16. Kapitel
Jonah
Etwas überfordert lasse ich mich von Nick ins Haus und weiter in eine geräumig aussehende Wohnküche führen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich hier um die Privaträume der beiden handelt. Er platziert mich an dem großen Tisch und versorgt mich mit etwas, das aussieht, als wäre es durch das Einschmelzen eines Einhorns entstanden. Dennoch schmeckt es lecker. Süß und warm, und es tut gut. Das Getränk und Nicks Fürsorge einfach auch.
Nach und nach hat sich doch eine Erinnerung an ihn in mir herauskristallisiert. Geholfen hat das selbstgemalte Bild dieser Tante Anna, das er mir im Vorraum gezeigt hat. Natürlich kenne ich sie. Von früher, als meine Oma noch lebte, und irgendwie bin ich mittlerweile auch davon überzeugt, auf der Beerdigung von Lisbeth ein paar Wörter mit ihr gewechselt zu haben. Und dass sie in Begleitung gewesen ist. Außerdem ist es mir inzwischen gelungen, Nick mit dieser Begleitung zu verbinden. Nur dass er damals in einem schwarzen Anzug gesteckt hat, während er nun rote Jeans und einen blassrosa Pulli trägt, auf dem vorne eine dickliche, männliche Fee mit nacktem Hintern abgebildet ist. Dieser gravierende Unterschied ist wohl auch der Grund für meine verzögerte Erinnerung, aber das ist nur eine Theorie von mir.
»Oliver und Elias kommen bestimmt gleich nach. Wie ich die beiden kenne, müssen sie erst mal einen Blick auf die neu verflieste Sauna werfen. Sie lieben diese Renovierungsarbeiten, weißt du. Echte Männer eben. Wenn sie betonieren, mauern und was weiß ich noch alles können, sind sie in ihrem Element. Ich bin ja eher für den abschließenden Feinschliff geeignet. Da gilt es, Glitzersteinchen zu kleben, Kissen zu drapieren oder sonstige Dinge, die Farbe ins Leben bringen.«
Nick ist wirklich ein Unikat, davon bin ich schon jetzt, nach den wenigen Minuten, überzeugt. Und ich mag ihn, wenngleich ich mich frage, wie jemand wie er mit Elias befreundet sein kann beziehungsweise umgekehrt. Genauso überrascht bin ich übrigens von Nicks Beschreibung, was Elias’ handwerkliche Ambitionen betrifft.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Elias ein heimlicher Heimwerker ist«, lasse ich Nick an meinen Gedanken teilhaben.
»Ich auch nicht. Aber man soll eben nie nur nach dem ersten Eindruck gehen.«
»Was er aber sehr wohl tut.« Die Worte sind mir entschlüpft, bevor ich es verhindern kann, doch Nick kommt nicht mehr dazu, darauf zu reagieren, weil die Tür sich öffnet und die beiden anderen eintreten.
Sie nehmen am Tisch Platz, wobei Elias mir sogar ein Lächeln schenkt, das ich unsicher erwidere. Haben er und Oliver da draußen über mich gesprochen? Ist er nun von dem Gefühl erfüllt, das ich auf keinen Fall heraufbeschwören wollte? Nämlich Mitleid.
»Möchtest du meine neue Spezialität versuchen, Doc?«
»Bloß nicht«, lacht Oliver. »Elias und ich nehmen Kaffee, von diesem Marshmallow-Quatsch bekommt man höchstens einen Zuckerschock.«
»Du weißt doch nicht, was gut ist«, gibt Nick beleidigt zurück.
»Ich find ihn lecker«, sage ich, was mir einen dankbaren Blick von Nick einbringt und einen erstaunten von Elias. Letzteren erwidere ich fast ein wenig bockig, immerhin bin ich noch immer sauer auf ihn, und das soll er ruhig merken.
Kurz fixieren wir einander, dann seufzt er und wendet sich ab. »Wie geht’s Anna?«
»Gut. Sie ist heute mit Fred auf einem Bauernmarkt in Reutte. Da soll es die besten Buchteln der Umgebung geben.« Oliver, der aufgestanden ist, um zwei Becher Kaffee zu holen, nimmt eben wieder Platz.
