17. Kapitel
Elias
»Ich hoffe, dass wir mittlerweile gut genug befreundet sind, damit ich dir sagen kann, was du manchmal für ein gefühlsarmer Holzklotz bist.« Oliver und ich sind nach dem Kaffee auf Bier umgeschwenkt, das wir nun, im Wohnzimmer von Oliver und Nicks Wohnung sitzend, genießen.
Das heißt, Oliver sitzt, ich stehe am Fenster und spitzle immer wieder am Vorhang vorbei nach draußen. »Meinst du, die beiden sind spazieren gegangen, oder wie?«
»Anzunehmen, oder siehst du sie noch?«
»Nein.«
»Dann wird es wohl so sein.«
Ich werfe ihm einen gefrusteten Blick zu. »Warum bist du auf mich sauer?«
Er verdreht die Augen. »Ich bin gar nicht sauer. Nur irritiert von dem, was du mir erzählt hast.«
»Nur weil auch mit mir mal die Pferde durchgehen?«, beschwere ich mich erneut über seine nicht enden wollende Kritik, nachdem ich ihm von der Küsserei gestern berichtet habe.
»Du weißt genau, dass es hier nicht um den Kuss geht, sondern um das Nachspiel.« Natürlich war mir klar, dass mein Verhalten danach sein Missfallen erregt hat, doch ich kapiere immer noch nicht exakt, warum.
»Du machst wiederholt die gleichen Fehler, das regt mich auf.« Er nimmt einen langen Schluck, steht dann auf und kommt zu mir herüber, um sich an das andere Fenster zu lehnen.
»Nein. Eben nicht. Dieses Mal habe ich es beendet, bevor ich so tief drin stecke wie bei Tobias.«
Olivers Augen drehen einen Kreis, gleichzeitig entweicht ein genervter Atemzug seiner Brust. »Du weißt doch aber gar nicht, ob er dieselben Ansichten hat wie Tobias. Das meine ich damit.«
»Das ist eine logische Schlussfolgerung. Ich habe etliche Typen wie ihn gesehen. Solche Schönlinge sind meistens nicht für einen Mann gemacht. Außerdem habe ich einiges von ihm selbst und von anderen gehört.«
»Du weißt schon, dass Vorurteile etwas sind, wogegen unsere Community am meisten kämpft.«
»Ich habe keine Vorurteile. Ich sammle Fakten, die ich dann auswerte.«
Dieses Mal bläht er sogar seine Backen, bevor er lautstark Dampf ablässt. »Und welche Fakten sind das? Dass er gerne feiern geht, Piercings hat und eben auch ein Tattoo?«
Ich bereue längst, ihm von meiner unfreiwilligen Spanneraktion erzählt zu haben. »Ein Riesentattoo«, ergänze ich, weil mich das tatsächlich nachhaltig beeindruckt hat und ich mir immer noch nicht im Klaren bin, inwiefern. Wobei ich hier zwischen irritiert und fasziniert schwanke. Denn es hat schon was, wie sich diese Zeichnung von seiner gebräunten Haut abhebt. Eine sinnliche Einladung, darüber zu streichen, oder sogar …
»Wow, woran hast denn du grad gedacht?«, erkundigt sich Oliver mit spöttischer Stimme und unterbricht so meine Gedanken.
»An gar nichts«, behaupte ich.
»Lügner! Es hat nicht viel gefehlt und du hättest zu sabbern begonnen.«
»Toll, dass du dich so über mich amüsieren kannst.« Ein weiterer Blick aus dem Fenster ist fällig, doch von Nick und Jonah ist immer noch nichts zu sehen. Nur eine vierköpfige Familie, die diskutierend Richtung Rodelwiese davoneilt.
