10. Kapitel
Elias
Es ist seltsam, dass da Geräusche aus dem Gästezimmer zu mir in die Küche dringen. Ich versteh selbst nicht ganz, oder besser gesagt, habe keinen Plan, was genau mich zu dieser Aktion bewogen hat.
»Was habe ich mir bloß gedacht, Jonah eine Bleibe anzubieten?«, flüstere ich in mein Telefon.
Kaum hatte sich mein Neo-Hausgast in sein Zimmer zurückgezogen, habe ich bei meinen Freunden durchgeklingelt, um ihre Meinung zu meiner Spontan-Aktion einzuholen. Das heißt, eigentlich habe ich Oliver angerufen. Er ist nämlich der angenehmere Gesprächspartner bei solchen Themen, weil er mich nicht ständig mit meiner – wie Nick es nennt – faden ›Versnobtheit‹
aufzieht. Nur dass sich Letzterer natürlich, sobald ihm das Thema bekannt wurde, binnen weniger Sekunden aus dem Hintergrund eingemischt hat. So blieb gar nichts anderes übrig, als ihn mittels Konferenzfunktion in unseren Call einzubinden.
»Weil du einfach ein sehr netter Mensch bist?« Meine Frage wird allerdings vom Vernünftigen in der Runde beantwortet, und zwar fragend.
Nick sieht die Sache wie gewohnt von einer anderen Seite. »Die wichtigsten Fragen lauten eher: Ist er a) schwul und b) heiß?«
»Das ist doch egal«, schimpft Oliver sofort, worauf ein Schnauben ertönt, ehe Nicks Stimme drei Oktaven höher klettert. »Von wegen! Reden wir hier von einem hässlichen Heten-Mann, kann ich mich getrost aus dieser Diskussion entfernen und lieber dem Tantchen ihre Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.«
Das von Nick erwähnte Tantchen ist meine ehemalige Patientin Anna Berger, Olivers Großtante. Ihr komplizierter Beinbruch hat uns wegen der danach notwendigen Physiotherapie zusammengeführt. Natürlich kannte ich sie schon vorher, so wie eben auch ihren Neffen Oliver, der die gleiche Schule besucht hat wie ich. Anna gehört ein Berghotel, das nun aber seit etwa einem Jahr von den zwei Jungs geführt wird. Dass die beiden Anna zuerst während ihrer Rekonvaleszenz unterstützt und danach die Hotelleitung sogar für immer übernommen haben, rechne ich ihnen hoch an. Es war nicht leicht, als offen schwul lebendes Paar vom eher toleranten Wien in ein konservativ verstaubtes Bergdorf zu ziehen, doch sie haben es getan und damit die Herzen aller im Sturm erobert. Gut, nicht wirklich von allen. Das ewige Getratsche wird wohl niemals völlig verstummen, aber es ist auf ein Niveau zurückgegangen, das man getrost ignorieren kann.
»Du wirst dich nicht drücken, denn heute läuft ohnehin Tante Annas Serie, also braucht sie deine Bettlektüre gar nicht«, schimpft Oliver mit Nick.
Ich liebe es, wenn die beiden sich kabbeln, doch im Moment kommt es mir eher ungelegen, weil ich nicht weiß, ob oder wie lange Jonah sich in seinem
Zimmer aufhalten wird. »Ist es eigentlich üblich, dass Mitbewohner die restliche Wohnung auch mitnutzen dürfen?«, lasse ich die anderen an meinen Gedanken teilhaben, gleichzeitig öffne ich die Tür, die auf die Terrasse führt, und trete hinaus. Hier habe ich auf jeden Fall Privatsphäre.
»Aufs Klo und ins Bad musst ihn lassen, sonst gibt das eine Sauerei«, stellt Nick feixend fest, und auch Oliver lacht, was mich die Augen verdrehen lässt. Das soll wohl heißen, ich mach mir mal wieder zu viel Gedanken.
»Ja, aber koch ich für ihn mit? Ich meine, das würde man doch schon alleine aus Höflichkeit machen, oder?«
»Sir Barnaby, nein!«, brüllt mir Nick ins Ohr. Während Selbiges noch klingelt, folgt ein ebenso lautstarkes »Geh da runter!« von Oliver, und ein genervtes: »Das ist, weil du ihn bei uns oben immer auf die Couch lässt!«
Ich halte das Handy ein Stück von mir weg und stoße ein schmerzerfülltes Schnaufen aus. Sir Barnaby ist ein ausgewachsener Neufundländer, den die beiden voriges Jahr adoptiert haben, nachdem ihn irgendein vorschneller Hundekäufer ausgesetzt hat. Er ist supersüß, oberflauschig, aber auch leider vollkommen verzogen, was bei einem Hunde-Papa wie Nick eigentlich nicht unerwartet kommt.
