15. Kapitel
Elias
Der Sonntag begrüßt mich mit verdammt hellem Sonnenschein. Einen leisen Fluch ausstoßend versuche ich, die Helligkeit mit der Hand abzuschirmen, während ich mich aufsetze. Warum noch mal war ich so begeistert davon, dass dieses Fenster nach Osten zeigt? Diese Frage stelle ich mir, kurz bevor ich mich aus dem Bett quäle, um das zu tun, was ich gestern Abend eindeutig vergessen habe – nämlich die Jalousie runterzulassen.
Leider interpretiert mein Körper mein Tun falsch und schickt sofort ein knurrendes Geräusch los, um mir zu symbolisieren, dass ich, wo ich jetzt schon mal auf bin, auch gern für Nahrungsnachschub sorgen könnte.
»Na toll«, maule ich, denn wenn ich auf eines keinen Bock habe, dann darauf, gleich da draußen auf Jonah zu stoßen. Sofern ich nicht falsch liege, hat dieser nämlich heute ebenfalls frei, und ich irre mich selten bis nie. Zumindest was die Dienstpläne im Krankenhaus angeht, im Privatleben greife ich ja bekanntlich gerne mal in die buchstäbliche Scheiße, was meine Menschenkenntnis betrifft.
Der gestrige Abend drängt sich fast schmerzhaft in mein Denken. Ich kann immer noch nicht fassen, wie ich so die Beherrschung verlieren konnte. Gut, körperlich fahre ich wohl auf ihn ab, aber das schmälert die Tatsache nicht, dass er eben meilenweit von der Vorstellung meines Traummannes entfernt ist. Ich verstehe mich einfach selbst nicht mehr. Wieder einmal!
Und weil ich im Grunde weiß, was – oder besser wen – ich in solchen Situationen brauche, liegt mein Handy in meiner Hand, noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht habe. Und nur ein paar Momente danach dringt Nicks Stimme an mein Ohr: »Was gibt’s, Doc?«
Zwanzig Minuten später habe ich geduscht, bin angezogen und startklar. Nur mein knurrender Magen legt ein Veto gegen einen sofortigen Aufbruch ein, weil er anscheinend überzeugt ist, die fast zweistündige Fahrt bis zum Berghotel hungertechnisch nicht überstehen zu können.
Aus diesem Grund mache ich mich auf den Weg zur Küche. Meine Hoffnung, Jonah würde seinen freien Tag irgendwo anders als hier verbringen, wird jedoch schnell zerschlagen, als ich köstlichen Kaffeeduft und entsprechende Geräusche wahrnehme. »Perfekt«, maule ich lautlos, gehe aber trotzdem weiter.
»Guten Morgen«, grüßt Jonah, kaum dass ich eingetreten bin.
Ich versuche mich an einem Lächeln. »Guten Morgen.«
»Kaffee ist fertig und es ist noch ein Brownie von gestern da.« Er spricht, ohne mich anzusehen, denn sein Blick ist in die Tasse gerichtet, die, von beiden Händen gehalten, vor ihm steht. Ein äußerst freudloser Blick, eine Interpretation, die eigentlich auf seine gesamte Haltung zutrifft.
»Alles okay?«, frage ich automatisch, nachdem ich mir einen Muntermacher genommen habe, obwohl es das offensichtlich nicht ist. Den Schokokuchen lasse ich erst mal links liegen, auch wenn mein immer noch knurrender Magen dafür wenig Verständnis hat.
»Klar. Alles fein.«
»So klingst du aber gar nicht«, kann ich mir nicht verbeißen. Ich nehme ihm gegenüber Platz. Eigentlich wollte ich gleich los, doch irgendetwas hält mich zurück. Wahrscheinlich die Traurigkeit, die Jonah offenkundig zu verbergen versucht.
Erneut steigt das schlechte Gewissen in mir hoch. Egal wie triftig meine Gründe für meinen gestrigen Rückzug auch gewesen sind, er sieht das vermutlich anders. Ein bisschen beneide ich ihn für diese Leichtigkeit, die Dinge einfach zu nehmen, wie sie sind. Gefällt dir ein Kerl, dann legst du ihn flach, egal was am nächsten Tag passiert. Könnte ich das auch, wäre mein Leben möglicherweise unproblematischer.
»Das täuscht«, erklärt er mit fester Stimme, danach folgt ein leiser Nachsatz. Zu leise, um ihn für meine Ohren hörbar zu machen.