Oliver stupst mit seiner Schuhspitze gegen meinen Unterschenkel, um sich meine Aufmerksamkeit zu sichern. »Was ist denn dabei, wenn du auf ihn stehst? Der Einzige, der ein Drama draus macht, bist du.«
»Er ist attraktiv, aber er entspricht nun einmal nicht meinen Vorstellungen.«
Mein Einwand prallt an ihm ab, oder besser an seinem äußerst genervten Blick. »Vorstellungen kann man ändern. Denkst du, ich hätte vor zehn Jahren von Nick geträumt?«
Darauf sage ich nichts, weil ich das ehrlicherweise schon öfter infrage gestellt habe.
»Ich hab Nick in einem brombeerroten Trainingsanzug kennengelernt. Er war der verrückteste Typ, den ich jemals gesehen hatte, und hättest du mich in diesem Moment gefragt, ob ich mir eine Zukunft mit ihm vorstellen kann, hätte die Antwort nein gelautet. Und zwar mit Überzeugung.«
»Was hat dich umgestimmt?«, erkundige ich mich höchst gespannt.
»Er. Weil er der warmherzigste Mensch ist, der mir jemals begegnet ist. Und erst als ich das akzeptiert habe, konnte ich auch den Rest sehen. Wie sexy er ist und … na ja … andere Dinge eben.«
»Aber ich hab Tattoos und Piercings nun einmal bis jetzt nicht gemocht. Ich meine, es ist ja heute schon fast ein Verbrechen, wenn man das nicht mag.« Ich fange seinen erstaunten Blick ein. »Sogar ihr zwei seid schon auf den Zug aufgesprungen!« Wie ich seit kurzem weiß , möchte ich gerne hinzufügen, lasse es aber. Was andere machen, geht mich schließlich nichts an.
»Du sagst es doch selbst. Bis jetzt!«
»Ich denke nicht, dass es das Tattoo allein war, was mich angezogen hat«, gebe ich beleidigt zurück.
»Nein. Vielleicht war’s auch der kleine Ring in seinem Schwanz.«
Und dieses Detail hätte ich mir auf jeden Fall verbeißen sollen. Weil es klar war, dass ihn das am meisten amüsieren wird. »Sein Körper ist ansprechend, aber eben auch mit Dingen geschmückt , die mir weniger bis gar nicht gefallen«, finde ich endlich die richtige Formulierung.
»Das Tattoo hat dir gefallen. Das hast du mehr oder minder bereits zugegeben.«
»Was willst du eigentlich von mir? Dass ich es laut ausspreche? Also, okay. Ja! Ich steh auf ihn, und ich wünsche mir, dass da mehr geht. Aber das ist unmöglich, weil wir unterschiedlich ticken und ich am Ende wieder mit einem gebrochenen Herzen dasitzen werde!« Immer lauter bin ich geworden, und Olivers Augen immer größer.
Danach ist es erst mal für einige Sekunden ruhig, doch dann wandern Olivers Mundwinkel langsam nach oben. »Mann. Dich hat’s ja echt voll erwischt!«
Oliver hat uns ein Mittagessen gezaubert, das wir uns, nachdem Jonah und Nick endlich von ihrem Spaziergang zurückgekehrt sind, in der Wohnküche schmecken lassen. Dabei plaudern wir recht entspannt, was bedeutet, dass größtenteils unsere beiden Gastgeber wortführend sind. Jonah und ich begnügen uns damit, zuzuhören und ab und zu mal nachzufragen. Die Themen betreffen ausschließlich das Hotel oder ihr Tantchen Anna, was schon fast lächerlich ist, nachdem sie uns zuvor praktisch therapiert haben.
Was mich dabei nervös macht, ist, dass ich nicht sicher bin, was Nick und Jonah so alles besprochen haben. Unser kuschelsüchtiger Chaot, der normalerweise nicht mal dann seine Meinung zurückhält, wenn man ihn darum gebeten hat, übt sich jedoch ausgerechnet jetzt im Einhalten eines seltsamen Schweigegelübdes. Jonah selbst macht ebenfalls null Anstalten, auch nur anzudeuten, was in seinem Kopf vorgeht. Das einzig Positive ist, dass er mich längst nicht mehr so verstimmt ansieht, wie bei unserer Fahrt hierher.