»Ist Anna nicht selbst eine Koryphäe der Mehlspeisenküche?«
»Deshalb wollte sie dahin. Sie will herausfinden, was das Geheimnis ist.« Oliver lacht, Elias stimmt schnell mit ein. Die beiden verstehen sich sichtlich gut, doch das ist ja kein Wunder. Oliver verkörpert praktisch alles, was Elias an einem Mann als erstrebenswert erachtet. Er sieht gut aus, ist, soweit ich das beurteilen kann, weder tätowiert noch gepierct, und in einer festen Beziehung. Dieser Aufzählung fehlt dann wohl nur ein Punkt auf der Perfektionsliste, und den hinterfrage ich gleich mal, wenn auch bei Nick. »Wollt ihr eigentlich Kinder, ihr zwei?«
»Was?« Nick kichert. »Nein. Ich bin ein begeisterter Onkel und der absolute Hero für die Kiddies meines Bärchens … das ist mein bester Freund David … aber eigene? Nein, da bin ich raus.«
Während er gesprochen hat, ist mein Blick zu Elias zurückgekehrt, was dem nicht entgangen ist. Er sieht mich ebenfalls an, dann zuckt eine Augenbraue hoch, ehe sich seine Augen etwas zusammenziehen. »Jonah versteht das sicher perfekt, Nick. Da er ja allgemein mit Familie nicht viel am Hut hat.«
Nun kann ich nicht verhindern, dass sich meine – heute ohnehin ständig präsente – Wut auch auf meinen Zügen sehen lässt. »Na, du musst es ja wissen.« Ich stemme die Arme auf die Tischplatte und mich selbst hoch. »Ich mach einen Spaziergang«, presse ich hervor und stürme fast zeitgleich los. Ist mir doch egal, was die da drin jetzt von mir halten. Ich muss hier raus!
»Elias meint es nicht so. Er ist halt ein kleiner Moralapostel, dem es schwerfällt, Dinge zu sehen, die man ihm nicht direkt vor die Nase hält.« Nick ist mir gefolgt. Er trägt eine kunterbunte Daunenjacke, eine Mütze mit Bärchenohren, und in seiner Hand hängt meine Jacke, die ich in meiner idiotischen Aufregung vergessen habe.
»Danke«, sage ich, klemme die Zigarette zwischen meine Lippen und hülle mich in den warmen Stoff.
»Aber er ist ein wahrer Schatz, wenn er erst mal Vertrauen zu dir gefasst hat. Das kann ich dir versprechen.«
»Warum hat er mich bei sich einziehen lassen, obwohl er mir nicht vertraut?«
Meine berechtigte Frage lässt mein Gegenüber ernst werden, auch wenn das Lächeln in seinen Augen bleibt. Ich bezweifle, dass man es überhaupt vertreiben kann. Es ist, als würde sich sein großes Herz darin spiegeln, und ich weiß einfach, dass er so eines besitzt. Zwar kann ich mich immer noch nicht an seine Worte erinnern, aber da ist ein Gefühl von temporärem Trost, wenn ich ihn in dem kleinen Pfarrsaal, in dem wir uns nach Lisbeths Beerdigung getroffen haben, vor mir sehe.
»Elias hat mir anfangs ebenfalls nicht vertraut. Hielt mich für durchgeknallt … was ja bis zu einem gewissen Grad stimmt … aber er dachte auch, dass ich mich nicht darum kümmere, wie es den Menschen in meiner Umgebung geht. Dass ich nur darum bemüht bin, meinen Spaß zu haben. Und das hat mich verletzt. Das kann er leider wirklich gut, der Süße.«
»Weil er einen nicht ausreden lässt, oder noch schlimmer, überhaupt nicht fragt, was man zu manchen Dingen für eine Meinung hat.«
»Bist du in ihn … ich weiß nicht … verknallt?« Eine gewisse Sensationslust flackert da in seinen Augen, doch das empfinde ich nicht als negativ. Es kommt mir bekannt vor, denn Lisbeth konnte das auch gut. Ihre Freude stand ihr immer buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
»War ich.« Ich mache einen letzten Zug von meiner Zigarette, die ohnehin fast aufgeraucht ist, und das ohne mein Zutun. »Nein … bin ich«, korrigiere ich meine Aussage. »Aber das hat sich hoffentlich bald erledigt.«
»Komm mal mit.« Nick hakt sich bei mir unter und ich lasse mich mitziehen. Hinters Haus und weiter auf ein kleines Wäldchen zu, neben dem ein Hügel aufragt, auf dem einige Kinder ihre Rodeln flitzen lassen.
»Ich bin ein Mensch, dem es schwerfällt, sich rauszuhalten. Also bitte ich dich schon mal vorweg um Entschuldigung, sollte ich zu sehr ins Detail gehen, ja?«
Ich runzle die Stirn. Was kommt jetzt?
»Wie kam es eigentlich, dass du bei deinen Eltern aus- und bei Elias eingezogen bist?«, fragt er nach ein paar Schritten zu meiner Verwunderung.
