dass alle Freikirchen die Erhebung von Kirchensteuern aufgrund der damit verbundenen engen Verflechtung von Staat und Kirche und dem fehlenden Moment der Freiwilligkeit ablehnen und sich finanziell gänzlich auf die freiwilligen Spenden ihrer Mitglieder stützen.
Die Ausrichtung der vorliegenden KonfessionskundeKonfessionskunde erfolgt vorrangig im Hinblick auf eine deutschsprachige Leserschaft. Sie trägt vor diesem Hintergrund der deutschen historischen Genese der Trennung und unterschiedlichen Entwicklung von Landes- und FreikirchenFreikirchen Rechnung, indem eine Gliederung zugrunde gelegt wurde, die einerseits die Gruppe der Landeskirchen, andererseits die Gruppe der Freikirchen betrachtet. Damit sollen keine überholten Frontstellungen verfestigt, sondern lediglich die Verständlichkeit der konfessionellen Gemengelage im deutschen Kontext gewährleistet werden.
Obwohl die Geschichte des Verhältnisses von Landes- und FreikirchenFreikirchen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Annäherungen führte, war sie nicht frei von den traditionellen Prägungen und Vorurteilen.
Erste Annäherungen1949 begann sich die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche DeutschlandsVereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) (VELKD), [→ Lutherische Kirchen] der Regelung des Verhältnisses von Landeskirchen und FreikirchenFreikirchen anzunehmen. Die Gespräche der VELKD mit den Freikirchen waren erste Versuche, die in der Praxis an der Gemeindebasis oft unklaren oder kontroversen Verhältnisse zu regeln und im gegenseitigen Einvernehmen zu bereinigen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wurden auf unterschiedlichen Ebenen zwei Dokumente verabschiedet, die für das Verhältnis von Freikirchen und Landeskirchen wesentliche Rollen spielen sollten: Zum ersten die für die europäischen evangelischen Kirchen bedeutsame Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa, die ,Leuenberger KonkordieLeuenberger Konkordie‘, und zum zweiten die Erklärung „Freie Kirche im Freien Staat“ der bundesdeutschen FDP.
Leuenberger KonkordieLeuenberger Konkordie und Gemeinschaft evangelischer Kirchen in EuropaGemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) (GEKE)Die 1973 auf dem Leuenberg bei Basel verabschiedete Leuenberger KonkordieLeuenberger Konkordie stellte die Kirchengemeinschaft zwischen lutherischen, reformierten, unierten Kirchen sowie den vorreformatorischen Kirchen der → Waldenser und der Böhmischen Brüder [→ Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine] her. In ihr gewähren die unterzeichnenden Kirchen einander Gemeinschaft an Wort und SakramentSakrament, d.h. Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der OrdinationOrdination. Mit diesem Dokument fanden die beteiligten Kirchen erstmals zu einer gemeinsamen Auffassung von TaufeTaufe und AbendmahlAbendmahl und gaben die gegenseitigen Verwerfungen der Reformationszeit auf. Die Leuenberger Konkordie ist das Gründungsdokument der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in EuropaGemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) (GEKE), früher Leuenberger Kirchengemeinschaft. Derzeit sind über 100 europäische lutherische, reformierte und unierteUnion / Uniert Kirchen Mitglied der GEKE, u.a. sämtliche deutsche Landeskirchen. 1997 trat der europäische Teil der methodistischen Kirche mit einer Gemeinsamen Erklärung zur Kirchengemeinschaft bei, seit 2010 gibt es eine Kooperationsvereinbarung mit der Europäischen Baptistischen Föderation [→ Baptisten].
Annäherungen in den 1980er JahrenEine ebenfalls starke Wirkung auf das Verhältnis der deutschen Landeskirchen zu den FreikirchenFreikirchen in Deutschland hatte das sogenannte „Kirchenpapier“ der FDP, das 1974 als Erklärung „Freie Kirche im Freien Staat“ verabschiedet wurde und das im Sinne einer deutlicheren Trennung von Staat und Kirche die Gleichbehandlung von Großkirchen und Religionsgemeinschaften forderte. In Reaktion auf beides, den europaweiten Vorstoß zur Versöhnung der reformatorischen Kirchen und der politischen Aufforderung zum kirchlichen Umgang auf Augenhöhe begannen ab Mitte der 1970er Jahre einzelne Landeskirchen mit einer Intensivierung ihrer Beziehungen zu den Freikirchen. Seit 1981 kam es verstärkt zu Treffen zwischen Vertretern der EKD und der Freikirchen. Bis heute haben auf diversen Ebenen und in lokalen Rahmen Annäherungen stattgefunden und sind verschiedene „Healing of Memories“-Prozesse in Gang gesetzt worden.
Lutheraner und MennonitenSo hat z.B. die Lutheran World FederationLutheran World Federation (LWF) (LWF) nach vorausgegangenen Gesprächen auf nationaler Ebene in Deutschland und Frankreich auf ihrer Vollversammlung 2010 die → Mennoniten um Vergebung für die Verfolgungen im 16. Jahrhundert gebeten. Allerdings spielen die evangelischen FreikirchenFreikirchen als ökumenische Gesprächspartner bis heute in der Perspektive der deutschen Landeskirchen und der EKD keine so gewichtige Rolle wie die Römisch-katholische Kirche. So wies das Reformationsjubiläum 2017 seitens der evangelischen Landeskirchen und der EKD zwar einen starken ökumenischen Impetus auf, der sich aber im Wesentlichen auf die Römisch-katholische Kirche konzentrierte und Freikirchen fast vollständig ausschloss.
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (und der Schweiz) (ACKArbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen (ACK))Eine wichtige Rolle bei der Zusammenarbeit der verschiedenen, aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen, spielt die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACKArbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen (ACK)). Die ACK ist ein Dachverband für alle christlichen Kirchen in Deutschland, nicht nur der evangelischen, stellt aber trotzdem ein bedeutendes Forum der landeskirchlich-freikirchlichen Zusammenarbeit dar.
Die ACKArbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen (ACK) wurde 1948 als Nationaler Kirchenrat im Zuge der Gründung und ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen mit dem Ziel der Förderung ökumenischer Zusammenarbeit und der Einheit der KircheKircheEinheit der Kirchen gegründet. Die Bedeutung der ACK war in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung in Deutschland noch vergleichsweise gering, nahm aber seit Ende des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zu. Besonders die einzelnen regionalen ACK-Gruppen leisten mitunter einen weitreichenden Beitrag für das ökumenische Miteinander vor Ort. Die Struktur der Zusammenarbeit folgt der Gliederung in Mitglieder, Gastmitglieder und Ständige Beobachter. Zahlreiche orthodoxe und anglikanische Kirchen sowie die Römisch-katholische Kirche und die der EKD angehörigen (Landes)Kirchen sind Mitglied der ACK. Weiterhin haben zahlreiche FreikirchenFreikirchen die Mitgliedschaft oder Gastmitgliedschaft inne. Dadurch bietet sich hier auch die Möglichkeit einer intensiven evangelisch-evangelischen Zusammenarbeit.