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IN EINEM AIRBUS ACJ320NEO, PRIVATJET DER VAN RENSBURGS, IRGENDWO ÜBER DEM ATLANTISCHEN OZEAN

Tom beobachtete Leticia. Sie saß alleine an einem kleinen Tisch in einem der bequemen Sessel, spielte mit dem USB-Stick in ihrer Hand und sah durch das kleine Bullauge hinaus auf den vorbeiziehenden Wolkenteppich.

„Was glaubt ihr, wie viel da drauf ist?“, sagte Shaw, der zusammen mit den anderen etwas abseits saß. Leticia wollte ein wenig alleine sein.

„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass van Rensburg nicht sonderlich glücklich sein wird, wenn wir ihm klarmachen, dass wir den Schatz dem jamaikanischen Volk gestiftet haben, ohne ihn vorher davon zu informieren“, sagte Tom.

„Ach was, was ich von Cloutard weiß, hat der Typ doch genug Kohle“, sagte Shaw, sah erneut zu Leticia hinüber und fixierte den USB-Stick.

„Na, immerhin bekommt er eine Kiste alten Whisky“, sagte Hellen und lachte.

„Was? Nein, pour l'amour de Dieu, die Kiste gehört mir“, sagte Cloutard. Hellen sah ihn kopfschüttelnd an.

„Zumindest eine Flasche?“, seufzte Cloutard.

„Das musst du dir mit unserem Boss ausmachen“, sagte Tom und streckte sich in seinem Sessel.

„Ich kann mich immer noch nicht so richtig bewegen“, sagte Tom und strich sich über seinen Waschbärbauch. „Das Essen gestern Abend war fantastisch.“

„Oui, magnifique“, Cloutard küsste seine Fingerspitzen und machte eine ausladende Handbewegung. „Ich habe mich sofort mit dem Koch unterhalten und mir ein paar Rezepte geben lassen. Westafrikanische Küche hatte ich bisher noch viel zu wenig auf meinem Radar, aber ist definitiv etwas, das ich noch näher erkunden muss“, sagte Cloutard.

„Thabani ist eine beeindruckende Frau, meint ihr nicht?“, sagte Hellen.

„Ja und die Gute weiß, wie man feiert. Mir brummt immer noch der Schädel. Was war das für ein Teufelszeug, das gestern ausgeschenkt wurde?“, stöhnte Tom.

„Ja, abgesehen davon“, Hellen lächelte.

„Was mich am meisten an der Frau fasziniert, ist, dass sie Leticia so bereitwillig mit offenen Armen in ihrer Familie aufgenommen und ihr obendrein weiß Gott wie viel Geld vermacht hat. Sie kannte sie ja nicht einmal 24 Stunden.“

„Ich weiß nur eines, Leticia wird das Richtige tun und den Menschen in ihrem Land helfen. Das hat diese Familie offenbar in den Genen“, sagte Cloutard. „Und du, mein Freund, wirst sie dabei tatkräftig unterstützen.“ Cloutard schlug Shaw auf die Schulter. Erschrocken fuhr Shaw hoch. Er hatte noch immer auf Leticia gestarrt.

„Ja, sicher“, sagte Shaw, etwas überrumpelt. Tom sah Shaw und dann Cloutard an. Er nahm sein Handy zur Hand und lehnte sich wieder in seinen Sessel.

„Ich werde van Rensburg mal ein kleines Update schicken, dass er nicht ganz so im Trüben fischt.“ Er tippte eine kurze Nachricht in das Gerät und drückte auf den Sendeknopf.

Ein spitzer Schrei von Leticia fuhr allen durch Mark und Bein. Die vier sprangen auf und eilten zu ihr.

„Was ist passiert?“, fragte Hellen, als sie bei Leticia angekommen war.

Wortlos drehte Leticia ihren Laptop in Richtung der vier. Der USB-Stick steckte an dem Gerät.

„Ich wollte eigentlich nur meine E-Mails checken, aber dann dachte ich, ich schau mal, was auf dem Stick drauf ist“, sagte sie mit bebender Stimme. Vier ungläubige Gesichter, die Münder weit offen, starrten auf das Display. Niemand sprach. Sekunden verstrichen.

Auf dem Display wurden 2700 Bitcoins angezeigt. Darunter war der umgerechnete Dollar-Betrag zu lesen.

Shaw hob seine Hand und zählte mit zitternder Hand die Nullen hinter der Zahl Eins.

„Sind das wirklich acht Nullen?“, fragte er stotternd.

„Sieht so aus“, sagte Tom.

