82

EINE HÖHLE IM YANKARI-NATIONALPARK, NIGERIA

„Kommt doch herein, worauf wartet ihr“, sagte Leticia Minuten später mit tränenverhangener Stimme. Sie wischte sich rasch eine kleine Träne weg und winkte die anderen herein. Wissend, was Leticia gerade durchmachte, legte Hellen ihren Arm um sie und reichte ihr ein Taschentuch. Herauszufinden, woher man kam, das Rätsel der eigenen Familie zu lösen und gleichzeitig mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass ihre geliebte Mutter der Antwort so nahe war, es aber nicht erleben durfte, war zu viel auf einmal. Es machte ihr sichtlich zu schaffen. Aber wenigstens hatte sie wieder zu ihrem Vater gefunden und auch mit Shaw war jemand Neues in ihrem Leben, mit dem sie ihre Leidenschaft und Zukunft teilen konnte, dachte Hellen. Sie winkte Shaw zu sich, ließ von Leticia ab und trat zur Seite. Shaw nickte und nahm Leticia in seine Arme. Auch Tom schien ein wenig gerührt. Hellen nahm seine Hand, denn sie wusste, dass für ihn noch viele Fragen offen waren, was die Geschichte seiner Familie betraf.

„Das ist mit Abstand das schönste Grabmal, das ich je gesehen habe“, flüsterte Hellen und betrachtete das Skelett, das nur zum Teil unter der Bettdecke hervorragte. Cloutard, sonst nicht um Worte verlegen, war immer noch sprachlos. Er zückte seinen kleinen Flachmann, prostete in Richtung des Bettes und trank einen großen Schluck.

„Ihre Vorfahren haben ganze Arbeit geleistet“, sagte Tom und ging zu dem Tisch, um die Gegenstände darauf näher zu betrachten. Er wagte es nicht, irgendetwas anzufassen.

„Ja, jede Generation hatte diesen Schrein gehütet und in Schuss gehalten. Wir bringen auch regelmäßig frische Blumen, als Dank für die Rettung unseres Volkes.“

Als sein Blick auf das Buch fiel, wandte er sich an Thabani und deutete fragend auf das Buch. Thabani nickte zustimmend und Tom hob das Buch auf. Er blätterte darin.

„Schau, Hellen, sieh dir das an“, sagte er und reichte es an seine Frau weiter. Begeistert überflog sie die Seiten.

„Das ist Annes Tagebuch“, sagte Hellen. „Hört euch das an.“ Leticia, Shaw und Cloutard traten an den Tisch.

Kuba, 15. März 1719

Es sind jetzt schon fünf Monate vergangen. Ich vermisse Jack von Tag zu Tag weniger. Ich weiß nicht, wie es wird, ihn wiederzusehen.

Boubacar hat mir in den letzten Monaten sehr geholfen. Trotz der Grausamkeiten, die ihm und seinesgleichen angetan wurden, ist er ein liebevoller Mensch geblieben.

Kuba, 14. Juli 1719

Ayidas aufzugeben war das Schwerste, das ich jemals tun musste. Aber hier auf Kuba ist sie sicher. Es sind nette Leute und sie werden sich gut um sie kümmern.

Leticia seufzte und lehnte sich an Shaw, der seinen Arm tröstend um sie legte. Hellen las weiter.

23. Juli 1719

Boubacar hat mir heute von seiner Heimat erzählt. Ein Land von solcher Schönheit klingt wie der Himmel auf Erden. Ich bin mir nicht sicher, ob Jack das zu schätzen wüsste. Sein Zorn der Krone gegenüber sitzt tief. Gold ist das Einzige, das ihn interessiert.

„Wer ist Boubacar?“, fragte Tom.

„Er war Annes Bodyguard während ihrer Zeit in Kuba. Er war ein Sklave, den Anne und Jack bei einem ihrer Raubzüge befreit hatten. Er war auch der Mann, der Anne zum Glauben meines Volkes gebracht hatte. Und er ist mein Vorfahre“, sagte Thabani und zwinkerte Tom zu.

Hellen blätterte weiter.

17. September 1719

Es ist alles vorbereitet. Der Stab ist versteckt, die Dublonen verteilt und der Schatz ist in Sicherheit. Die Falle ist gestellt. An Deck wird gefeiert, sie ahnen nicht, dass heute das Ende ist. Wenn die Handlanger der Krone meiner Fährte folgen, werden sie eine böse Überraschung erleben.

„Wir haben also genau das gefunden, was Anne wollte, das wir finden?“, sagte Cloutard. „Der Schatz ist nichts weiter als ein paar Flaschen Whisky?“

„Wartet, hier ist noch was“, sagte Hellen.

Thabani stand noch immer im Eingang zur Kapitänskajüte und beobachtete ihre Gäste.

12. Mai 1720

Tag 25 unserer Überfahrt. Die Winde sind günstig. Ich wollte, ich hätte mehr Männer und Frauen retten können. Boubacar war eine große Hilfe. Er hat eine großartige Crew zusammengestellt. Mit dem Gold im Frachtraum können viele Generationen überleben. Es macht die Gräueltaten nicht ungeschehen, aber so kann ich wenigstens den anderen helfen. „Opfern heißt, das Leben deiner Mitmenschen und Nachkommen zum Besseren zu wenden.“ Ich hoffe, die Priesterin auf Haiti hat recht.

„Der Schatz ist also wirklich hier?“, sagte Tom.

„Wo ist er?“, sagte Shaw ein wenig zu übereifrig.

„Ist er hier auf dem Schiff?“, fragte Hellen, obwohl sie die Absurdität ihrer Frage erkannte.

Thabani lachte.

„Ja, den Schatz gab es wirklich“, begann sie und blickte ringsum in enttäuschte Gesichter.

„Und nein, er ist nicht auf diesem Schiff in Fässern voll mit Goldmünzen, wenn ihr das meint.“

Wieder enttäuschte Blicke.

„Anne Bonny hatte an ihrem Sterbebett nur einen Wunsch geäußert. Da sie es ihr Leben lang bereut hatte, dass sie Ayidas auf Kuba zurücklassen musste, bat sie, dass für den Fall, dass einmal ein Nachkomme von Ayidas hier auftaucht, ihr ein Teil des Schatzes zustünde.“

Leticias Augen weiteten sich. Tom, Hellen, Cloutard und Shaw sahen sich erstaunt an.

„Aber wenn es keinen Schatz mehr gibt?“, begann Shaw.

„Ja, den tatsächlichen Schatz gibt es nicht mehr, das war vor 300 Jahren. Das Gold ist weg. Aber die Erträge davon sind noch da. Ich habe doch heute Morgen meine Foundation erwähnt. Ich habe sie nach diesem Schiff benannt. ‚Liberté‘ wurde mit den Erträgen, die die Nachfahren von Anne Bonny erwirtschaftet haben, finanziert und hilft auf der ganzen Welt. Mithilfe von Anne hat mein Volk schnell gelernt, die moderne Welt zu ihrem Vorteil zu nutzen und davon zu profitieren. Wir scheinen nicht im Forbes Magazin auf, weil wir nicht wollen, dass man von uns weiß, aber meine Familie gehört zu den reichsten Menschen auf der Welt. Und nun gehörst auch du, Leticia, dazu.“

Thabani hatte aus ihrem Turban einen kleinen USB-Stick gezogen und hielt ihn Leticia hin.

„Jetzt hast auch du die Möglichkeit, in deinem Land Gutes zu tun. Hier ist der Code zu deinem Wallet“, sagte Thabani lächelnd. „Ich hoffe, du akzeptierst Bitcoins.“