30. Kapitel
Elias
»Bereit, wenn ihr es seid, Sirs.« Nach Jonah und mir haben es nun auch Nick und Oliver geschafft, ihre Garderobe an die im Stil der Magenta aus der Rocky Horror Picture Show gekleidete Empfangs-Dragqueen zu übergeben. Was dabei zum Vorschein gekommen ist, zeugt vor allem bei Nick ein weiteres Mal von seiner Vielfältigkeit.
Schon öfter hat er mich mit seinen Outfits überrascht, doch das heute schießt definitiv den Vogel ab. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber mit Sicherheit etwas Buntes mit jeder Menge Glitter. Nur dass ich mit dieser Annahme vollkommen daneben liege. Kaum ihrer wärmenden Oberbekleidung entkommen, die aus zwei langen dunkelgrauen Mänteln besteht, wird nämlich klar, dass Oliver und Nick für das abendliche Eröffnungsevent auf einen äußerst körperbetonten Partnerlook setzen, der so gar nichts mit Einhornglitzer zu tun hat.
Ihre Destroyed Denims sitzen eng – sehr eng – und lassen außerdem tief auf ihre gebräunte Haut blicken. Nun weiß ich auch beziehungsweise sehe ich, warum sie sich nicht nur mental auf dieses Wochenende vorbereitet haben, sondern zusätzlich im Sonnenstudio. Ihre weißen T-Shirts sind nicht ganz so körperbetont geschnitten, doch die Cut Outs an der Brust zeigen
ebenfalls, was die beiden zu bieten haben – unter anderem Nicks Nippelpiercings.
»Ist das eine Beachparty?«, raune ich Jonah zu, während ich mich skeptisch umsehe. Der Bierhimmel
, wie das Lokal heißt, in dem die Welcome- und Farewell-Party
des diesjährigen Gay-Snowhappenings stattfindet, ist im ersten Stock eines Hauses, in dem ebenerdig eine Boutique und ein Blumengeschäft untergebracht sind. Schon hier unten, wo für das Event eine provisorische Garderobe eingerichtet wurde, ist es mehr als voll, und außerdem riecht es nach einer Mischung aus verschwitztem Mann und Parfum, was wahrlich nicht zu meiner bevorzugten Duftnote gehört.
»Wohl eher eine Bitchparty«, erwidert er grinsend und lässt zusätzlich seine gepiercte Augenbraue tanzen. Heute trägt er ein anderes Schmuckstück als gewöhnlich. Der schlichte silberne Ring ist einer weißgoldenen Version mit einem funkelnden Stein gewichen. Was mir jedoch mehr zu denken gibt: Er hat seine Brustwarzenpiercings ebenfalls gegen andere ausgetauscht.
Wozu?
, frage ich mich, immerhin kann man die ja unter seinem, wenn auch eng sitzenden Shirt nicht sehen.
»Was guckst du denn so grimmig, Baby?« Jonahs Arm fängt mich ein und zieht mich näher. Ich umarme ihn ebenfalls und schmiege mich kurz an ihn. Wir sind noch nicht mal am Fuß der Treppe angekommen, die hinauf in den Bierhimmel führt, und ich bin ehrlich froh, dass ich nicht zu Klaustrophobie neige.
»Sorry«, murmle ich, da ich ihm und auch mir selbst versprochen habe, es heute locker anzugehen.
›Wir gehen da hin. Wenn es uns gefällt, gut, wenn nicht, dann schwirren wir wieder ab und machen uns einen schönen Abend auf dem Zimmer‹
, lautete Jonahs Vorschlag. Nur dass ich natürlich weiß, wie sehr er sich auf das hier gefreut hat, und das will ich ihm nicht vermiesen. Auf keinen Fall!
»Kommt schon, ihr Süßen. Wir sehen zauberhaft aus, also mischen wir uns unters queere Volk.« Nick umschlingt uns beide von hinten, zwängt seinen Kopf zwischen unsere und drückt uns je einen Kuss auf die Wangen.