In mir pocht die Unsicherheit darüber, ob und wenn ja, warum ich ihm das erzählen sollte, doch im gleichen Moment wird mir bewusst, wie sehr ich es jemandem sagen möchte. Also lass ich es raus – einfach so. »Weil ich es zuhause nicht mehr ausgehalten habe.«
»Deiner Mama geht’s nicht gut, nicht? Das Tantchen war erst letzte Woche wieder bei ihr und hat mir davon erzählt.«
Ich luge zu ihm hinüber, er sieht aber nicht mich an, sondern scheint auf den Weg konzentriert, der uns jetzt über einen schmalen Pfad zwischen Tannenbäumen führt. So will er mir wohl zumindest dahingehend Privatsphäre bieten, nicht unter Beobachtung zu stehen und so meine Mimik nicht kontrollieren zu müssen.
»Sie nimmt nichts wahr, außer ihrer Trauer um Lisbeth.«
Er brummt. Ein Laut, den ich als Zustimmung interpretiere. »Das muss sehr schwer für dich sein.«
»Es ist auch für sie nicht leicht.«
Wieder brummt er, danach folgt ein Seufzen.
»Du nennst dich Jonah, hatte Lisbeth auch einen Spitznamen?«
»Ja«, antworte ich, warte darauf, dass er nachhakt, aber er tut es nicht. Vielleicht, weil er fühlt, dass ich es nicht sagen kann. Nicht jetzt. Denn das würde etwas lostreten, dem ich mich im Moment nicht stellen kann und will.
Für die nächsten zwei Minuten ist nur das Knirschen des Schnees unter unseren Füßen zu hören. Ich lasse diese Stille auf mich wirken und das Gefühl, das mich wie gewohnt erfasst, wenn ich in der Natur bin. Ich werde ruhig, fühle mich sicher.
Der Weg beschreibt eine leichte Biegung und vor uns blitzt eine Lichtung auf. Ich stolpere ein wenig, als eine vom Schnee versteckte Baumwurzel sich mir in den Weg stellt, und bin überrascht, mit welch sicherem Griff Nick mich neben sich hält. Ich luge erneut zu ihm hinüber. Er ist ein gutes Stück größer als ich, dafür aber um einiges dünner – oder schlanker –, wie man es eben nennen möchte. Niemals hätte ich daher diese Kraft erwartet.
»Wenn Menschen trauern, dann verlieren sie oft den Halt. Und das lässt sie vergessen, dass da auch andere sind, die leiden. Die sie brauchen würden.«
Wieder muss ich ihn ansehen, weil ich auf fast gespenstische Weise das Gefühl habe, ich befände mich gerade in einem Traum und jemand erzählt mir von meinem eigenen Leben. So als würde derjenige – in diesem Fall Nick – mich besser kennen als ich selbst, oder mindestens genauso gut.
»Ich denk grad …« Er fährt fort zu sprechen, als würde er nicht bemerken, dass ich ihn anstarre, obwohl ich sicher bin, es ist ihm nicht entgangen. »Das muss wirklich hart sein. Wenn man allein gelassen wird, in einer Zeit, in der man so sehr jemanden braucht.«
Ich schlucke hart, immer mehr fühle ich mich, als befände ich mich in einer Therapiesitzung. Das ist unheimlich, wie gut er mich zu verstehen scheint. Stets vorausgesetzt, er spricht tatsächlich über mich.
»Sie hat mich schon vorher nicht mehr gesehen, bevor Betty gestorben ist«, gebe ich zu. Nun ist er mir doch entschlüpft. Dieser Name, den meine Eltern ablehnen würden, der aber gerade deshalb niemals aus meinem Sprachgebrauch verschwinden wird. »Wenn Lisbeth und ich allein waren, dann nannte sie mich Jonah und ich sie Betty. Das durfte niemand hören, weil meinen Eltern unsere Taufnamen heilig waren«, erkläre ich ihm leise, obwohl er gar nicht gefragt hat.
»Ich heiße eigentlich Dominik. Aber so nennt mich niemand. Nicht mal mein Bruder.«
»Wie machst du das?« Ich kann mir diese Frage nicht verbeißen.
»Was?« Er grinst.
»Du gibst mir das Gefühl, ich würde dich ewig kennen. Als könnte ich dir alles erzählen.« Obwohl mir meine Irritation anzuhören ist, hoffe ich, er spürt, dass dies keine negative Empfindung ist.
