Als er auf der Landstraße fuhr, sah er in den Rückspiegel und wunderte sich, dass er die Brille und den Mantel seines Vaters trug. Auch die Makarow, die in einem Holster an seinem Körper steckte, hatte seinem Vater gehört. Er erinnerte sich nicht, die Dinge angezogen zu haben, und eine seltsame Mischung aus Unruhe und Angst stieg in ihm auf. Ihm war sogar entfallen, was er in den letzten Stunden getan hatte. Er erinnerte sich lediglich daran, dass er auf dem Weg zum Gasthaus »Lindengarten« war, um seine Kollegen zu treffen. Doch was machte er auf dieser einsamen Landstraße? Wo kam er her? Die Erinnerungslücken häuften sich in der letzten Zeit. Konnten sie erste Anzeichen einer Demenz sein? In seinem Alter?
Er fuhr in einer Bucht rechts ran, stellte den Motor aus und legte die Brille in sein Handschuhfach. Der Himmel war bedeckt, und in Kürze würde es regnen. Er stieg aus und verstaute den Mantel und die Pistole im Kofferraum. Es machte ihn traurig, diese Dinge in der Hand zu halten, denn er fühlte die Liebe seines Vaters und den Schmerz, den dessen spurloses Verschwinden bei ihm hinterlassen hatte. Als Kind hatte er sich oft vor den großen Spiegel im Schlafzimmer gestellt und so getan, als wäre er sein Vater. Mit Mantel, Brille und dem Holster am Körper hatte er das Gefühl gehabt, tatsächlich er zu sein. Die Pistole war erst später hinzugekommen. Als sein Vater vermisst wurde, hatte die Polizei angenommen, er hätte seine Waffe dabeigehabt. In Wirklichkeit hatte er die Pistole behalten. Als Andenken an den Mann, dem er so viel zu verdanken hatte.
Das Landgasthaus war gut besucht an diesem späten Mittag. Hannes und Norman winkten ihm zu, als er sich zwischen den Tischen hindurch zu ihnen vorarbeitete. Sie hatten einen Platz am Fenster mit Blick auf die Straße ergattert. Der Regen prasselte gegen die Scheibe.
»Hallo!«, schallte es, und sie klatschten die Handflächen aneinander, dann setzte er sich. Seine Kollegen hatten bereits jeweils ein großes Bier vor sich stehen. Es hatte sich so eingespielt, dass sie sich einmal in der Woche hier trafen, um über die Arbeit und alles Mögliche zu sprechen.
Als die Kellnerin kam, bestellte er sich einen kleinen Thunfischsalat und ein Mineralwasser. Er hatte keinen Hunger, denn diese Unruhe-Angst-Mischung hatte völlig Besitz von ihm ergriffen. Außerdem hatte er das Gefühl, noch irgendetwas erledigen zu müssen, aber er wusste nicht, was. Es quälte ihn, weil er glaubte, dass es wichtig war. Etwas nicht zu tun, das eigentlich getan werden musste, war ein Zustand, den er kaum aushielt. Am liebsten würde er gar nichts essen, aber er wollte sich auch nichts anmerken lassen. Seine Kollegen brauchten nicht zu wissen, dass so merkwürdige Dinge in ihm vorgingen in den vergangenen Wochen.
»Mensch, eins kannst du doch mal«, sagte Hannes und hob sein Bierglas. Es war eine Anspielung auf das Mineralwasser, das er bestellt hatte. Doch er wollte partout keinen Alkohol trinken. Es trübte sein Bewusstsein und entzog ihm die Kontrolle.
Norman und Hannes bestellten das Schnitzel von der Mittagskarte. Als sein Mineralwasser kam, prosteten sie sich zu.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Norman, nachdem sie getrunken hatten.
