Das entspannte Schweigen im Auto war angenehm. Carla war froh, dass Ruben am Steuer saß und sie ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte, ohne sich auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Es tat gut, die Augen zu schließen; auch war es wohltuend, nicht logisch schlussfolgern zu müssen, nachdem am Vormittag allerhand Informationen auf sie eingestürmt waren, die sie mit Ruben hin und her gewälzt hatte. Sie brauchte nur dazusitzen und zu beobachten, was ihr in den Kopf kam.
Am meisten beschäftigte sie die Frage, ob Fritz Modrok tatsächlich der Mann war, den sie suchten. Es erschien ihr unwahrscheinlich. Modrok war tot, dessen war sie sich sicher. Das lenkte die Aufmerksamkeit auf seine Söhne Max und Tommi. Wo waren die beiden? Warum tauchte Tommi nirgends auf, nicht einmal im Geburtsregister? Maik nahm an, dass Max seinen Vater ermordet hatte, weil er von ihm misshandelt worden war. War er der Serientäter? Aber warum, aus welchem Motiv heraus?
In Verlorenort angekommen drosselte Ruben die Geschwindigkeit und lenkte den Wagen im Schritttempo durch das menschenleere Örtchen. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, und es sah nach Regen aus. Als sie in den sich gabelnden matschigen Weg einbogen und das Haus der Modroks erreichten, klingelte Carlas Handy. Während Ruben den Wagen zum Stehen brachte, nahm Carla das Gespräch an. Es war Lydia, Maiks Frau.
»Ich glaube, Maik ist was zugestoßen«, platzte es aus ihr heraus, noch ehe Carla fragen konnte, wie es ihr ging. »Ich bin grade bei meinem Schwiegervater. Maik war seit zwei Tagen nicht hier. Der alte Mann ist völlig unterversorgt. Das würde Maik niemals zulassen!«
Lydias Beunruhigung übertrug sich schlagartig auf Carla. Dass Maik seinen Vater alleinließ, war tatsächlich mehr als ungewöhnlich. Eigentlich hatte er sich für dessen Versorgung ein paar Tage freigenommen.
»Habt ihr denn nicht zwischendurch mal telefoniert?«, fragte Carla.
»Wir telefonieren nicht jeden Tag, warum auch? Maik hat angeblich vor zwei Tagen das Haus verlassen und ist seitdem nicht mehr aufgetaucht. An sein Handy geht er nicht. Es meldet sich sofort die Mailbox.«
Carla folgte Ruben beim Aussteigen, das Handy weiterhin am Ohr, und suchte fieberhaft nach einer Erklärung, die Lydia und sie selbst ein wenig hätte beruhigen können. Aber ihr fiel nichts ein. Jede ihrer Mutmaßungen mündete in die Erkenntnis, dass Maik ein Unglück widerfahren sein musste.
»Hat er gesagt, wo er hinwollte?«, fragte sie, während ihr auffiel, dass die Haustür im Modrok-Haus nur angelehnt statt mit dem Bügelschloss verriegelt war. Maik hatte ihr einen zweiten Schlüssel gegeben, damit sie notfalls hier ermitteln konnte.
Ruben, der die offene Tür auch bemerkt hatte, ging argwöhnisch darauf zu.
»Nein. Sein Vater sagt, er sei einfach weg gewesen. Oh Gott, da ist was passiert! Ich fühle es ganz deutlich! Bitte sag, dass das nicht stimmt, sonst drehe ich gleich durch!«
Carla folgte Ruben, der die Haustür vorsichtig aufdrückte, blieb aber nicht bei ihm stehen, sondern ging ein Stück weiter und warf einen Blick in den Garten. Seltsam! Dort stand Maiks dunkelblauer Golf!
»Hör zu, Lydia, ich muss jetzt aufhören. Ich kümmere mich sofort um Maik und melde mich später bei dir. Versprochen!«
Sie legte auf und öffnete die Autotür, um Maiks Handy herauszuholen. Es war zum Aufladen angeschlossen. Ruben war ihr hinterhergekommen und lugte durch die Windschutzscheibe.