»Großartig, jetzt hab ich sicher Lippenstift auf der Backe«, kontere ich trocken.
»Das ist nur Lipgloss, Doc. Also bleib cool.«
»Und der färbt nicht ab?« Ich wische demonstrativ über die Stelle, an der mich sein Küsschen getroffen hat.
»Nein. Tut er nicht. Und zur Erinnerung – ich hätte dich auch aufgehübscht, aber du wolltest ja nicht.«
Damit spielt er auf die Schminksession an, die er vorhin mit Oliver und Jonah am WC des Lokals abgezogen hat, in dem wir unser Abendessen eingenommen haben. Weswegen mein Lover nun ebenfalls mit Kajal umrandete Augen sein Eigen nennt und außerdem einen Hauch Gold auf seinen Lidern trägt. »Ich hoffe, ich verderbe euch mit meinem ungeschminkten Gesicht nicht die Laune«, meckere ich prompt, wobei meine Aussage ernster gemeint ist als vielleicht angenommen.
Jonah schenkt Nick ein entschuldigendes Lächeln, ehe er seine Arme sanft abschüttelt, indem er mich nun mit seinen beiden umschlingt. »Du siehst perfekt aus, Baby. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sexy ich dich finde.« Seine Lippen streifen die meinen, was unschuldig wirkt, mir aber dennoch ein Prickeln in den Magen zaubert. Daran ist wahrscheinlich auch die Mischung aus Berührung und Worten schuld. Weil ich ihm tatsächlich glaube, was er da sagt und selbst nicht fassen kann, dass ich endlich dazu fähig bin.
Es geht weiter, also schieben wir uns ebenfalls ein paar Meter vorwärts, natürlich ohne uns loszulassen. »Wie sexy ich
dich finde, werde ich dir dann später beweisen«, raune ich Jonah zu. Ich habe nämlich vor, ihn heute zu vernaschen, und zwar nicht zu knapp. Immerhin liegen drei getrennte Nächte hinter uns,
weil er, um den Kurzurlaub abzusichern, mit zwei Kolleginnen getauscht und deren Nachtdienste übernommen hat.
»Warum erst später?«, fragt er amüsiert.
»Weil ich das lieber im intimen Rahmen mache.« Ich möchte es nicht zugeben, aber ganz konnte ich den kleinen Spießer in mir eben noch nicht ablegen.
»Es geht weiter, oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen?« Nick ist die Ungeduld anzuhören, also lösen wir uns widerstrebend voneinander, allerdings nicht, ohne uns vorher zu küssen.
Über eine breite, von bunten Lichtern beleuchtete Treppe geht es hinauf ins Lokal, das bereits mehr als gut gefüllt ist. Die Einrichtung ist eher modern, lässt jedoch auch nicht den Skiortflair vermissen, für den Sölden nun einmal bekannt ist. Heute erstrahlt die Bar zusätzlich in wahrer LGBTQ-Manier. Überall, wo man hinsieht, flattert die Regenbogenflagge und ich bezweifele, dass hier normalerweise genauso viel nackte Haut zu sehen ist wie heute.
Augenblicklich wird mir klar, dass in dieser Gesellschaft eher Jonah und ich auffallen werden, und nicht Nick und Oliver. Das feiernde Volk setzt nämlich allgemein, trotz des Winters, auf diesen Beachlook , den auch die beiden gewählt haben.
Mein Schatz und ich tragen zwar ebenfalls Jeans, die von Jonah hat sogar Schlitze unter seinen Arschbacken – was mich total anmacht, wenn ich ehrlich bin. Nur obenrum fallen wir etwas aus dem Rahmen, denn bei genauer Betrachtung scheinen unsere Shirts aus mehr Stoff zu bestehen, als die Summe aller hier sonst getragenen ausmacht. Auch farblich und vom Stil her sind wir uns nicht ganz einig geworden. Mein Shirt ist langärmlig, grau, und liegt eng an, lässt aber noch Spielraum für Interpretationen. Das von Jonah hingegen ist ärmellos und aus – wie ich jetzt im Licht der Treppe feststellen muss – leicht durchscheinendem Stoff. Somit ist auch das Rätsel um
die neuen Piercings gelöst – man sieht sie nämlich sehr wohl durchschimmern, was mir mal wieder sauer aufstößt.
