37. Kapitel
Jonah
Acht Wochen später
»Und, hast du für dein freies Wochenende etwas geplant?« Helga nippt an ihrem Kaffee, während ich mir die müden Augen reibe.
»Besuch bei der Familie. Der erste zusammen.« Ich lasse eine Grimasse folgen, die ihr zeigen soll, wie skeptisch ich deswegen bin.
»Als würde sich deine Mutter über so eine Sahneschnitte als Schwiegersohn beschweren.« Helga sieht in uns das Traumpaar schlechthin, was sie uns und auch den Rest der Welt jederzeit wissen lässt. Gut, es ist nicht so, als würde ich in diesem Punkt widersprechen. Es läuft nicht nur gut zwischen Elias und mir – man könnte es richtiggehend fantastisch nennen.
»Sie hat grad mal verdaut, dass ich schwul bin«, erinnere ich jedoch an den brisanten Teil unserer Geschichte.
Das offizielle Outing vor meinen Eltern liegt nun vier Wochen zurück. Dem Rat von Nick folgend habe ich es einfach ausgesprochen – klar und deutlich – in dem Moment, in dem es mir endlich richtig erschienen ist. Die Reaktion meiner Eltern war, wie erwartet, sehr zurückhaltend. Doch wenigstens haben sie es abgenickt, auch wenn sie weder Fragen dazu gestellt haben noch näher darauf eingegangen sind.
»Aber du hast doch erst letzte Woche gesagt, dass sie es mittlerweile akzeptiert haben. Und dass deine Mama sogar immer wieder nach Elias fragt, wenn ihr telefoniert.«
»Ja. Das stimmt. Trotzdem traue ich der Ruhe noch nicht ganz. Immerhin ist meiner Mutter der katholische Glaube sehr wichtig, und wie dieser Verein zu Typen wie mir steht, ist ja leider allzu bekannt.«
»Ich bin sicher, Elias wickelt sie um den Finger. Wirst schon sehen.« Helga stemmt die Hände auf die Tischplatte und sich selbst hoch. »Und du geh jetzt, ich halt die Stellung, bis die Ablöse da ist.«
»Danke, das wäre wirklich klasse. Ich könnte nämlich wirklich ein paar Stunden Schlaf brauchen. Auch wenn wir zum Glück erst am Nachmittag zum Grillen eingeladen sind, würde ich gerne einen freien Kopf haben.«
»Sei nicht so ein Hosenscheißer – das wird alles, du wirst sehen.« Ihr Grinsen ist frech, dennoch erkenne ich die Sympathie für mich in ihrem Blick. Auch wenn Helga und ich uns schon früher gut verstanden haben – sind wir mittlerweile richtige Freunde geworden.
Ich schlüpfe in meine Jacke. Obwohl der Frühling längst Einzug gehalten hat, sind die Morgenstunden noch kühl, überhaupt, wenn man übermüdet ist. »Meine Mutter meinte sogar: Sollte es spät werden, könnt ihr ja hier schlafen.« Der unsichere und leicht übertrieben hohe Tonfall, in dem ich ihre Worte wiederhole, zeigen wohl deutlich, wie sehr ich mich darüber wundere.
Helga antwortet nicht, kommt nur näher und streichelt meinen Arm. »Ich wünsch euch eine wunderschöne Zeit.«
»Danke. Was hast du Montag für einen Dienst?«
»Spät.«
»Gut. Ich auch. Also kann ich dir dann einen detaillierten Bericht liefern.«
Es ist längst Usus geworden, dass ich mit Elias’ Wagen zum Nachtdienst fahre, was den Vorteil hat, dass ich uns auf dem Heimweg Frühstück besorgen kann. Zu meiner Überraschung ist mein Schatz schon auf, als ich zur Wohnungstür hereinkomme, was mir ein traumhafter Kaffeeduft verrät.
