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DIE KÜCHE IN LETICIAS HAUS

Hellen bemerkte sofort, dass mit Leticia doch nicht alles in Ordnung war. Während die Männer lautstark in der Küche weiter Witze rissen, zog sie Leticia zur Seite. Die beiden Frauen gingen nach draußen auf die Terrasse.

„Ist alles in Ordnung? War schon ziemlich heftig, was da gestern alles passiert ist.“

Leticia nickte und versuchte verzweifelt, ihre Tränen zu unterdrücken.

„Das ist es gar nicht. Ja, es hätte furchtbar ausgehen können, das ist es nicht, was mir zu schaffen macht. Auch wenn Mama schon lange Zeit nicht mehr da ist, fehlt sie mir in solchen Situationen einfach.“

Hellen wusste genau, was sie meinte. Auch wenn die Gefühle zu ihrem Vater nach allem, was passiert war, alles andere als einfach waren, hatte sie ihn doch hie und da vermisst. Leticia musste ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt haben. Dass das schwer war, konnte sich Hellen sehr gut ausmalen.

Hellen öffnete ihre Arme und Leticia nahm die Umarmung dankend an. Für ein paar Minuten standen die beiden Frauen einfach nur da. Auch für Hellen war dieser Moment gerade sehr tröstlich. Für Leticia noch viel mehr.

„Ich muss jetzt Mamas letzten Brief lesen. Er gibt mir immer Kraft“, sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie setzte sich und nahm den Brief zur Hand.

Shaw hatte, nachdem er Graves erschossen hatte, ihm den für Leticia so wichtigen Brief abgenommen. Überglücklich hatte sie ihn an sich gedrückt. Alles Geld der Welt, jeder noch so wertvolle Piratenschatz hätte diesen Verlust nicht aufwiegen können.

Hellen nickte verständnisvoll. „Möchtest du für einen Augenblick alleine sein?“, fragte sie und war bereits dabei zu gehen.

„Nein, Hellen, bleib ruhig hier“, sagte Leticia, entfaltete das Stück Papier und begann zu lesen. Hellen setzte sich zu ihr. Ruhig beobachtete sie Leticia und gab ihr die Zeit, die sie brauchte, um durch die letzten Zeilen, die ihre Mutter an sie geschrieben hatte, Kraft und Trost zu tanken.

„Mama wäre stolz auf mich gewesen“, sagte Leticia. „Nur schade, dass sie es nicht miterleben kann, dass ich nun die Wahl gewinnen werde und für Jamaika endlich Gutes tun kann.“

„Sie hätte sich sehr gefreut zu wissen, dass du vollendest, was sie begonnen hat“, sagte Hellen und legte ihre Hand auf Leticias Schulter.

Für einige Sekunden hörten die beiden nur das Meeresrauschen. Der intime Moment wurde durch Cloutards Ruf „Frühstück ist fertig!“ unterbrochen. Ein wenig müde lächelnd standen die beiden Frauen auf und gingen nach drinnen. Sie setzten sich an den Tisch, auf dem kaum mehr Platz war. Wie immer hatte sich Cloutard selbst übertroffen.

Alle begannen zu essen und es dauerte nicht lange, bis Cloutard von allen Seiten mit Komplimenten überhäuft wurde.

„Wie wäre es, wenn wir zur Feier des Tages anstoßen würden?“, fragte Cloutard.

„War klar, dass das jetzt von dir kommt, François“, sagte Tom. Torrente war begeistert und auch Shaw hatte nichts gegen einen Drink einzuwenden, obwohl es gerade erst 11 Uhr war.

„Lass uns probieren, ob das alte Zeug aus dem Pink House noch genießbar ist!“, sagte Cloutard und verschwand aus der Küche, um eine der Flaschen zu holen, die sie im Pink House gefunden hatten.

Leticia war nicht nach Feiern zumute, das merkte Hellen eindeutig. Zu viel war passiert, zu viel lag noch vor ihr, zu viel, was es noch zu verarbeiten galt. Sie las abermals im Brief ihrer Mutter. Hellen schielte auf die Zeilen und mit einem Mal blieb Hellens Blick auf einem Wort hängen.

„Jetzt werden wir mal sehen, ob der Whisky der Anne Bonny genauso gut ist wie der von den Piraten so sehr geliebte Rum“, sagte Cloutard und wollte sich schon an der alten Flasche zu schaffen machen.

„Oh mein Gott“, rief plötzlich Hellen so laut aus, dass alle erschraken.