»Was soll mit mir sein?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst so abwesend. Irgendwie verändert in letzter Zeit.«
»So?«
»Ja«, sagte Hannes. »Hab ich auch bemerkt.«
Er wunderte sich, dass sein Befinden anderen auffiel, tat erstaunt und schüttelte den Kopf. »Nein, alles gut.«
»Ich hab schon überlegt, ob eine Braut im Spiel ist«, sagte Hannes, und alle lachten.
Dann lenkte Norman die Unterhaltung auf das Thema Nummer eins: Maik Frosch, der kopfüber aufgehängt in einem Wald gefunden worden war. Es beschäftigte die gesamte Polizeidirektion, und ein jeder stellte sich vor, dass es auch sie oder ihn hätte treffen können. Dieser Serientäter bedrohte nicht nur das Ermittlerteam, er hielt die gesamte Polizei im nördlichen Brandenburg in Atem.
Auch ihn beschäftigte es. Er kannte Maik ganz gut und schätzte ihn als freundlichen und gewissenhaften Kommissar.
Während Norman und Hannes, der bei der Auffindesituation dabei gewesen war, den Moment des Entdeckens zum wiederholten Male durchkauten, tauchte plötzlich ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Er sah den Keller im Haus seiner Kindheit vor sich. Als sei er erst vor Kurzem dort gewesen. Doch die Erinnerung verschwand so blitzartig, wie sie gekommen war, sodass er Schwierigkeiten hatte, sich das Bild noch einmal zu vergegenwärtigen. Es verwirrte ihn, denn er hatte das Haus seit dem Verschwinden seines Vaters in den 1980er Jahren nicht mehr aufgesucht. Warum war dieses Bild in ihm hochgekommen? Es war eines dieser seltsamen Dinge, die seit geraumer Zeit in ihm vorgingen und die ihn beunruhigten.
Als die Kellnerin das Essen brachte, merkte er, dass er von hier wegwollte. Sein Magen war wie zugeschnürt, und er bekäme keinen Bissen hinunter. Außerdem wollte er nicht, dass Hannes und Norman sein Befinden bemerkten. Es würde sie nur noch misstrauischer machen. Er legte einen Geldschein auf den Tisch, entschuldigte sich für sein vorzeitiges Gehen und verabschiedete sich.
In der Neuruppiner Innenstadt herrschte reges Treiben. Er hatte zwei hellblaue Hemden sowie einige Lebensmittel eingekauft und eilte mit den vollbepackten Tüten zu seinem Auto, das am Straßenrand parkte. Als er den Kofferraum öffnete, um die Einkäufe zu verstauen, bemerkte er den NVA-Mantel und das Holster seines Vaters auf der Ladefläche. Warum waren diese Dinge dort?
Er stellte die Tüten am Boden ab und klappte den Ladeboden hoch, denn darunter befand sich ein Staufach, wo er Mantel und Holster unterbringen konnte. Doch in dem Staufach lag ein langes, zusammengerolltes Seil, das den gesamten Platz einnahm. Sein Kopf begann zu schmerzen, als ihm einfiel, dass er sich dieses Seil vor Kurzem aus dem Keller seines Elternhauses besorgt hatte. Er hatte es geholt, um nicht noch einmal hinfahren zu müssen, wenn er es brauchte.
Er hielt sich die Hand an die Stirn, denn die Kopfschmerzen wurden heftiger, während die Erinnerung allmählich zurückkehrte. Als er das Seil hatte holen wollen, hatte er den Kommissar dabei erwischt, wie er sich in das Haus geschlichen hatte. Dafür hatte er ihn bestrafen müssen. Es gab Menschen, die machten Dinge, die sie nicht tun durften. Sie hielten sich nicht an Regeln, drangen in fremde Häuser ein oder missachteten Vorgesetzte oder Personen, die hierarchisch über ihnen standen. So wie der Junge, der die alte Dame hatte treten wollen. Er war es, der als Nächstes bestraft werden musste.
Er tauschte sein Holster gegen das seines Vaters, zog sich den Mantel an und setzte sich hinter das Steuer. Nachdem er die Brille aus dem Handschuhfach geholt hatte, startete er den Motor.