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EIN HAUS IN PORTMORE, KÜSTENSTADT SÜDLICH VON KINGSTON, JAMAIKA

Leticia Ortiz legte den Telefonhörer auf und blickte nach draußen in ihren kleinen Garten. Sie war müde. Wobei, müde war gar kein Ausdruck. Die letzten Wochen waren wahrhaft kräftezehrend gewesen. Niemals hätte sie gedacht, dass dieses Projekt so anstrengend sein würde. Und sie war gerade mal Mitte 30. Wie schaffte man das, wenn man älter wurde? 

Leticia schüttelte den Kopf. Sie kandidierte als Prime Ministerin von Jamaika. Was musste man als amerikanischer Gouverneur, als deutscher Bundeskanzler oder als US-Präsident über sich ergehen lassen? Es erschien ihr unvorstellbar.

Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und ging durch ihr spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer. Ursprünglich war es als Kinderzimmer gedacht, aber in den letzten Jahren musste sie schmerzhaft feststellen, dass das Thema „Beziehung“ nicht ihre Stärke war. Das Zimmer umzufunktionieren, war ihr deshalb nicht schwergefallen. Ein kleiner Schreibtisch, ein paar Aktenschränke, eine Couch mit Beistelltisch für Besprechungen mit ihrem Stab und eine Klimaanlage, die mehr Lärm machte, als dass sie die Luft kühlte, mehr befand sich nicht in ihrem improvisierten Wahlkampfhauptquartier.

Wenn man sie so in ihrem Reich sah, musste man sie fast bedauern. Beinahe jeder in Leticias Freundeskreis hatte den Kopf geschüttelt und sie mitleidig angesehen, als sie von ihrer Kandidatur erzählte.

„Gegen Grayson Graves?“, hatte man sie entsetzt angesehen. „Na, viel Spaß dabei.“

Niemand, nein, so richtig niemand glaubte, dass sie auch nur ansatzweise eine Chance hatte. Eine Chance gegen Grayson Graves, alteingesessener Bürgermeister von Kingston und nebenbei ein Verbrecher der übelsten Sorte.

Leticia hatte es sich zum Ziel gesetzt, die illegalen Machenschaften von Graves aufzudecken. Er war ein Selfmademan, der sich aus der Gosse von Jamaika zum wohlhabendsten Mann im Lande hochgearbeitet hatte. Seine Machenschaften reichten von Erpressung, Entführungen bis hin zum Drogen- und Menschenhandel. Ein Gangsterboss der übelsten Sorte. Er war sozusagen unantastbar. Seinen politischen Einfluss benutzte er nur, um seine Machenschaften in aller Ruhe durchführen zu können. Mehr noch, er hatte seinen Einfluss und sein Reich auf das stärkste Fundament gebaut, das es auf den Inseln der Karibik gibt: die Angst und den Aberglauben rund um die fragwürdige Voodoo-Religion. Gerüchte machten die Runde, dass er mit seinen engsten Anhängern Rituale feierte. Viele wussten von all dem. Und alle, die es wussten, fürchteten um ihr Leben und hielten den Mund.

Genau das wollte sie nicht. Sie wollte nicht ihren Mund halten. Denn es musste irgendjemand etwas unternehmen. Und das war sie. Sie musste das Lebenswerk ihrer Mutter vollenden.

Sie stand an der Terrassentür und lehnte ihren Kopf gegen das Glas. Langsam atmete sie ein und aus. Jedes Mal, wenn ihre Gedanken zu kreisen begannen, endete sie bei diesem bitteren Ende. Langsam hob sie den Kopf von der Scheibe, nur um ein paar Sekunden später wieder mit der Stirn dagegenzuklopfen. Zuerst nur ganz leicht. Je mehr sie den Schmerz spürte, umso heftiger schlug sie den Kopf gegen die Fensterscheibe. Beim letzten Mal hatte sie bereits Angst, dass das Glas zerbersten würde, und sie ließ schließlich davon ab. Sie betrachtete ihr mattes Spiegelbild.

Eine dicke, einsame Träne lief über die beiden Muttermale unter ihrem Auge. Muttermale, die sie bei jedem Blick in den Spiegel an ihre Mutter erinnerten, die genau die gleichen Male unter ihrem Auge trug. Sie ging zu ihrem kleinen Wandsafe, den sie als Erstes hatte einbauen lassen, als sie in diesem Haus eingezogen war.