»Könnten wir uns vielleicht jetzt meinem Problem widmen?«, beschwere ich mich, schließlich könnten die beiden zumindest für ein paar Minuten meine Notlage priorisieren.
»Klar, Doc«, verspricht Nick sofort. Er ist der Einzige, der mich ungestraft so nennen darf. Sich gegen seine Spitznamen zu wehren, ist ohnehin wie das Bekämpfen des Aufgehens der Sonne. Sinnlos.
»Du hast ihn doch gerade erst mit nachhause genommen. Warum kochst du euch nicht heute etwas Nettes und ihr besprecht alles? Hausregeln sollen recht hilfreich sein in WGs.« Olivers Vorschlag klingt furchtbar vernünftig, also nicke ich erst und stimme, als mir bewusst wird, dass er das nicht sehen kann, außerdem noch verbal zu.
»Na, seht ihr. Und wieder mal hat das Kollektiv gesiegt. Wie sag ich immer? Wenn wir zusammenhalten, kann uns keiner
was!« Nick sieht seinen Vorschlag der – wie er es genannt hat – telefonischen Gruppentherapie somit bestätigt.
»Okay. Dann hör ich jetzt auf.«
»Und frag ihn, ob er …«
»Mach ich sicher nicht«, unterbreche ich Nick, weil ich mir lebhaft vorstellen kann, worauf er hinauswill. Entweder auf Jonahs sexuelle Vorlieben oder auf dessen Lieblingsstellung.
»Aber …«, versucht er es noch einmal, doch auch dieses Mal kommt er nicht weiter.
»Lass Elias machen, Babe«, unterstützt mich Oliver nämlich prompt.
Darauf erklingt ein singendes Schnaufen, ehe Nick ein erbostes »Ihr seid solche Drückeberger« ausstößt. Anschließend ist es verdächtig ruhig. Zu ruhig!
Ich runzle die Stirn. »Was war das?«
»Nick hat die Gruppe verlassen«, erklärt Oliver leiernd, als wäre er eines dieser Ansagebänder.
»Toll. Schmollt er?«, erkundige ich mich, bin jedoch abgelenkt, weil ich mir einbilde, durch das Verandafenster einen Schatten gesehen zu haben.
»Er hat sich an Sir Barnaby gekuschelt und meckert irgendetwas in dessen Pelz«, erklärt Oliver amüsiert.
Obwohl ich das Bild direkt vor mir sehe, kann ich mich ihm nicht recht widmen. Da ist nämlich wirklich was oder besser gesagt jemand. Ja, ich bin sicher, Jonah wandert da drinnen herum.
»Ich melde mich später oder morgen«, erkläre ich Oliver daher kurzerhand, obwohl da gerade Nicks Gezeter im Hintergrund zu hören ist, und lege auf.
»Elias?« Die Stimme meines Hausgastes dringt an mein Ohr, kaum dass ich von der Veranda wieder in die Küche getreten bin.
»Ich bin hier«, melde ich gehorsam, worauf seine Schritte die Richtung wechseln.
»Ich war grad hier drin, da hab ich dich gar nicht gesehen«, erklärt er mir verblüfft.
»Ich war draußen auf der Veranda.« Mein Daumen macht über meine Schulter hinweg einen auf Wegweiser.
»Ach so. Ich wollt auch nur fragen, ob ich einen Schlüssel bekommen kann. Also, weil ich noch weg wollte. Natürlich nur, wenn das okay ist.«
»Oh!« Ich bin tatsächlich etwas baff, damit hätte ich nun eher nicht gerechnet.
»Oder ist das ein Problem?« Jonah wirkt erst verunsichert, dann zerknirscht.
»Nein. Ich wollte nur …« Plötzlich erscheint mir die Idee eines gemeinsamen Essens idiotisch beziehungsweise Olivers Idee, denn von dem stammt sie ja ursprünglich. Welcher Einundzwanzigjährige möchte schon den Abend mit seinem fast dreißigjähren Vorgesetzten verbringen? Natürlich zieht er lieber los, als hier mit mir Hausregeln zu erstellen.
»Sag schon.« Er klingt versöhnlich und vor allem sehr interessiert, was mich erst recht nervös macht, trotzdem beschließe ich, einen neuen Anlauf zu wagen.