Dank Nicks weiser Voraussicht – da ist ihm eben der Eventmanager anzumerken – haben wir sogar reservierte Plätze. Allerdings handelt es sich um Stehplätze, die außerdem zu meinem Leidwesen sehr nahe an der Bühne liegen. Diese ist offensichtlich extra für diesen Abend aufgebaut worden, denn sie wirkt etwas sperrig in dem ansonsten stimmigen Ambiente des Lokals. Und auf ihr steht – wie sollte es anders sein – eine aufgedonnerte Dragqueen, die auf mich wie eine Mischung aus Heidi und Marilyn Monroe wirkt.
Kaum haben wir uns an unserem kreisrunden Holztisch versammelt, beginnt die Show, und zwar mit einem schrillen »Welcome Boooooyyyysss«.
Ich zucke zusammen, was Jonah sofort dazu bewegt, seine Arme um mich zu schlingen. Eine Geste, die mich in zweifache Weise beruhigt, weil neben dem guten Gefühl gleich mal für alle fickwütigen Idioten in unserer Nähe klar ist, dass wir zusammengehören. Nicks und Olivers amüsiertes Grinsen versuche ich zu ignorieren – ist ja nichts Neues, dass sie sich über meine Antipathie für ausgeflippte Gay-Partys erheitern.
Die Lady auf der Bühne legt nun richtig los, doch ich kann ihrer Ansprache nicht recht folgen. Insgeheim bin ich nämlich damit beschäftigt, zu eruieren, ob es sich bei ihr um die gleiche Person handelt, die noch vor einer Stunde die Siegesparty von Nicks Rennen moderiert hat. Dort trug sie allerdings ein sexy Schneemannkostüm á la ›Olaf meets Rainbow‹.
»Was guckst du denn so angestrengt?« Jonahs in mein Ohr geraunte Worte lassen eine Gänsehaut auf meinem Nacken erblühen.
Ich lehne mich nach hinten, gegen ihn, und schon ist der Trubel um mich vergessen. Irgendwie fühlt es sich, seit wir hier sind, an, als würden meine Gefühle für ihn im Minutentakt
stärker werden. Ich kann nicht sagen, woran das liegt, vielleicht hat mich doch der Spirit des Wochenendes gepackt, der mir eingeflüstert hat, die Zeit und vor allem diesen unglaublichen Mann einfach zu genießen.
»Warum müssen die immer so künstlich aufgedreht sein, diese Drags?«, brüllflüstere ich zurück, bin jedoch sehr wohl darauf bedacht, dass keiner sonst meine Worte hört. Ich möchte schließlich niemandem auf den Schlips treten.
»Das gehört einfach dazu. Wobei nicht alle so sind. Ich kenne Typen, die sind richtige Mädchen, manche orientieren sich extrem an ihren berühmten Vorbildern, und andere haben sogar mehrere Rollen, in die sie abwechselnd schlüpfen.« Dass Jonah so relaxt auf meine Frage reagiert, freut mich sehr. Zeigt es doch, wie gut er mich mittlerweile einzuschätzen weiß. Denn keine von meinen teilweise ablehnenden Gesten, Gesichtsausdrücken oder Aussagen meine ich wirklich böse, ich bin nur extrem verunsichert, was diese – eigentlich unsere – Community angeht. Und das ist wohl mitunter ein Grund für meine fortschreitende Entspannung. Ich empfinde all das immer mehr als ein uns
, und zwar in Bezug auf die Community und eben auch auf unsere Beziehung. Weil der Gedanke ›Wir gehören dazu‹
einfach besser ist als mein Versuch, allein die Barriere zu beseitigen, die mich bisher, meinem Gefühl nach, von dieser Gemeinschaft getrennt hat. Was mit Nick und Oliver in Richtung Freundschaft begonnen hat, wird mit Jonah perfektioniert. Plötzlich fühlt es sich nicht mehr falsch oder zumindest unpassend an, schwul zu sein. Denn ich will in ihn verliebt sein! Und ich sehe keinen Grund mehr, mich dafür zu schämen oder davor Angst zu haben!