Cloutard hielt die Flasche in der Hand und war in seiner Bewegung eingefroren, weil er dachte, er hätte etwas falsch gemacht. Auch die anderen starrten auf Hellen, die plötzlich ganz nervös auf den Brief zeigte.

„Lisa“, stammelte Hellen, „deine Mutter schreibt, dass Lisa die Lösung sei.“

„Das habe ich nie verstanden. Meine Mutter hatte eine gute Freundin, die Lisa hieß, mir war aber nie klar, was die mit der Sache zu tun haben soll.“

„Mit welcher Sache?“, fragte Tom.

„Meine Mutter war ja auch auf der Suche nach dem Schatz“, sagte Leticia und sah traurig auf ihren Vater. „Sie war begeistert, ja sogar besessen davon, den Schatz zu finden. Diesen Brief hat sie geschickt, als sie in Charleston einer Spur nachging. Warum ihre Freundin Lisa die Lösung sein sollte, war mir nie klar.“

„Wir haben mit Lisa später darüber gesprochen, aber sie weiß auch nicht, was meine Mutter damit gemeint haben kann.“

„Aber hinter dem Wort ist ein kleines Sternchen“, sagte Hellen und deutete auf einen blassen Punkt nach dem Wort „Lisa“.

Alle kniffen die Augen zusammen und starrten auf das Wort.

„Und?“, fragte Cloutard, der ungeduldig die noch immer geschlossene Whiskyflasche in der Hand hielt.

Hellen hatte den Brief an sich genommen. Sie hielt ihn gegen das Licht, drehte ihn um und untersuchte ihn genau. Tom lächelte. Er kannte den Instinkt seiner Frau.

„In einer Ecke des Briefes ist ein winziges M, auf der anderen Ecke ein A, in der dritten ein W und in der vierten ein klitzekleines U zu erkennen.“

„Mawu-Lisa“, stammelte Torrente. Auch Leticia hatte erstaunt ihre Augen aufgerissen.

„Wer ist das jetzt wieder?“, sagte Cloutard, der die Flasche resigniert zur Seite stellte. Shaw und Tom grinsten, die Geduld des Franzosen wurde gerade auf eine harte Probe gestellt.

„Mawu-Lisa ist die zweigeschlechtliche Gottheit im afrikanischen Vodun. Vodun ist der Ursprung des neuweltlichen Voodoo.“

„Und ich dachte, wir sind nach dem gestrigen Feuerwerk mit dem Hokuspokus durch“, sagte Tom.

Torrente war blass geworden. Er schüttelte den Kopf und sah seine Tochter entgeistert an.

„Hat deine Mutter Mawu-Lisa gefunden?“, fragte er kaum hörbar.

„Gefunden?“, fragte Hellen.

„Wie kann man eine Gottheit finden?“, hakte Tom nach.

„Es gibt eine Legende auf den Inseln, die seit Jahrhunderten weitererzählt wird. Auf Haiti soll eine alte Voodoo-Priesterin leben, die man für Mawu-Lisa hält.“

„Un moment“, fragte Cloutard, dessen Interesse sich nun von Whisky wieder in Richtung Schatzsuche verschoben hatte.

„Wie kann Leticias Mutter behaupten, dass eine alte Voodoo-Priesterin das Geheimnis kennt, wenn man seit Jahrhunderten die Legende über diese Voodoo-Priesterin erzählt?“

Torrente schluckte. „Man erzählte sich, dass Mawu-Lisa noch immer in einem Dorf auf Haiti lebt.“

„Ganz langsam. Noch mal für mich, der wie immer nur Bahnhof versteht“, sagte Tom. „Es werden seit Jahrhunderten von dieser alten Frau Geschichten erzählt und sie lebt heute noch auf Haiti?“

Torrente nickte. „Mawu-Lisa soll über 400 Jahre alt sein. Man nennt sie auf Haiti auch ‚La vieille sage‘.“

„Die alte Frau“, übersetzte Cloutard murmelnd.

„Ihr wollt mir weismachen, dass auf Haiti eine 400 Jahre alte Frau lebt, die vielleicht weiß, wo der Schatz der Anne Bonny ist?“, sagte Tom und sah Hellen an. Torrente nickte vorsichtig.

„Natürlich. Ganz klar. Total naheliegend“, sagte Tom und sah Hellen amüsiert an. „Da hätten wir aber auch selbst drauf kommen können.“