»Wie bitte?«, hake ich daher nach.
»Nichts.« Nun sieht er auf und ich schrecke ein wenig zurück. Ich war im Irrtum, wenn ich gedacht hatte, er wäre traurig. Er ist sauer!
Weil es mir schwerfällt, diese Wendung nachzuvollziehen, widme ich mich erst mal meinem Kaffee. Jonah beobachtet mich dabei, ich kann seine Blicke förmlich spüren, wage aber nicht, sie zu erwidern. Stattdessen sehe ich mich in der Küche um, als gäbe es hier interessante Dinge zu entdecken. Zu meiner Überraschung ist es heute tatsächlich so, denn da stehen zwei prall gepackte Reisetaschen, die mir furchtbar bekannt vorkommen. Ungläubig fixiere ich daraufhin nun doch Jonahs Blick.
Ein halbherziges Lächeln aufsetzend, hält er ihm stand, stößt aber einen kurzen, wenngleich tiefen Seufzer aus. »Ich denke, es ist besser, wenn ich mir eine andere Unterkunft suche.«
Mein »Warum?« klingt so ungläubig, wie ich mich fühle. Das ist absolut das Letzte, was ich gewollt habe.
»Elias. Bitte.« Das Lächeln verschwindet und macht dem Platz, was ich schon vorhin bemerkt habe – einer tiefen Traurigkeit. »Es ist okay. Ich weiß, du hast es nur gut gemeint, als du mir dein Gästezimmer angeboten hast. Aber wie hast du gestern so schön gesagt? Wir passen nicht zueinander.«
»Aber doch nur als Paar«, hauche ich, bin mir klar darüber, wie idiotisch das in seinen Ohren klingen muss, weil er das zwischen uns mit Sicherheit niemals auch nur annähernd so gesehen hat.
Wie schon vorhin legt sich eine gewisse Dunkelheit über seine Miene, die ich als Wut interpretiere, aber sie verschwindet gleich wieder. »Ich habe einen Freund gebeten, mich für die nächste Zeit aufzunehmen. Er kennt auch jemanden, der in einer WG wohnt, wo wohl demnächst ein Zimmer frei wird.«
»Du könntest auch hierbleiben. Also, bis das Zimmer verfügbar ist.« Mir ist unklar, warum ich den Gedanken, er könnte heute noch ausziehen, so erschreckend finde. Aber es fühlt sich falsch an. Absolut falsch!
»Ich denke nicht, dass das gut wäre.«
»Aber …« Ich breche ab, als mir plötzlich bewusst wird, wie recht er damit hat. Egal wie gut ich darin bin, die vermeintliche Vernunft vorzuschieben – sobald sich meine Gefühle einmischen, wie lange würde es dauern, bis wir uns erneut in einer ähnlichen Situation wie gestern befinden? Denn dass ich mich von ihm angezogen fühle, kann ich nicht wegleugnen, egal wie sehr ich mich bemühe. Trotzdem will ich nicht, dass er geht. Wenigstens nicht sofort.
Er mustert mich mehr oder weniger erwartungsvoll. Eher weniger. Eigentlich sieht er sogar drein, als hätte er bereits mit der Sache abgeschlossen. Was mir überhaupt nicht gefällt. Und plötzlich ist da eine Idee in meinem Kopf. Eine von der Art, die einfach raus muss.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum du drauf bestehst, dass ich mit zu deinen Freunden komme.« Jonahs Blick ist aus dem Wagenfenster gerichtet, so wie eigentlich die ganze Zeit, seit wir losgefahren sind.
Ich bin mir nicht sicher, ob er das tut, um mich nicht ansehen zu müssen, doch irgendwie hat sich dieser Gedanke in mir festgefressen.
»Weil du ohnehin nichts anderes vorhattest«, kontere ich. Wir befinden uns bereits kurz vor der sogenannten Kuhkreuzung, die fast den gesamten Winter den Endpunkt jeglicher autotechnischer Fortbewegung darstellt. Ab hier ist die Weiterfahrt zum Berghotel von November bis mindestens Mitte März nur mehr mittels Ski-doo möglich. Sprich, mit einem Schneemobil.