Ich lasse meinen Blick ein bisschen schweifen, während die Moderations-Heidi nun beginnt, durch die Anwesenden zu flanieren und einigen von ihnen Fragen zu stellen. Ich bin tatsächlich erstaunt, wie wenige der Gäste in ein –
meiner bisherigen Meinung nach für solche Partys typisches – Tuntenoutfit gehüllt sind. Eigentlich sind größtenteils Männer hier – richtige Männer
. Zwar – so wie Nick und Oliver – in sexy Klamotten, aber sie strahlen nichts als pure Maskulinität aus. Ein weiterer Punkt ist, dass hier wirklich einige Pärchen zu finden sind. Gut, das bedeutet nicht viel, schließlich weiß ich, dass mein Lover früher gerne mal mit Paaren zugange war.
»Deine Miene wechselt im Sekundentakt.« Jonah lacht, küsst dann aber beruhigend meinen Hals. »Entspann dich doch bitte, Elias. Hab einfach Spaß, und wenn dich etwas stört, dann sag es mir, und wir finden eine Lösung, ja?«
Seufzend drehe ich mich in seiner Umarmung um, lege nun meinerseits meine Arme um ihn. Mein fast scheuer Blick trifft auf den seinen. Verliebtheit und gute Laune sprühen mir aus seinen Augen entgegen. »Ich will es nicht, aber ich bin so eifersüchtig«, gebe ich zu, obwohl ich es gar nicht geplant habe.
»Worauf denn, Baby?« Er streichelt mir eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich bin mit dir hier, weil ich mit dir hier sein möchte. Ich möchte Spaß haben – aber mit dir. Und ich möchte heute Nacht wahnsinnig heißen Sex haben, vielleicht sogar früher – irgendwo in einer dunklen Ecke oder so. Doch auch das will ich nur mit dir erleben.«
»Aber warum plötzlich? Also …« Ich seufze tief, ehe ich es ausspreche. »Normalerweise hättest du dir hier jemanden aufgerissen, vielleicht sogar zwei.«
»Warum bist du eigentlich überzeugt, dass ich ständig Dreier hatte?«
»Hast du doch selbst gesagt.«
»Ich hatte welche, aber nicht ständig. Und für mich war es auch nicht üblich, auf jeder Party jemanden aufzureißen. Ich hatte Beziehungen, Elias. Nur waren sie nicht von Dauer. Man kann auch für ein paar Wochen zusammen sein. Wenn es nicht passt, dann dauert es eben nicht länger.«
Ich kann förmlich spüren, wie sich das Erstaunen in meine Züge frisst.
Nun liegen Jonahs Hände an meinem Gesicht, streicheln mich und ziehen mich schließlich näher, bis wir in einem furchtbar süßen Kuss versinken. Und dabei spreche ich nicht nur vom Geschmack. Wir sind auf kitschige Weise in unseren Herzen vereint. Fast meine ich, das seine pochen zu hören – ebenso schnell wie das meine.
»Nein, wie süüüüßßßß!« Eine übertrieben schrille Stimme, vom Mikrofon auf alle Boxen übertragen, schreckt uns aus unserer kurzzeitigen Zweisamkeit auf.
Ich blinzle erstaunt, sehe zur Seite. Lange dunkellila Wimpern klimpern grotesk schnell über sensationslustigen Augen. »Süßer, sag uns mal. Seid ihr schon lange ein Paar, ihr zwei Schönheiten?«
»Ein paar Wochen«, antworte ich automatisch, was Jonahs Mundwinkel nach oben treibt.
