9. Kapitel
Jonah
Am nächsten Morgen verlasse ich das Haus ziemlich früh. Die zweite Nacht in Folge habe ich kaum bis gar nicht geschlafen. Eine Hälfte der Nachtstunden habe ich mit Nachdenken verbracht, die andere damit, zwei Reisetaschen mit meinen Sachen zu füllen und einen Abschiedsbrief an meine Eltern zu schreiben. Es ist natürlich kein Abschied für immer, aber ich werde bestimmt ein paar Tage – vielleicht sogar Wochen – vergehen lassen, bis ich das nächste Mal hier hochkomme. Ich brauche diese Pause, und irgendwie ahne ich, dass sie meinen Eltern – sollten sie überhaupt bemerken, dass ich weg bin – ebenso guttun wird.
Schon nach einem halben zurückgelegten Kilometer macht sich das Gewicht meiner Taschen unangenehm bemerkbar. Ihre Gurte schneiden nämlich Peitschenschnüren gleich in meine Schultern. Vielleicht hätte ich doch jemanden fragen sollen, ob er mich mit dem Auto abholen könnte, aber die paar Freunde, die ich noch habe, sind eher für eine durchgefeierte Nacht als solche Hilfeleistungen zu begeistern.
Leise fluchend erreiche ich endlich das Dorf, das bereits dabei ist zu erwachen. Kein Wunder. Entweder müssen die Bewohner sich nun auf ihren meist langen Arbeitsweg machen, oder sie sind in der Landwirtschaft tätig, in der das Tagwerk ja bekanntlich mit dem Sonnenaufgang beginnt.
Ein Blick auf den Bus-Fahrplan lässt mich erneut fluchen. Dieses Mal leider gar nicht leise, denn der Bus kommt erst in vierzig Minuten, was ich eigentlich weiß, aber irgendwie verdrängt habe. Das ist zu knapp, um noch vor Dienstbeginn in der Pension vorbeizusehen. Das heißt, möchte ich nicht schon wieder zu spät kommen – immerhin habe ich heute ab 8:00 Dienst – muss ich mein Gepäck wohl im Krankenhaus zwischenlagern. Perfekt, ich kann mir schon lebhaft die neugierigen Blicke vorstellen, und das Gerede sowieso.
Als ich überpünktlich, nämlich zehn Minuten vor acht, durch die Glastür zu unserer Station marschiere, herrscht hier bereits reges Treiben. Die erste Schicht hat vor zwei Stunden begonnen und ist somit mitten im Frühstücksservice für unsere Patienten. Ich grüße betont fröhlich jeden, dem ich begegne, halte ansonsten meine Augen aber Richtung Boden gerichtet – vielleicht lässt es sich so vermeiden, dass mich jemand auf die zwei Taschen in meinen Händen anspricht. Zuerst gelingt das ganz gut, kurz vor dem Schwesternzimmer, durch das man zu unserer Garderobe gelangt, wird mir mein gesenkter Blick allerdings zum Verhängnis, und ich knalle buchstäblich in Elias hinein.
»Na, heute so arbeitseifrig?«, neckt er mich, doch seine Stimme klingt ungewöhnlich rau.
Erstaunt blicke ich auf, und was ich sehe, lässt mich die Stirn runzeln. »Wow«, entkommt es mir perplex. »Was ist denn mit dir passiert?« Da sind dunkle Ringe unter seinen wunderschönen dunkelblauen Augen, die mir heute übrigens nicht zum ersten Mal auffallen.
»Das sollte ich dich fragen«, kontert er prompt, wobei er in Richtung meines Gepäcks nickt.
»Lange Geschichte«, gebe ich zurück, weil ich wirklich keine Lust habe, gerade ihm meine traurige Lebensgeschichte zu erzählen.
»Bei mir ebenfalls.«
Diese Antwort überrascht mich, vielmehr der Ton, in dem er sie gibt. Er klingt betrübt, doch irgendwie habe ich nicht das Gefühl, es stünde mir zu, diesbezüglich nachzuhaken. Daher nicke ich nur und er erwidert die Geste, als wäre er mein Spiegelbild.
