Tom sprang aus einem der beiden schwarzen Schlauchboote. Hellen, Rossi und ein weiterer Söldner folgten ihm. Knietief wateten sie durch das Wasser und zogen, im Schutz der Dunkelheit, ihr Boot an Land. Vier weitere Söldner, ebenfalls schwer bewaffnet, zerrten nur wenige Meter neben ihnen das zweite Schlauchboot ans Ufer.
Alle Mitglieder der Landungstruppe trugen schwarze Wetsuits, taktische Westen mit etlichen Ersatzmagazinen, Pistolenholstern an den Oberschenkeln, Messer, sogenannte Wasp-Injection-Kniefs und Heckler&Koch-G36-Sturmgewehre.
Das sechsköpfige Team rund um seinen Anführer Gabriele Rossi lief über das schmale Strandstück, ging am Waldrand in Deckung, sicherte die Umgebung und versteckte die Schlauchboote im Gebüsch. Tom und Hellen trugen dieselbe Adjustierung, nur Hellen hatte ein Sturmgewehr dankend abgelehnt.
Tom rückte sich das Kehlkopfmikrofon am Hals zurecht. Er drückte den Push-to-Talk-Button, der wie ein Ring auf seinem Finger steckte, als auch er und Hellen am Waldrand angekommen waren.
„Landetruppe an Lockvogel“, flüsterte er und ließ den Sprachknopf wieder los. Er vernahm nur ein Knistern in seinen wasserfesten In-Ear-Kopfhörern. „Hätten wir uns nicht etwas originellere Rufzeichen einfallen lassen können?“
Er wiederholte seinen Funkspruch. Nichts. Wieder nur Knistern. Hellen sah ihn ängstlich an.
„François, bist du da“, sagte Tom etwas eindringlicher, nachdem er wieder den Sprachknopf gedrückt hatte.
„Landetruppe an Lockvogel, melden Sie sich“, hörten sie Rossi sagen. In seiner Stimme schwang eine aufkeimende Nervosität mit. La Mamma, Cloutards Mutter, würde ihm eigenhändig das Herz aus dem Körper reißen, wenn er ihren geliebten Francesco nicht heil zu ihr zurückbringen würde.
Cloutard, der sie erst 30 Minuten zuvor mit dem Helikopter mitten auf dem Meer abgesetzt hatte, sollte danach die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um den beiden Schlauchbooten genug Zeit zu geben, unbemerkt an Land gehen zu können. Zuvor hatte er, im sicheren Abstand zur Insel, den Helikopter dicht über dem Wasser in eine Schwebeposition gebracht. Rossi hatte die Schiebetür aufgezogen, zwei Pakete ins Wasser geworfen und war, ohne zu zögern, hinterhergesprungen. Fünf der sechs Söldner folgten einer nach dem anderen. Einer der Männer blieb zurück, um Cloutard zu helfen. In Sekundenschnelle hatten sich die beiden Pakete in Schlauchboote verwandelt. Das Wasser, aufgewirbelt durch die Rotoren des Hubschraubers, peitschte Tom und Hellen erbarmungslos ins Gesicht, als sie sich an der Seitentür in Position gebracht hatten.
„Du musst das nicht tun“, brüllte Tom, um das ohrenbetäubende Tosen der Rotoren zu übertönen.
„Ich weiß, aber ich will es tun. Leticia braucht unsere Hilfe und außerdem muss jemand aufpassen, dass du nicht wieder irgendeinen unüberlegten Blödsinn machst.“ Sie lächelte Tom an.
„Dann los, mach genau, was ich dir gesagt habe.“
Hellen nickte und sah in die Tiefe. Die Söldner saßen wartend in den Schlauchbooten. Rossi winkte ihr auffordernd zu. Immer wieder sah Cloutard aus dem Cockpit nach hinten in den Ladebereich und versuchte, den Helikopter so ruhig wie möglich zu halten.