»Er muss im Haus sein«, sagte er. »Ich rufe einen Rettungswagen, für alle Fälle.«
Während Ruben sein Handy zückte, ging Carla zurück zur Haustür, wo ihr ein bestialischer Gestank entgegenwehte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, denn sie fürchtete, Maik tot vorzufinden. Es gab kaum eine andere Möglichkeit, als dass ihm hier im Haus etwas zugestoßen war, sonst würde sein Auto nicht im Garten stehen. Sie musste ihre Angst überwinden, denn womöglich lebte er noch und brauchte dringend Hilfe.
»Maik!«
Sie stakte durch ein fürchterlich stinkendes Chaos, das die Räume von Küche über Wohnzimmer und Schlafzimmer bis zum Bad durchzog.
»Maik!«
Nachdem sie alles durchsucht hatte, sah sie, dass die Kellertür offen stand.
Ruben kam zur Eingangstür herein; er hatte eine Taschenlampe dabei. Carla riss sie ihm aus der Hand und stieg die Stufen hinab, Ruben folgte.
Der Keller war überraschenderweise recht aufgeräumt. Carla leuchtete in einen größeren Raum mit alten Möbeln, einem Landschaftsbild und zwei Holzböcken. An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Tür, die zu einem weiteren Raum führte, in dem es unangenehm süßlich roch. Langsam ging sie hinein. Der Strahl ihrer Taschenlampe flackerte über eine Holztruhe, eine verweste Matratze, altes Bettzeug und krabbelnde Insekten. Ihr wurde übel.
»Verdammt, das ist ja nicht zum Aushalten!«, fluchte Ruben, der hinter ihr stand und sich eine Hand vor Mund und Nase hielt.
In einer Ecke des Raumes lag eine Brieftasche. Carla hob sie auf. Sie gehörte Maik.
Innerhalb kurzer Zeit hatten sich ein Rettungsteam aus einer Notärztin und zwei jungen Sanitätern sowie ein Trupp Bereitschaftspolizisten eingefunden. Sie hatten vor dem Haus der Modroks Stellung bezogen und warteten auf Carlas Einsatzbefehl. Das flackernde Blaulicht des Ambulanzwagens ließ das heruntergekommene Gebäude rhythmisch aufleuchten. Die beiden Revierpolizisten Hannes und Svenja waren ebenfalls erschienen. Zusammen mit einigen Zivilbeamten waren sie ausgeschwärmt, um die Dorfbewohner zu befragen. Vielleicht war jemandem etwas aufgefallen. Momentan hatten sie nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo Maik sich aufhalten könnte.
Carla saß mit Ruben im Auto und versuchte mit Hilfe der Ermittlungsakte herauszufinden, was Maik im Modrok-Haus gesucht hatte, auch wenn sie nicht wusste, inwiefern sie das weiterbringen würde. Aber sie musste irgendetwas tun. Ihr war speiübel, und sie gab sich alle Mühe, Gefühle von Sorge und Panik nicht allzu sehr hochkommen zu lassen. Sie hatte zu funktionieren, schließlich ging es um das Leben ihres geliebten und geschätzten Kollegen.
Maik war so etwas wie ein Sohn für sie. Er hatte vor sechs Jahren in ihrer Mordkommission angefangen, als er gerade frisch von der Hochschule kam, und sie hatte ihn eingearbeitet. Seitdem hatten sie eine enge berufliche Beziehung zueinander, und auch privat kannten sie sich gut. Carla wusste, wann es in Maiks Ehe kriselte, und Maik nahm teil an Erziehungsproblemen mit Toni und Leonie. Sie besuchten sich gegenseitig, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab, und sie versackten auch schon mal in einer Kneipe zusammen. Ihre schlimmste Befürchtung war, dass der Täter ihn in eine Kiste gesperrt hatte und er irgendwo in den Wäldern Brandenburgs einen einsamen Tod fand.
Sie blickte von der Akte auf und sah, dass ein Mannschaftswagen mit Kollegen der Spurensicherung heranfuhr und parkte. Sie wollten den Kellerraum, wo Maik mutmaßlich überfallen worden war, untersuchen. Anschließend würde das gesamte Inventar des Hauses zur Polizeidirektion gebracht werden, um es zu sichten und zu ordnen.