„100 Millionen Dollar?“, staunte Hellen.

Cloutard, wieder einmal sprachlos, zog mit zitternder Hand seinen Flachmann hervor. Als er endlich den Verschluss geöffnet hatte, trank er einen großen Schluck und hielt das metallene Fläschchen in die Runde. Leticia, immer noch unter Schock, griff danach und lehrte den Rest in einem Zug. Sie hustete und gab Cloutard die leere Flasche zurück.

„Damit kannst du viel Gutes tun“, sagte Hellen. „Ich freue mich für dich.“

„Wir haben es geschafft, Bradley“, sagte Leticia zu Shaw, der sich neben sie gesetzt hatte. „Jetzt können wir alles umsetzen, das wir uns vorgenommen haben.“

Shaw nahm Leticia in den Arm und küsste sie.

„Wir sollten den Stick gut aufbewahren“, sagte Tom. „Ich werde ihn im Safe verstauen, bis wir gelandet sind. Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte von Bitcoin, dass der Key zur Chain verloren geht.“

Leticia nickte zustimmend, zog den Stick ab und reichte ihn Tom. Er ging zum Wandsafe, legte den USB-Stick hinein und verschloss ihn wieder.

„Jetzt können wir ruhig schlafen.“ Tom gähnte.

„Schlafen? En aucun cas, das muss gefeiert werden“, sagte Cloutard, stand auf, eilte zur Bar und kam wenig später mit fünf gefüllten Champagner-Gläsern zurück. Kurz darauf klangen die Gläser. Nach einer Stunde, immer noch geschafft vom Vorabend und der opulenten Abschiedsfeier, die Thabani ihrem neuen Familienmitglied ausgerichtet hatte, machten die fünf es sich gemütlich und schlossen für den Rest des Fluges ihre Augen.

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„Hier spricht der Kapitän, wir landen in etwa 30 Minuten in Kingston, Jamaika.“ Mit diesen Worten wurde das Team aus seinem wohlverdienten Schlaf geweckt. Sie begrüßten einander, tranken noch rasch einen Kaffee und packten ihre Sachen. Als die Maschine die Parkposition erreicht hatte, ging Tom zum Safe, öffnete ihn und entnahm den USB-Stick.

Das Durchladen einer Pistole ließ Tom erstarren.

„Shaw, was soll das werden?“, rief Cloutard.

„Los, her mit dem Stick“, keifte Shaw und streckte Tom seine Hand entgegen. Wild fuchtelte er mit Toms Pistole herum, um alle in Schach zu halten.

„Damit kommst du nicht durch“, sagte Tom.

„Los, her damit“, befahl er erneut.

„Bradley, was tust du?“, sagte Leticia. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Aber wir hatten doch Pläne.“

Shaw lachte auf. „Deine Pläne. Aber hast du wirklich geglaubt, ich schau dabei zu, wie du 100 Millionen an wildfremde Menschen verplemperst?“

„Jetzt gib schon her“, keifte er erneut Tom an.

Tom reichte ihm den Stick und trat mit erhobenen Händen zurück. Shaw ging rückwärts auf die Kabinentür zu und öffnete sie.

„Es war mir eine Freude, mit euch zusammenzuarbeiten. Und Cloutard, alter Freund, nichts für ungut, aber 100 Millionen - du verstehst das sicher. Du würdest an meiner Stelle das Gleiche tun.“

„Früher vielleicht, jetzt nicht mehr“, sagte Cloutard. Die Enttäuschung in seiner Stimme war deutlich wahrzunehmen.

„Macht’s gut“, sagte Shaw und verschwand durch die Kabinentür.

Sekunden später trat Shaw rückwärts wieder in ihr Blickfeld. Die Hände gehoben. Zuerst erkannte man nur die Hand, die einen uralten Revolver auf Shaws Gesicht gerichtet hatte. Gleich darauf kam Ignacio Torrente zum Vorschein. Bestimmt drängte er Shaw zurück in die Maschine.

„Perfektes Timing. Wie ich sehe, hast du meine SMS erhalten“, sagte Tom.

„Ja und ich habe auch die Kavallerie verständigt. Draußen wartet schon die Polizei.“

Tom ging auf Shaw zu, nahm ihm die Waffe ab und kramte den USB-Stick aus der Jackentasche von Shaw hervor. Er reichte ihn Leticia.

„Es tut mir leid, aber ich hatte so einen Verdacht.“

Leticia nickte und nahm den Stick an sich. Dann wandte sie sich um, machte einen Schritt auf Shaw zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

„Schafft mir dieses Stück Dreck aus den Augen.“