»Und soooo verliebt. Ach, ich bin neidisch.« Der süßliche Unterton lässt mich innerlich stöhnen, doch kurz darauf ist mir das völlig egal.
»Und wie!«, brüllt Jonah nämlich ins Mikrofon, und plötzlich möchte ich auch nur mehr feiern.
Der für den heutigen Abend engagierte DJ setzt auf Après-Ski-Hits, unterlegt mit heißem Tanzrhythmus. Das fährt in die Beine, auch wenn diese Schlager eher nicht so meine Welt sind. Wir tanzen seit etwa einer Stunde durch – und das habe ich definitiv noch nie gemacht.
Obwohl ich grundsätzlich nur Augen für meinen sexy Lover habe, entgeht es mir nicht, wie gut Oliver und Nick sich amüsieren. Ähnlich wie Jonah und ich sind sie fast durchgehend
auf Tuchfühlung, und ich komme irgendwie nicht drüber hinweg, wie unnickisch unser Kuschelchaot heute wirkt.
An diesem Abend scheint seinerseits kein Bedarf an dem Versprühen von Einhornglitzer zu bestehen, dafür erschließt sich mir zum ersten Mal richtig, warum Oliver sich in ihn verliebt hat. Das ist der Nick, von dem er mir erzählt hat, der ansonsten aber eher eine Privatsache zwischen den beiden zu sein scheint. Ein durch und durch männlicher, sehr attraktiver und vor allem sexy Nick, mit dem ich vielleicht sogar geflirtet hätte – in einem anderen Leben, denn jetzt gehöre ich ganz und gar Jonah.
»Lust auf ein bisschen frische Luft?« Der feste Griff meines Geliebten wird lockerer, damit ich mich aus dem Anschmiegmodus lösen und zu ihm aufsehen kann. Wir sind beide verschwitzt, etwas, was mich normalerweise dazu bewogen hätte, seinen Vorschlag abzulehnen. Wahrscheinlich sogar begleitet von einer lächerlichen Aussage wie: Aber nur wenn wir uns vorher warm anziehen.
»Klar«, sage ich stattdessen, lasse mich von ihm an der Hand nehmen und nach draußen ziehen. Zu meiner Überraschung geht es jedoch nicht hinunter, sondern noch höher hinaus; dass die Treppe weiter aufwärtsführt, ist mir bei unserer Ankunft wohl entgangen.
Jonah wirft mir über die Schulter einen amüsierten Blick zu, wahrscheinlich hat er meine Verwunderung bemerkt. »Ein Geheimtipp – lass dich drauf ein, ja?«
Warum klingt er jetzt so tastend und vorsichtig? In meinem Magen ballt sich etwas zusammen, aber es ist keine Angst, eher aufgeregte Vorfreude.
Oben herrscht ähnlich viel Betrieb wie unten im Lokal, nur dass hier definitiv eher auf Paare gesetzt wird. Mit jeder Stufe lässt die Beleuchtung nach beziehungsweise verändert ihre Farbe, wird dunkler und verbreitet trotz der verhältnismäßig vielen Leute eine heimelige Atmosphäre. »Wo gehen wir hin?«,
muss ich ihn einfach fragen, doch seine Antwort bleibt aus, stattdessen zwinkert er mir zu.
Irgendwann sind wir in einem kleinen Saal angekommen, in dem beinahe völlige Dunkelheit herrscht. Mittig ist eine etwa ein Meter sechzig hohe Wand auszumachen, an deren Kanten schwach erhellte LED-Streifen angebracht sind, die sich im Rhythmus der Musik farblich verändern. Der Sound aus den Boxen übertönt nur spärlich die anderen Geräusche, die den Raum erfüllen. Und die deuten darauf hin, dass sich hier diverse Partygäste miteinander vergnügen.