»Ich glaube, ich weiß, warum er hier war«, sagte sie zu Ruben, der hinter dem Steuer saß und in Gedanken versunken durch die Frontscheibe starrte. Sie hatte noch einmal das Protokoll des Kanada-Skype-Gesprächs mit der Adoptivmutter Max Modroks überflogen. »Der Junge hat im Keller schlafen müssen. Maik wollte nachsehen, ob er eine Spur von ihm fände, weil er ihn für den Mörder des alten Modroks hält.«
»Wahrscheinlich hat ihn der Täter dabei überrascht und überwältigt«, sagte Ruben, noch immer geradeaus schauend. »Vielleicht ist er Maik von zu Hause aus gefolgt. Oder es war Zufall, dass sie sich hier begegnet sind.«
Carla dachte daran, dass sie für Maik keine Schutzwache angefordert hatte, weil sie nicht gewusst hatte, dass die Fälle zusammenhingen und er genau wie die anderen Kollegen in Gefahr war. Sie wäre im Leben nicht darauf gekommen.
Plötzlich tauchte Hannes an ihrem Seitenfenster auf und klopfte sachte an die Scheibe. Sie erschrak sich so sehr, dass sie einen kurzen Schrei ausstieß. Es war der nervlichen Anspannung geschuldet.
»Wir haben was!«, rief er.
Carla und Ruben stießen die Türen auf und stiegen aus. Hannes war ein wenig außer Atem. Er schien gelaufen zu sein.
»Eine ältere Frau, die nicht schlafen konnte, will gegen fünf heute früh hier im Wald ein Licht flackern gesehen haben. Als wenn jemand mit einer Taschenlampe geleuchtet hat. Das Licht habe sich in den Wald hineinbewegt.«
»Ich danke dir!«
Carla wandte sich an die Einsatzkräfte und das Rettungsteam, die in kleinen Gruppen wartend zusammenstanden.
»Wir durchsuchen den Wald!«, rief sie ihnen zu, während Ruben am Auto stehend über Funk eine Hundertschaft mit Hunden orderte.
Der Trupp machte sich sofort auf den Weg, ohne auf die Verstärkung zu warten. Die beiden Sanitäter trugen eine Trage, die Notärztin begleitete sie. Alle hatten eine Kette gebildet, unter ihren Füßen raschelte Laub. Schon bald kreiste ratternd ein Hubschrauber über den Baumwipfeln. Er war mit einer Wärmebildkamera, die Lebewesen lokalisieren konnte, ausgestattet. Hannes und Svenja hatten sich eingereiht. Ruben war beim Haus geblieben, um die Hundertschaft, die in Kürze einträfe, in Empfang zu nehmen.
Carla, die inmitten der Kette neben Svenja ging, versuchte sich vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse vorzustellen, was geschehen war. Maik war bei seiner Recherche im Keller des Hauses vom Täter überrascht und eingesperrt worden. Heute früh war der Täter zurückgekehrt und hatte Maik in den Wald verschleppt und was auch immer mit ihm angestellt.
Nach etwa einer Stunde hatten sie noch immer keine Spur von ihm. Die Hundertschaft mit Ruben war inzwischen ebenfalls aufgebrochen. Sie hatte sich einen anderen Teil des Waldes vorgenommen. Stimmen aus den Funkgeräten schallten durch die Bäume; über ihnen kreiste unentwegt der Hubschrauber. Das knatternde Geräusch beruhigte Carla, denn es signalisierte, dass die Polizei alles in ihrer Macht Stehende tat, um Maik zu finden. Und doch würde es schwierig sein, von dort oben etwas zu entdecken. Der Laubbewuchs war zu dicht.
Da das Gebiet sehr groß war, könnte sich die Suche noch bis in die Nacht hineinziehen. Die Frage, die Carla am meisten quälte, lautete, was der Täter mit Maik angestellt hatte. Hatte er ihn in eine Kiste gesteckt? Dann lebte er womöglich nicht mehr, weil die Atemluft verbraucht war. Oder hatte er ihn auf eine andere Weise bestraft?
»Objekt in Sichtweite«, rief eine junge Schutzpolizistin, die von Carla aus gesehen am anderen Ende der Kette lief. »Etwa achtzig Meter voraus.«
Carla sah angestrengt nach vorne. Weil sie nichts erkennen konnte, löste sie sich aus der Kette und lief zu der Schutzpolizistin, während sich die Beamten schneller werdend auf das mutmaßliche Objekt zubewegten. Plötzlich erspähte Carla so etwas wie einen Fremdkörper, der nicht in den Wald gehörte, und sie erkannte, dass es Maik war. Bei seinem Anblick schauderte ihr.