Trotz der gewissen Traurigkeit, die ihn umgibt, wirkt er heute irgendwie lockerer, was ihm außergewöhnlich gut steht. Das verleitet mich zu einer scherzhaften Bemerkung. »Ich zieh mich dann mal um. Mein Boss ist recht streng, was die Pünktlichkeit angeht.«
Elias würdigt meinen Versuch, die Situation etwas aufzulockern, mit einem Schmunzeln. »Hab ich auch schon gehört. Aber auch, dass er es so gar nicht mag, wenn man ihn Boss nennt. Besonders nicht Leute, die gar nicht wirklich unter ihm stehen.«
»Aber Boss ist doch keine Beleidigung.«
»Es gibt Typen, die sind gerne der Boss, und andere, die das nur machen, weil es notwendig ist.«
Interessanterweise glaube ich ihm das sofort. Also, dass er den Job nicht angenommen hat, um über jemand anderem zu stehen. »Na dann. Schönen Tag … Elias.«
»Dir auch, Jonah.« Sein Grinsen ist auf eine besondere Weise anziehend, lässt ihn jünger wirken. Nicht, dass mir zuvor noch nie aufgefallen wäre, dass er sehr attraktiv ist. Seine dunkelbraunen Haare sind recht kurz geschnitten, sodass die Locken darin kaum zu erahnen sind, und auch ansonsten stimmt so einiges an ihm mit meinem Männergeschmack überein. Nur diese etwas verstaubte Art, die er meistens hat, passt nicht.
Mein Onkel Franz, der mir diesen Job vermittelt hat, war wohl irgendwie in die Empfehlung verstrickt, die Elias an diese Privatklinik geführt hat. Soweit ich weiß, kennt er ihn über einen ehemaligen Patienten, der nach einer Meniskusoperation wahre Lobeshymnen auf seine Therapie gesungen hat. Glaubt man der Gerüchteküche, ist Elias schwul, und auch wenn mein ansonsten recht gut funktionierender Schwulenradar bei ihm kaum bis gar nicht anschlägt, sagt mir irgendwas, dass dieses Geschwätz der Schwestern nicht aus Bosheit passiert. Denn sie mögen ihn. Alle. Egal ob Krankenschwestern, Pfleger oder die Typen aus seinem Therapeutenteam. Sie respektieren ihn, weil er sich auch für niedere Arbeit nicht zu schade ist.
Das fand und finde ich übrigens ebenfalls sehr positiv an ihm. Und außerdem steh ich ein bisschen auf ihn. Mehr als bloß ein bisschen, nur leider rechne ich mir kaum bis keine Chancen aus, dass ihn das auch nur im Geringsten interessiert. Er hat nämlich null auf jeden meiner Flirtversuche reagiert, und ganz nebenbei bin ich mir ziemlich sicher, dass er irgendwie ein Problem mit meinem Aussehen hat. Dabei sehe ich gut aus – was ich nicht aus Eitelkeit behaupte, sondern, weil es mir immer wieder gesagt wird.
Während ich ihm nun hinterherblicke, als er sich in Richtung der Therapieräume entfernt, wird mir außerdem intensiv vor Augen geführt, dass auch sein restlicher Körper eine Augenweide ist. Obwohl diese weißen Klamotten, die er im Dienst trägt, nicht für eine besonders sexy Passform bekannt sind, ist das nicht zu übersehen.
Er ist ein wenig größer als ich, dafür bin ich wohl sportlicher. Wie auch immer, meine Libido springt auf ihn an, und ich bin nicht ganz sicher, wie das zu bewerten ist. Denn ob er nun so genannt werden will oder nicht: Er ist ein Boss, wenn auch vielleicht nicht direkt meiner. Und ich hab im Moment echt andere Sorgen, als mich mit einer Affäre am Arbeitsplatz zu belasten.
Wie immer montags vergeht der Arbeitstag wie im Flug. Entlassungen und Neuzugänge geben sich praktisch die Klinke in die Hand, und so ist der Feierabend gekommen, ehe ich noch ›Puh‹ sagen kann.
Mittlerweile hat sich zumindest aufgeklärt, ob in der WG, in der ich während meiner Ausbildung gewohnt habe, ein Zimmer frei ist. Die Antwort auf meine, morgens im Bus ins Handy getippte E-Mail ist nur leider nicht das, was ich erhofft habe.
Also eile ich, kaum dass die symbolische Stechuhr den Feierabend verkündet hat, in Richtung Personalraum, um in meine Privatklamotten zu schlüpfen. Außerdem versuche ich – wie auch bereits heute Vormittag – die kleine Pension telefonisch zu erreichen, scheitere aber erneut. Daher schnappe ich mir säuerlich meine zwei prall gefüllten Taschen und mache mich auf den Weg zu der Adresse, die ich mir aus dem Internet gesucht habe. Natürlich hätte ich auch die Kollegen, die dort wohnen, danach fragen können, doch im Moment ist eher Diskretion die Devise.