Etwas überfordert halte ich Jonah zurück. »Was ist das?«, wispere ich, wobei es mir schwerfällt, nicht lauter zu werden, weil ich eine gewisse Wut in mir aufsteigen fühle. Er kann doch unmöglich annehmen, ich würde in einem provisorischen Darkroom mit ihm eine Nummer schieben?
Jonah stößt die Luft aus, ehe er mir einen kurzen, sanften Kuss gibt. »Vertrau mir, bitte. Versuchs wenigstens.«
»Ich würde jetzt so gerne einfach ja sagen«, gebe ich zu, grinsend, weil ich nicht anders kann. Entgegen allem, was mein bisheriges Leben geprägt hat, will ich Jonah nämlich folgen. Egal wohin. Und eigentlich auch egal wofür. »Doch ein aber
muss sein.« Weil ich seine Verwirrung regelrecht spüre, küsse ich ihn, und zwar ein wenig inniger, als er es eben getan hat. »Jonah«, raune ich ihm danach zu. »Ich denke nicht, dass ein Quickie in einem Darkroom etwas für mich ist, aber
…«, noch ein Kuss, »… mit dir kann ich mir irgendwie alles vorstellen.«
Da unsere Lippen unmittelbar nach meinen Worten wieder verschmolzen sind, spüre ich sein Lächeln und danach die Bewegung, als er flüsternd erwidert: »Letzteres kann ich nur bestätigen.« Der Druck seiner Hand, die noch immer die meine hält, wird stärker. »Komm«, bittet er erotisch heiser, was mir in prickelnder Form direkt in den gesamten Körper schießt. Es bleibt keine Zeit, einen tieferen Sinn dieses einen Wortes zu
hinterfragen, denn er zieht mich mit sich fort. Aus diesem Raum und eine am Ende eines kurzen, engen Ganges liegende schmale, gusseiserne Spindeltreppe hinauf.
Oben angekommen, stehen wir vor einer dunklen Wand – jedenfalls wirkt es auf mich so. Doch Jonah tastet sich zielstrebig vor, und plötzlich öffnet sich ein niedriges Viereck, durch das der Nachthimmel herein lacht.
»Wieso kennst du dich hier eigentlich so gut aus?« Diese Frage kann ich mir leider nicht verbeißen, und sofort kriecht wieder mal das altbekannte Gefühl der Unsicherheit durch meinen Bauch.
Jonah lacht kurz auf, wenn dieses Geräusch auch wenig mit Humor zu tun hat. Seine Hand umschließt meine noch fester und zieht mich nach draußen.
Die Kälte der Nacht ist das Erste, was mich überfällt, gleich darauf folgt aber ein Gefühl, das man nur mit einem Wort beschreiben kann: Wow!
Der nachtblaue Himmel erstreckt sich wolkenlos über uns, wirkt erstaunlich nah, so als könnten meine Finger ihn berühren, würde ich nur die Hand ausstrecken. Die in vermeintlich wahllosem Muster darauf verteilten Sterne sind differenziert durch ihre Leuchtkraft, jedoch vereint in ihrer Schönheit. Sie schicken ihr Licht auf uns herab, fast als wollten sie sagen: Wir sehen euch genauso, wie ihr uns seht.
»Jonah«, kann ich nur ungläubig wispern. Meine Worte werden vom Hauch meines Atems begleitet.
Er lässt meine Hand los, legt stattdessen beide Hände an meine Hüfte und schiebt mich weiter, bis wir in der Mitte der kleinen Dachterrasse angekommen sind.
»Ich kenne mich hier aus, weil ich schon ein paar Mal hier war«, flüstert er mir zu, die Berührung seiner Lippen knapp unter meinem Ohr lässt mich auf wunderbar angenehme Art erschauern. »Aber nicht nur beim Gay-Snowhappening. Ein
Freund, der mit mir die Krankenpfleger Ausbildung gemacht hat, wohnt hier. Und seinem Vater gehört dieses Haus.«
»Ihm gehört der Bierhimmel?«, erkundige ich mich erstaunt.