»Ja.« Er seufzt. »Das hab ich schon öfter gehört. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Vielleicht, weil ich so auf die Menschen zugehe, wie ich mir wünsche, sie würden mir begegnen.«
»Ich bin manchmal so müde, weißt du. Vorige Woche zum Beispiel. Ich hatte Geburtstag, aber meine Eltern haben es vergessen.« Zum ersten Mal, seit dieses Gespräch begonnen hat, habe ich das Gefühl, Nick schockiert zu haben, doch er fängt sich schnell, nur sein Griff an meinem Arm wird fester.
»Ich bin nach Wien abgehauen. In einen Club.«
»Wirklich? Welchen?«
»Das Why not
»Oh. Das nächste Mal musst du ins Black Velvet gehen. Da hab ich mal gearbeitet.«
»Kenn ich auch.« Nun fühle ich mich noch mehr mit ihm verbunden. Klar hat Elias erwähnt, dass Nick und Oliver früher in Wien gewohnt haben, trotzdem hatte ich das irgendwie grad nicht auf dem Schirm.
»Also tanzt du dir den Frust von der Seele, wenn es dir zu viel wird?«, lenkt Nick unser Gespräch wieder geschickt zurück auf den Ursprung.
»Wie man es nimmt. In diesem Fall war ich auf einen One-Night-Stand aus, der sich schlussendlich zu einem geilen Dreier entwickelt hat.«
»Oookkaaay.« Nick hält abrupt an und ich natürlich mit ihm, denn schließlich sind unsere Arme noch ineinander verhakt. »Du bist ja einer. Das gefällt mir.«
Ich muss grinsen, als er es auch tut, doch in seiner Miene hält rasch wieder der Ernst Einzug. »Oh. Langsam versteh ich immer besser, was das Problem zwischen dir und Elias ist. Weiß er denn, dass du eher freidenkend bist, was sexuelle Abenteuer angeht?«
Meine inzwischen kaltgefrorenen Ohren – leider trage ich keine Mütze – gewinnen an Wärme, genauso wie dem Gefühl nach meine Wangen. »Keine Ahnung. Er hat angedeutet, dass er von den Schwestern so etwas gehört hat.«
»Welchen Schwestern? Aus einem Club?«
»Was?« Kurz bin ich planlos, dann fällt mir ein, dass dieser Begriff in der Community gerne für Männer verwendet wird. »Nein. Die Krankenschwestern aus unserer Klinik.«
»Ach so. Sorry, wir springen aber von einem Thema zum anderen.« Er kichert, schüttelt dann den Kopf. »Also, wo waren wir? Ach ja. Genau. Elias weiß zwar nichts von deinem Geburtstagsdreier, dafür aber, dass du gerne mal durch die Clubs ziehst.«
Meine Schultern hüpfen. »Anscheinend.«
»Und das stört ihn, weil er ja nicht so der Fan von durchgefeierten Nächten ist. Außer die Feste finden hier bei uns statt. Ich sag dir, beim Sommerfest der Drags, das ich voriges Jahr im August veranstaltet habe, war er nicht wiederzuerkennen. Er hat sogar gesungen. Karaoke. Gut, er war blau, aber nicht so sehr. Natürlich war er da noch mit Tobias zusammen.«
»Weißt du, warum die beiden Schluss gemacht haben?«, frage ich, obwohl ich durch die Gespräche mit Elias schon so meine Ahnung habe.
»Da fragst du lieber unseren Doc. Ich bin zwar eine Plaudertasche, aber sogar ich kenne meine Grenzen.«
»Ich kann es mir schon denken, weil der es ablehnt, ihm einen Ehering und Kinder zu schenken.«
»Letzteres wäre biologisch auch schwierig«, wirft Nick grinsend ein, dennoch erkenne ich, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe. »Was mich drauf bringt – wie denkst du denn über dieses Thema?«
Ich zögere, antworte dann aber doch, wenn auch zuerst mit einer Ausflucht. »Elias ist sich sicher, dass ich so wie sein Ex denke.«
Nick lacht leise. »Und wie sieht es wirklich aus?«
Ein tiefer Seufzer verlässt meine Brust. »Ich wünsch mir eine Familie, aber nur mit jemandem, der das auch mit mir möchte.«
»Na, sieh an.« Die Sensationslust ist zurück, doch in einer sehr gemäßigten, zurückhaltenden Art.
Trotzdem muss ich etwas klarstellen, und zwar deutlich. »Aber ich hoffe, die Plaudertasche weiß auch mit dieser Info umzugehen.«
»Keine Angst. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Er klemmt Zeigefinger und Daumen zusammen und zieht sie, das Schließen eines Reißverschlusses imitierend, symbolisch über seine Lippen.
Und ich muss schmunzeln, weil ich ihm zwar glaube, aber dennoch irgendwie ahne, dass er diese Information nutzen wird. Wofür auch immer!