»Ich dachte nur so, dass wir zusammen essen könnten und ein wenig darüber sprechen, wie es am besten laufen könnte. Unser Zusammenleben, meine ich.«
»Zusammenleben«, wiederholt er amüsiert. Als mir jedoch die Mundwinkel entgleiten, bemüht er sich augenblicklich wieder um mehr Ernsthaftigkeit. »Klar. Gute Idee. Ich zieh mir nur was Bequemeres an, ja?«
»Wie du willst. Wir können das auch verschieben, wenn du etwas anderes vorhast.«
»Nein. Überhaupt nicht. Ich dachte eher, es wäre besser, wenn ich mich vom Acker mache, immerhin kam dein Entschluss, mir dein Gästezimmer anzubieten, ja recht spontan.«
Wieder bin ich verblüfft. Und warum? Weil ich irgendwie unfähig bin, zu akzeptieren, dass junge Männer – vor allem, wenn sie schwul sind – ein Taktgefühl haben. Weil ich tief in mir drin überzeugt war – und vielleicht immer noch bin – dass der Grund für seine vorübergehende Obdachlosigkeit darin liegt, dass er sich mit seinen Eltern verkracht hat. Und das aufgrund eines lockeren Lebensstils, den ich unweigerlich mit seinem Äußeren verbinde.
Nicht, dass ich das verurteile, zumindest bemühe ich mich redlich, es nicht zu tun. Das ist eventuell auch der Grund, warum ich ihn mit hierher genommen habe. Um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht so versnobt bin, wie Nick es gerne behauptet. Dass ich besser bin als seine Eltern oder alle anderen heterosexuellen Spießer.
»Ich mach Spaghetti«, erkläre ich ihm, obwohl er gar nicht danach gefragt hat.
Das scheint ihm jedoch nichts auszumachen. Er lächelt. »Ich kann mich um den Salat kümmern, wenn du möchtest. Ich bin echt gut bei Salatsaucen.«
»Okay.« Ich lächle ebenfalls. Es ist wirklich Zeit, umzudenken. Den Menschen zuzuhören, ohne sie schon im Vorfeld zu verurteilen. Und mit Jonah mache ich jetzt einfach den Anfang.
»Die Nudeln waren mega. Woher kannst du so gut kochen? Von deiner Mutter?« Jonah lehnt sich zufrieden lächelnd zurück. Im Anschluss ans Essen haben wir die Küche auf Vordermann gebracht und uns danach ins Wohnzimmer zurückgezogen.
»Das hab ich mir selbst beigebracht. Ich musste schon früh allein zurechtkommen, weil meine Mutter mit meiner Schwester nach Wien gezogen ist.«
»Ich bin auch schon lange auf mich selbst gestellt.« Sein Blick, der unsicher erscheint, trifft mich. Fast so, als ob er abwägen würde, ob er weitersprechen soll oder nicht.
Ich blicke überrascht auf, denn das, was er da andeutet, passt ja leider gar nicht zu meiner ursprünglichen Idee, warum er sein Zuhause verlassen hat. Ich würde gerne nachhaken, weil mich das nun wirklich neugierig macht. Stattdessen versuche ich, so neutral wie möglich dreinzusehen, um ihm die Sicherheit zu geben, dass jedes Thema bei mir gut aufgehoben ist.
Zu meiner Enttäuschung seufzt er jedoch nur. »Aber darüber will ich eigentlich nicht sprechen.«
»Kein Problem«, versichere ich ihm schnell, obwohl ich das nicht so empfinde. Er wohnt zumindest vorübergehend unter meinem Dach – natürlich würde ich gerne wissen, warum! Doch sofort ist da Nicks Stimmchen in meinem Kopf. Lass ihm Zeit, aber mach ihm auch klar, dass du zuhören würdest, wenn er reden will
.
»Wenn du deine Meinung änderst … ich hab ein offenes Ohr für dich.« Nachdem ich das ausgesprochen habe, luge ich zu Jonah hinüber, der traurig lächelt und seufzt.
»Danke«, antwortet er.
»Ich bin übrigens schwul.« Hölzern kommen die Worte über meine Lippen, und ich weiß auch nicht recht, warum ich gerade jetzt dieses Thema aufs Tapet bringe. Vielleicht, weil ich ihm so vermitteln möchte, dass ich ihm ebenfalls vertraue?
Da ist kaum Erstaunen in seinem Blick, doch das süße Schmunzeln, das auf seinem Gesicht einzieht, tröstet mich darüber hinweg. »Ich auch«, sagt er nur.
»Oh.« Obwohl ich es ja gewusst habe, tut es gut, die tatsächliche Bestätigung zu bekommen. Leider macht mir das gleichzeitig bewusst, dass es nun noch wahrscheinlicher ist, dass ich mir sein Flirten damals nicht nur eingebildet habe. Ob das nun gut oder schlecht ist, bin ich mir nicht ganz sicher.