»Nein. Das Haus, das Lokal ist vermietet. Aber das Obergeschoss und diese Terrasse sind privat. Die Räume hier oben wurden vom Bierhimmel
nur für diese Woche dazu gemietet.«
»Oh.« Ich drücke mich nach hinten, um ein wenig seiner Körperwärme abzuzapfen. Es ist empfindlich kalt hier oben.
»Du siehst: Nicht alles ist, wie es scheint.«
Zu der kältebedingten Röte, die wahrscheinlich bereits meine Wangen erobert hat, gesellt sich eine schambedingte. Natürlich hat er recht, denn er kennt mich eben schon zu gut. Meine Kopfkinoaussetzer – wie Nick sie gerne nennt – in den Griff zu bekommen, muss in meiner Prioritätenliste unbedingt ganz nach oben wandern! »Es tut mir leid. Ich werde versuchen, das in Zukunft zu lassen.«
»Eigentlich möchte ich nicht, dass du etwas tust, was du nicht willst oder fühlst. Oder eben etwas nicht
tust, nur weil du denkst, ich möchte das so.«
Verwundert wende ich mich ein wenig zu ihm um. Er hat sein Kinn auf meiner Schulter abgestützt und sieht mich fast traurig an. »Du sollst mir wirklich vertrauen, nicht nur so tun, damit ich zufrieden bin.«
Ich fühle mich auf seltsame Weise ertappt, doch da ist auch noch etwas anderes, was in mir aufsteigt. Nämlich die Hoffnung, dass der Weg zu dem, was Jonah sich da wünscht, gar nicht mehr so weit ist. »Ich denke, das lässt sich machen«, antworte ich daher. Leise, gleich einem Schwur, dessen Bruch unvermeidlich wäre, würde ich es zu laut aussprechen.
»Du kannst mir vertrauen, Elias. Das kann ich dir versprechen.« Wieder einmal erdrückt mich die einsame Traurigkeit in seinem Blick. Sie ist so viel schwächer geworden
in den letzten Wochen, noch ist sie aber nicht gänzlich verschwunden. Dabei möchte ich sie vertreiben – ein für alle Mal. Weil er sich bei mir geborgen fühlen soll und ich dennoch instinktiv ahne, warum er das nicht kann.
Ein Gegenspiel unserer innigsten Wünsche schwebt immerfort gleich einer dunklen Wolke über uns, nur dass mir genau in diesem Moment klar wird, dass ich die seinen eigentlich nicht kenne. Zumindest habe ich sie noch nie hinterfragt – nicht bei ihm.
Mein Herz wird schwer, weil es mit der Annahme kämpft, was seine Wünsche für unsere Zukunft bedeuten könnten. Möglicherweise das gefürchtete Ende? Und mir wird klar, wie sehr das schmerzen würde. Nicht die Worte, nicht vielleicht zu hören, dass er keine Familie möchte, sondern das Ende
!
Jonah küsst mich, aber zum ersten Mal, seit wir uns nähergekommen sind, kann ich mich nicht vollends darauf einlassen, weil es in mir gerade brennt. Lichterloh. Wie ein glühender Feuerball hat sich die Erkenntnis in mir ausgebreitet, dass alles egal ist. Alles! Außer der Tatsache, dass ich ihn nicht verlieren möchte.
»Es ist mir egal«, sage ich und muss mich von ihm losmachen, weil ich ganz kurz Raum um mich benötige. Ich brauche Platz, um diesen Wahnsinnsschritt erfassen zu können, den mein Kopf gerade gemacht hat, und um zu begreifen, wie enorm wichtig diese Passage auf meinem Lebensweg ist. »Es ist mir egal, Jonah. Alles ist egal. Alles, bis auf eines.«
Er sieht mich an. Ich kann beinahe spüren, wie gespannt er darauf wartet, dass ich weiterspreche.
»Alles, was ich will, bist du. Und es ist egal, ob wir uns die gleiche Zukunft wünschen. Weil die meine nichts wert ist, wenn ich sie nicht mit dir verbringen kann.«