Ich selbst bin ohnehin damit beschäftigt, für mich abzuwägen, ob ich nun mein halbherziges Versprechen, ihn auf dem Nachhauseweg bei seinem Freund abzusetzen, halten soll oder nicht. Fakt ist, ich möchte immer noch nicht, dass er auszieht, auch wenn meine Überzeugung aufrecht ist, dass wir zumindest beziehungstechnisch keine Zukunft haben.
Ich frage mich jedoch, wie sehr mich diesbezüglich die Erkenntnis über seine Familientragödie beeinflusst. Es fühlt sich irgendwie falsch an, im Tod seiner Schwester den Grund für seine manchmal so offensichtliche Traurigkeit zu suchen. Oder vielleicht nicht falsch, sondern unvollständig. Natürlich ist das eine Begründung, doch da ist noch mehr, das spüre ich. Und das macht mich neugieriger, als ich wahrscheinlich sein sollte.
Jonah bietet an, Nick beim Abwasch zu helfen. Also fühle ich mich verpflichtet, ebenfalls meine Hilfe zu offerieren, was damit endet, dass irgendwann nur mehr Jonah und ich in der Küche stehen – manchmal frage ich mich, warum es mich überhaupt noch verwundert, wie begabt Nick darin ist, Situationen zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Schweigend spülen und trocknen wir das Geschirr, nur ein paar kleine Blicke tauschen wir aus, die mir wenigstens zeigen, dass Jonahs Zorn auf mich tatsächlich nahezu verschwunden zu sein scheint.
»Die beiden sind sehr nett«, ist es schließlich er, der unser Schweigen bricht.
»Ja. Ich mag sie sehr«, gebe ich zurück, dieses Mal dauert unser Blickaustausch länger.
»Es war mir peinlich, dass ich mich nicht daran erinnert habe, dass Nick auf der Beerdigung meiner Schwester war.«
»Das ist doch verständlich, da hattest du mit Sicherheit andere Dinge im Kopf.« Wieder fange ich seinen Blick ein, um zu prüfen, inwiefern die Traurigkeit sich darin verfangen hat. Sie ist da, doch meine Ahnung von vorhin bestätigt sich, denn es ist nicht der gleiche Ausdruck, den ich schon so oft gesehen habe.
»Inzwischen ist mir sogar eingefallen, dass wir uns kurz unterhalten haben, damals, meine ich.«
»Er ist sehr empathisch«, erwidere ich nur, habe ich doch schon oft genug diese Erfahrung gemacht.
»Und unheimlich.« Er lacht, wirkt wirklich gelöster als noch heute Morgen. »Das mein ich nicht böse, aber vorhin, bei unserer Unterhaltung, war es fast gespenstisch, wie schnell ich mich ihm gegenüber geöffnet habe.« Nachdem er das ausgesprochen hat, presst er die Lippen zusammen, was mir suggeriert, er hätte es lieber nicht getan.
»Das ist so eine Sache bei Nick. Man will es vielleicht nicht, aber plötzlich erzählt man ihm Dinge, die man niemals für möglich gehalten hat.«
Jonah stellt den letzten Teller in die Abtropftasse, seufzt und sieht zum Fenster hinter der Spüle hinaus. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Klar.« Ich lasse das Geschirrtuch sinken, sehe ihn nur an, weil er mit einem Mal wieder so verloren klingt.
»Magst du mich?«
»Was? Natürlich mag ich dich.«
»Aber?«
»Was aber?«
Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. »Das will ich ja von dir wissen.«
Plötzlich verstehe ich, doch so gern ich ihm auch antworten möchte, habe ich keine Erklärung parat. »Es ist nicht wirklich ein aber«, gebe ich schließlich zu. »Eher ein trotzdem.«
»Also können wir Freunde sein, aber nicht mehr?« Seine Betonung jenes Wortes, das ich eben noch zu entkräften versucht habe, lässt mich schmunzeln.