Einen fünfzehnminütigen Fußmarsch und eine vergleichsweise kurze Diskussion mit der Besitzerin des kleinen Hotels später, stehe ich wieder auf der Straße. Immer noch ohne Bleibe, dafür mit zusätzlichem Frust im Gepäck. Auf meine Hosentaschen klopfend suche ich nach meinem Mobiltelefon, doch da ist nichts. Wutschnaubend wird mir bewusst, dass ich es wohl im Personalraum hab liegen lassen.
Leise vor mich hinfluchend zünde ich mir erst mal eine Zigarette an, ehe ich mich auf den Weg zurück mache. Es dauert länger als gedacht, weil sich das Gewicht der Taschen mit der Zeit auch auf meine Kondition auswirkt. Außerdem hat es zu schneien begonnen, was mich nicht eben fröhlicher stimmt.
Als ich dann endlich ins Foyer des Krankenhauses stapfe, stolpere ich zum zweiten Mal am heutigen Tag in Elias hinein.
»Okay. Langsam glaub ich nicht mehr an Zufälle«, scherzt er, doch leider ist mir im Moment so gar nicht nach lustig.
»Sorry«, murre ich daher nur und setze an, mich an ihm vorbeizuschieben.
»Hey!« Er packt meinen Oberarm und blickt mir stirnrunzelnd ins Gesicht. »Was ist denn heute mit dir los?«
»Was soll sein?«, gebe ich unwirsch zurück, versuche, mich mit einem Ruck zu befreien, scheitere aber.
»Du bist völlig durch den Wind. Schon seit heute Morgen. Außerdem schleppst du immer noch diese Taschen mit dir rum.«
»Was geht das dich an?«
»Gar nichts. Aber ich frage dich trotzdem, ob ich dir irgendwie helfen kann.«
Natürlich könnte ich mich von seinem Interesse geschmeichelt fühlen, in Wahrheit erdrückt es mich aber gerade. Was vermutlich daran liegt, dass sich seit einer gefühlten Ewigkeit niemand mehr für mich interessiert hat, und jetzt ausgerechnet der Typ die Ausnahme bildet, auf den ich heimlich ein Auge geworfen habe.
»Nein. Kannst du nicht«, blaffe ich ihn also regelrecht an. »Außer du hast ein Gästezimmer, wo ich für ein paar Tage unterkommen kann.« Meiner Erfahrung nach schafft man es – solange es um solch ernsthafte Themen geht – am besten mit Ehrlichkeit, den Samariterkomplex der Leute im Keim zu ersticken. Deshalb wähle ich einfach die Wahrheit für meine Erwiderung.
Zu meiner Überraschung lacht er mich nicht aus oder sucht händeringend nach einer Ausrede. Nein, seine Stirn zieht sich für ein paar Sekunden in Denkerfalten, bevor er die Luft ausstößt. »Ich habe ein Gästezimmer, und da steht sogar eine Schlafcouch drin. Wenn es dich nicht stört, es mit meinen Klamotten zu teilen, kannst du es haben. Natürlich nur, bis du etwas Besseres gefunden hast.«
Was? , denke ich fast geschockt, und weil er seine Aussage weder mit Worten noch mittels verräterisch verschrecktem Gesichtsausdruck zurücknimmt, wiederhole ich meinen Gedanken noch mal laut. »Was?«
Eine leichte Röte kriecht auf seine Wangen, so als wäre er jetzt selbst ein bisschen überfordert von seinem Angebot. »Na ja. Bevor du auf der Straße sitzt?«
»So ist es nicht.« Es ist mir ein Bedürfnis, die Situation zu entschärfen. Immerhin kennt er ja auch meinen Onkel und ich habe keinen Bock, dass sich die Gerüchteküche diesbezüglich unkontrolliert in Bewegung setzt. »Mir ging einfach mein momentaner Arbeitsweg von mehr als einer Stunde auf die Nerven. Also hatte ich die spontane Idee, in diese Pension zu ziehen … du weißt schon … einige der Kollegen, die nicht von hier sind, wohnen da. Es ist aber kein Zimmer frei.«
Elias’ Augenbraue wandert ein Stück hoch und mir wird augenblicklich klar, warum. Ich schätze mal, Spontanität ist eher nicht so sein Ding und er findet meine Idee wahrscheinlich völlig irrational. Sicher würde er auch niemals vergessen, wann der Bus fährt, den er fast täglich nimmt, so wie ich heute Morgen. Begleitet von einem eisigen Schauder wird mir zum ersten Mal glasklar bewusst, wie erledigt ich tatsächlich bin. Körperlich und mental. Vor allem Letzteres. Und bevor ich es verhindern kann, höre ich mich sagen: »Und deshalb wäre es echt spitze, wenn ich wirklich bei dir unterkommen könnte.«