Überraschenderweise weicht Jonahs Lächeln recht schnell wieder. »Aber du lebst in keiner Beziehung, oder?«, fragt er. »Ich hab nämlich keinen Bock, in eine Eifersuchtsszene zu geraten.« Seine Augen drehen einen Kreis. »Das hatte ich erst.«
Oha – er hatte was mit einem liierten Typen
, denke ich sofort, dränge den Gedanken aber zur Seite, weil mich das in Wahrheit nichts angeht, und beantworte lieber seine Frage. »Nein, ich bin Single.«
»Gut.«
Die Erleichterung, die in seinen Worten mitschwingt, verblüfft mich, was ich ihm auch mitteile. »Ich bin überrascht.«
»Warum?« Eine kleine Falte erscheint über seiner Nase.
»Weil die meisten von uns sich einen Dreck um Treue oder das Einhalten von ethischen Regeln scheren.«
Ein Schatten kriecht über sein Gesicht. »Wie meinst du das?«
Mein Herz beginnt wie wild zu klopfen. Wie so oft hat mich mein Mundwerk überholt. Dabei sollte ich inzwischen gelernt haben, dass die schwule Community sich gerne mal auf den Schlips getreten fühlt, wenn ich mit meinen moralischen Bedenken daherkomme. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schwule sich der Treue um einiges weniger verpflichtet fühlen als Heteros.«
»Ach!«, stößt er spitz aus. Seine Augen ziehen sich ein bisschen zusammen, während ein gewisser spöttischer Zug sein Gesicht verändert. »Vielleicht liegt es daran, dass man generell eher wenig schwule Pärchen sieht, was natürlich zum Teil daran liegen könnte, dass das halbe schwule Leben im Verborgenen stattfindet. Es ist schwierig, eine Beziehung zu leben, die von so vielen Menschen noch als moralisch verwerflich angesehen wird. Und das nur, weil vor Ewigkeiten ein paar dahergelaufene Propheten Wörter auf Papier gebannt haben, die im Laufe der Jahre von weiteren Halbwissenden in alle möglichen Richtungen interpretiert worden sind.«
Sowohl die anschwellende Lautstärke als auch die Schärfe in seinen Worten zeigen mir, dass er sich nicht das erste Mal mit diesem Thema beschäftigt. Das erstaunt mich, was ich aber auf keinen Fall zugeben möchte. So einen Ausbruch hätte ich ob seiner Jugend nicht erwartet, und natürlich auch aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes. »Die Haltung der Kirche ist tatsächlich schwierig«, gebe ich zu.
»Schwierig ist gut.« Er stößt ein bitteres Lachen aus. »Moral wird von den meisten nur dort verlangt, wo es ihnen in den Kram passt.«
Ich lehne mich interessiert nach vorn. Nie im Leben hätte ich angenommen, dass sich der heutige Abend in so eine Richtung entwickeln würde. Bevor ich jedoch etwas erwidern kann, entkommt Jonah ein gegähntes »Sorry«. Seine Handfläche reibt über sein Gesicht, ehe er erneut intensiv gähnt. »Wärst du sauer, wenn ich mich zurückziehe? Die letzten Nächte waren etwas kurz.«
»Oh.« Ich schrecke regelrecht auf. »Na klar. Hau dich hin. Ich leg dir Handtücher raus, dann kannst du noch duschen.«
»Das ist nett.« Er lächelt nun wieder, doch jetzt fällt mir auf, dass die Müdigkeit in seinen Augen wirklich übermächtig ist.
Mir steckt auch noch die letzte Nacht in den Knochen. Der Streit – wenn man es so nennen möchte – mit Tobias hat meine Nachtruhe ebenfalls geschmälert, also ist es sicher nicht verkehrt, heute früher Schluss zu machen. »Okay. Und wegen des Schlüssels«, komme ich wieder auf seine Frage von vor dem Essen zurück. »Ich hab einen in Reserve, den leg ich dir raus.«
»Danke, Elias.« Er mustert mich fast gerührt. »Ich werde mir auch so schnell wie möglich etwas suchen. Ich fall dir nicht lange zur Last. Versprochen.«
»Das ist schon okay«, wiegle ich ab, weil ich es tatsächlich so empfinde.
Wer die Augen offen hält, findet Dinge, die er gar nicht gesucht hat
, kommt mir einer von Nicks Lieblingssprüchen in den Sinn. Und vielleicht ist es gar nicht schlecht, seine hobbyphilosophischen Weisheiten für voll zu nehmen.
Wer weiß, was einem begegnet, setzt man die Schritte auch mal abseits des üblichen Weges
. Das ist ein weiterer beliebter Spruch von ihm, und selbst wenn ich ihn mir nicht auf ein Kissen sticken möchte, kann man ihn doch zumindest im Hinterkopf behalten.