»Doch, hatte ich. Ich wollte meine Sachen zu Rex bringen. Du weißt schon, dem Typen, bei dem ich jetzt wohnen werde.«
Irre ich mich, oder klingt er mega angepisst? Er tut ja grad so, als hätte ich ihn gezwungen, in mein Auto zu steigen. »Was ist Rex überhaupt für ein Name? Erinnert mich an Kommissar Rex«, versuche ich, die Stimmung aufzulockern.
»Rex heißt eigentlich Reinhard, so wie ich eigentlich Johannes heiße. Aber wir sind eben durchgeknallte Typen. Solche, die ihre Haut mit Tinte verunstalten und Löcher reinbohren, weißt du?«
Sein Sarkasmus hält sich die letzten beiden Stunden gekonnt auf einem ziemlich hohen Niveau, und mittlerweile muss ich mich wirklich bemühen, ihm mit Gelassenheit zu begegnen. Ein wenig fühlt es sich an, als säße ich mit einem störrischen Kind im Wagen, und das ist auch der Grund, warum ich immer wieder meine Beweggründe hinterfrage. Die Idee, ihn mit Nick zusammenzubringen, kam so plötzlich und erschien mir dennoch genial. Wer kann eine harte Schale schließlich besser knacken als unser sogenannter Kuschelchaot? Warum ich Jonah knacken will, kann ich nicht genau sagen. Aber ich hab da so eine Idee, dass Nick mir das beantworten kann. Spätestens nach heute.
»Hast du dich schon immer so genannt?«, gehe ich möglichst neutral auf Jonahs bissigen Kommentar ein.
»Nein. Mein Pornoname lautet Joe.«
Okay, nun ist der Punkt erreicht, an dem die stoische Geduld, die ich bis jetzt an den Tag gelegt habe, an ihre Grenzen gerät. Dementsprechend scharf schießen die kommenden Worte aus meinem etwas verkniffenen Mund. »Ich hab’s kapiert, Jonah. Du bist ein unverstandener Freigeist, den die spießige Welt einfach nur ankotzt.«
»Du kapierst gar nichts«, gibt er scharf zurück und klingt dabei gleichzeitig enttäuscht und resigniert.
»Dann erklär es mir«, bitte ich, erkenne aber im selben Moment, dass das wohl noch etwas warten wird müssen, weil plötzlich inmitten der weißen Winterberglandschaft ein kunterbunter Klecks zu sehen ist.
»Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Nick ein wenig außergewöhnlich ist?«
Ich bin noch nie zu dritt auf dem Ski-doo gefahren, und dass Nick sich gerade heute dazu entschlossen hat, dieses Experiment zu wagen, ist wieder mal an Ironie nicht zu übertreffen. Denn weil ich mich geweigert habe, mich zu dritt auf den – schon für zwei Personen recht knappen – Fahrersitz zu zwängen, hänge ich jetzt regelrecht hinten im Gepäckanhänger. Meine Hände versuchen verzweifelt, an den Seiten der Transportbox Halt zu finden, während mein Arsch bei jeder Unebenheit gemartert wird, so als wäre er eine Flipperkugel.
»Wir sind gleich da, Doc«, singsangt Nick in den Fahrtwind, und obwohl ich ihn mittlerweile wirklich liebgewonnen habe, bringen mich solche Aktionen immer wieder dazu, daran zu zweifeln, ob er tatsächlich als Bereicherung meines Lebens anzusehen ist. Meine schmerzenden Arschbacken gehen auf jeden Fall auf sein Konto, denn ich bin sicher, dass diese heute Abend von blauen Flecken übersät sein werden.
Als wir endlich am Berghotel ankommen, habe ich in so ziemlich all meinen Gliedern das Gefühl verloren. Natürlich abgesehen von dem des Schmerzes, weshalb ich recht froh bin, dass Oliver uns bereits erwartet und mir, zwar schallend lachend, aber doch tatkräftig beim Absteigen hilft.
»Geschafft«, jubiliert Nick, nachdem er vom Schneemobil gehüpft ist. »Und das mit nur einer Tour. Wenn ich nicht mittlerweile der weltbeste Ski-doo-Reiseunternehmer bin.«
»Warum bist du nicht zweimal gefahren?«, erkundigt sich Oliver immer noch lachend. »Elias’ Hintern hätte es dir gedankt.«
»Ist es so schlimm?« Schon ist Nick auf mich zugeschossen, um mir zärtlich den Allerwertesten zu tätscheln.
»Hör auf«, schimpfe ich, muss jedoch ebenfalls grinsen. Ihm wegen seiner Verrücktheiten böse zu sein, habe ich schon lange aufgegeben.