»Ja. So könnte man es sehen. Aber …«, gehe ich auf sein Spiel ein, sofern es denn eines ist, »… vor allem möchte ich, dass du bei mir wohnen bleibst, bis dieses Zimmer in der WG frei wird.«
»Weil du jetzt Mitleid mit mir hast, seit du weißt, was bei mir zuhause los war?«
»In Wahrheit weiß ich es immer noch nicht genau. Aber das ist mit ein Grund, warum ich möchte, dass du bleibst. Nicht aus Mitleid, zumindest nicht nur. Ich würde dich gerne näher kennenlernen, und das nicht erst, seit ich das von Lisbeth weiß. Das wollte ich schon vorher.« Mir ist unklar, warum ich ihm das jetzt gebeichtet habe, doch es fühlt sich verdammt richtig an.
Er lächelt, wendet mir schließlich den Blick zu. »Das wäre großartig.«
Ich muss einfach zurücklächeln. »Dann ist es abgemacht. Du kommst wieder mit zu mir, aber …« Mein Schmunzeln kommt automatisch, weil dieses verdammte Wort wirklich unheimlich oft in meinen Sätzen vorzukommen scheint. »Kein Aber. Und. Du kommst wieder mit und wir sind Freunde.«
»Freunde?«, wiederholt er, dabei meine ich ein wenig Sehnsucht in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Ich gehe nicht darauf ein, nicke stattdessen nur und greife mir den letzten Teller, um ihn abzutrocknen.
»Bereit für ein Käffchen und einen obergeilen Kokoskuchen?«, tönt da wie auf Befehl Nicks fröhliche Stimme zu uns herein.
Auf der Heimfahrt sind wir eher schweigsam, was ich jedoch nicht als unangenehm empfinde. Es ist ein anderes Schweigen als bei unserer Fahrt hierher. Eine gesunde Variante davon, wie sie gern mal zwischen Menschen besteht, die sich auch ohne Worte verstehen. Das ist in unserem Fall natürlich noch nicht möglich – dafür ist zu vieles ungeklärt – aber ich weiß irgendwie, dass wir das jetzt hinbekommen werden.
»Hast du morgen wieder Dienst?«, fragt Jonah kurz nachdem wir die Stadtgrenze von Innsbruck passiert haben.
»Nein. Ausnahmsweise hab ich mal drei Tage frei.«
»Cool, dann sind wir morgen auch beide zuhause.«
Ich sehe zu ihm hinüber, er wirkt wirklich erfreut. »Ja. Scheint so.« Ich bin noch nicht sicher, worauf er hinaus will.
»Ich würde dich übrigens heute gerne bekochen, nur leider gehört das gar nicht zu meinen Talenten. Also werde ich anders für unser leibliches Wohl sorgen – ich bin nämlich ein Meister der Lieferservice-Apps.« Es ist fast, als hätte es unseren Disput nicht gegeben. Frech grinsend gefällt er mir auf jeden Fall tausendmal besser als schmollend oder beleidigt. »So als kleines Dankeschön, weil du mich heute mitgenommen hast.«
»Sehr gerne. Aber das wäre nicht notwendig. Ich meine, du musst dich nicht bedanken.«
»Will ich aber.«
»Na dann. Okay. Ich freu mich.« Und das tue ich wirklich. Wie schon so oft, haben sowohl Nick als auch Oliver die richtigen Worte gefunden, und offensichtlich wie es scheint, nicht nur bei mir.
»Schön.«
Den Rest der Fahrt schweigen wir erneut, doch da ist ein zartes Lächeln auf unseren Gesichtern, das irgendwie nicht wegzugehen scheint.