„Das hat man davon, wenn man mit einem Adrenalinjunkie verheiratet ist“, sagte Hellen mehr zu sich selbst und atmete tief ein. Mit zugekniffenen Augen und vor der Brust verschränkten Armen hatte sich Hellen in die Tiefe fallen lassen. Tom war hinterhergesprungen und Rossi und sein Kollege zogen sie an Bord. Der zurückgebliebene Söldner zog die Seitentür zu. Ein letztes Mal sahen sie nach oben und beobachteten, wie Cloutard den Helikopter in weitem Bogen dicht über dem Wasser zur anderen Seite der Insel steuerte.
„Hoffentlich geht das gut“, sagte Hellen.
„Cloutard weiß, was er tut, er ist ein guter Pilot.“
Die flüsterleisen, kleinen, aber starken Außenbordmotoren brachten sie rasch an ihr Ziel. Mit genauen Anweisungen von Torrente konnten sie sich, dank der ruhigen See, problemlos mit den Schlauchbooten der Insel nähern. Persönlich war er dazu nicht in der Lage gewesen, aber immerhin konnte er ihnen mit seinem detaillierten Wissen über diese Insel zur Seite stehen. Zu seiner Sicherheit hatten sie ihn in den fähigen Händen des Sanitäters und der Obhut von La Mamma zurückgelassen.
Auch Hellen war diesmal in den Genuss der taktischen Ausrüstung gekommen. Sichtlich unwohl, zupfte sie an ihrer Weste und dem Wetsuit herum, während sie auf ein Lebenszeichen von Cloutard warteten.
„Wie haltet ihr diese Dinger nur aus?“, flüsterte sie. „Ich fühl mich wie eine Domina in einem Latexanzug.“
Toms Augen weiteten sich.
„Woher weißt du, wie …?“, setzte Tom an, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Er schüttelte nur mit großen Augen den Kopf, um das mentale Bild in seinem Kopf loszuwerden. Hellen grinste schelmisch.
„Landetruppe an Lockvogel, bitte kommen“, wiederholte Rossi.
„Wir können hier nicht länger warten“, sagte Tom. „Wer weiß, warum sein Funkgerät nicht funktioniert.“
„Aber …“, sagte Hellen.
„Wir können im Moment nichts machen, François ist für den Moment auf sich alleine gestellt. Ich bin mir aber sicher, dass er es schaffen wird. Er ist ein cleveres Kerlchen.“
„Sie haben recht, wir sollten uns zum Treffpunkt aufmachen“, sagte Rossi.
Tom nickte.
Rossi sah nach links und rechts zu seinen Männern und vollführte eine drehende Handbewegung neben seinem Kopf. Die Männer erhoben sich. Dann deutete er mit der flachen Hand zweimal in den Wald. Im Abstand von ein paar Metern verschwanden die Männer, mit ihren Gewehren im Anschlag, im Unterholz.
„Na dann wollen wir mal“, sagte Hellen und stapfte los, den Männern hinterher. Tom lächelte, als er Hellens Hinterteil in dem engen Wetsuit sah. Für einen Moment schoss ihm das Bild von Hellen in einem Dominaoutfit erneut in den Kopf.
Konzentriere dich, dachte er und ging los.
Wortlos kämpften sie sich durch das Dickicht. Immer wieder warf Rossi einen Blick auf seinen Kompass, um darauf zu achten, in die richtige Richtung zu gehen. Im Wald war es nahezu unmöglich, einer geraden Linie zu folgen. Ein Grund, warum sich sogar heute noch Menschen verliefen. Zwangsläufig ging man im Kreis, ohne es zu bemerken. Nach etwa 20 Minuten hatten sie beinahe ihr Ziel erreicht.
Rossis geballte Faust schoss in die Höhe. Nahezu gleichzeitig hielten seine Männer inne und gingen in die Hocke. Tom war ebenfalls der Anweisung gefolgt. Nur Hellen stand immer noch aufrecht da, verwundert, was passiert war. Tom packte sie an der taktischen Weste und zog sie zu Boden. Er ging gebückt zu Rossi, der durch ein kleines Fernrohr blickte. Rossi reichte es an Tom weiter und deutete nach vorne. Tom setzte das zigarrengroße Fernrohr an sein Auge und sah hindurch. Ihm stockte der Atem.