»Und du bist Jonah?« Oliver wendet sich indes meinem neben dem Schneemobil stehenden Noch-oder-Nicht-mehr-Mitbewohner zu.
»Ja. Hi.«
Die beiden schütteln sich die Hände, doch ich kann nur Nick ansehen, der wieder mal grinst, als ob er etwas ausbrüten würde.
»Was?« Das scheint auch seinem Lover aufgefallen zu sein.
»Kennst du ihn nicht?«, erkundigt sich der Kuschelchaot prompt. Wie sehr er diese Spielchen liebt, wenn er mehr Hintergrundwissen zu etwas hat als man selbst. Dafür überlässt er sogar meinen Arsch seinem Schicksal und gesellt sich zu den beiden anderen hinüber.
Jonah weiß anscheinend ebenfalls nicht so recht, was hier gerade abgeht, so verwirrt wie er dreinsieht. Und ich schon mal gar nicht.
»Nein«, antwortet Oliver, seinen Kopf leicht schräg legend. »Sollte ich?«
»Jonah ist Johannes. Du weißt schon, vom Schwarz-Hof.«
»Woher weißt du das?«, fragt Jonah irritiert, und ich bin es nicht weniger.
Nur Oliver scheint zumindest teilweise einen Plan zu haben. »Deine Großmutter war mit meiner Tante Anna befreundet«, erklärt er uns lächelnd.
»Ach«, entkommt es mir. »Und woher kennt Nick dann Jonah?« Das ist ja nicht grad eine logische Schlussfolgerung. Vor allem, da ich weiß, dass Jonah aus einem Dorf kommt, das noch gut fünfundfünfzig Minuten von hier entfernt ist.
»Ich war mit Tante Anna bei der Beerdigung seiner Oma und auch auf der von Lisbeth. Da hab ich ihn gesehen.« Nicks Stimme ist immer leiser geworden.
»Da waren sehr viele Menschen, ich kann mich leider nicht an dich erinnern. Sorry.« Jonah klingt entschuldigend und gleichzeitig so traurig, dass sich in meiner Brust etwas zusammenzieht.
»Kommt doch erst mal rein.« Trotzdem er uns beide damit angesprochen hat, gilt Nicks Aufmerksamkeit ausschließlich Jonah. Er legt ihm sogar einen Arm um die Schultern und lenkt ihn langsam Richtung Haus.
»Was war das?«, flüstere ich Oliver zu, kaum dass die beiden außer Hörweite sind.
»Du kennst doch Nick. Wenn jemand Kummer hat, kann er nicht anders.«
»Wer hat Kummer?« Ich steh hier eindeutig außen vor, und das ärgert mich ein wenig. »Und wer zur Hölle ist Lisbeth?«, frage ich, weil ich instinktiv spüre, dass sie der Schlüssel ist.
»Seine Schwester. Sie ist vor sechs Monaten gestorben«, erklärt Oliver irritiert. »Wusstest du das nicht? Ich dachte, ihr arbeitet zusammen?«
»Und?« Wieder mal fühle ich mich angegriffen, denn im Grunde weiß ich genau, dass Olivers kaum versteckter Vorwurf nicht unberechtigt ist. Er kennt mit Sicherheit die Geschichte jedes einzelnen Mitarbeiters des Hotels, und Nick sowieso.
Olivers Blick bekommt einen wissenden Touch – so sieht er meistens aus, wenn er gerne etwas sagen würde, es aber lieber lässt. In dieser Hinsicht ist er vollkommen anders als seine bessere Hälfte. Der würde nämlich niemals ein Blatt vor den Mund nehmen.
»Wolltest du mir nicht die Sauna zeigen?«, starte ich ein Ablenkungsmanöver, und obwohl ich erst fürchte, mein Versuch hätte nicht gefruchtet, nickt Oliver schließlich und stapft Richtung Wellness-Scheune davon.
Und ich folge ihm, wobei ich nicht verhindern kann, dass mein Blick zum Haus fliegt. Was Nick und Jonah wohl gerade da drin besprechen? Vielleicht, wie unsensibel ich bin? Und damit hätten sie verdammt noch mal nicht unrecht. Denn irgendwie ahne ich, dass alles, was ich mir bisher in meinem Kopf über Jonah zurecht gesponnen habe, nicht mal annähernd den Tatsachen entspricht.