Die laute Musik, die aus der Küche zu mir in den Vorraum dringt, lässt mich ahnen, dass er meine Ankunft noch nicht bemerkt hat. Also lege ich erst mal Schuhe und Jacke ab, ehe ich langsam zur Küche schlendere, um mich dort in den Türrahmen zu lehnen.
Wie sehr ich es liebe, ihn zu beobachten, wenn er es nicht weiß. Gutgelaunt wirbelt er herum, die Textzeilen von Holding out for a hero auf den Lippen – dem Song, der aus den Boxen des Radios schwebt. Wäre das eine erstklassige Fantasie, wäre er natürlich zumindest obenrum nackt, doch auch so strahlt er eine Anziehung auf mich aus, die einfach niemals nachzulassen scheint.
Mittlerweile haben wir unsere Körper bis ins kleinste Detail kennengelernt, dennoch kann ich nicht genug von ihm bekommen. Und damit meine ich nicht nur den Sex, der ohne Frage fantastisch ist. Elias gibt mir mehr – so viel mehr – als ich in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Unser Bekenntnis zueinander scheint alle Barrieren, die uns in unseren alten Mustern eingesperrt hatten, beseitigt zu haben. Ich fühle mich absolut frei bei ihm – mit ihm – und dennoch beschützt.
»I need a hero«, singt er, und ich stoße mich ab und gehe zu ihm hinüber, um ihn in den Arm zu nehmen. Sofort schmiegt er sich rücklings an mich, was mir zeigt, dass er meine Anwesenheit ohnehin bereits bemerkt hat.
Mein zärtliches »Guten Morgen« wird von einem Kuss auf seinen Hals begleitet. Das mag er, und ich liebe es, wie er darauf reagiert. Wie sein Atem kurz stockt und sich eine Gänsehaut auf seine Haut stiehlt.
»Hi«, grüßt er zurück, legt seine Hand an meine Wange und ich verstärke meine Umarmung. »Willst du noch eine Kleinigkeit essen, oder haust du dich gleich hin?«
»Zweiteres. Ich bin ziemlich fertig.«
»Okay. Mach nur. Ich fahr dann einkaufen und kuschle mich später zu dir, ja?«
Natürlich ist Elias’ Schlafzimmer nun unseres und mein ehemaliges Zimmer wurde wieder zum Ankleidezimmer umfunktioniert. Doch das wird nicht ewig so bleiben, denn ich finde Elias’ ursprünglichen Plan für diesen Raum wirklich gut. Ein Rückzugsraum kann niemals schaden, und ganz nebenbei kann man ja ein paar Fitnessgeräte hineinstellen.
»Auf jeden Fall!« Ein weiterer Kuss trifft auf seine Wange, ehe ich ihn loslasse. Meine Hand dreht noch eine kleine Runde auf seinem strammen Arsch, dann reiße ich mich los. Ich muss wirklich schlafen, immerhin steht später einiges auf dem Programm.
Als wir ankommen, stehen meine Eltern vor dem Haus. Das alleine hat schon allein Seltenheitswert, aber dass sie sich zusätzlich auch noch im Arm halten, schnürt mir nun wirklich die Kehle zu.
»Nervös?« Elias’ Hand tätschelt meinen Oberschenkel.
»Ja.« Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. Mit den Eltern über das eigene Schwulsein und den Lebensgefährten zu sprechen ist eine Sache, ein richtiges Treffen eine andere.
Ähnliche Gedanken dürften auch im Kopf meiner Mama herumschwirren, zumindest erscheint mir ihr Lächeln etwas verkrampft. Papa hingegen wirkt eher stoisch, so als hätte er beschlossen, alles einfach hinzunehmen. Dennoch bemüht auch er sich um eine freundliche Miene, wofür ich ihm unendlich dankbar bin.
»Auf in den Kampf«, flüstere ich Elias zu. Innerlich verfluche ich mich dafür, mir nicht noch einen Kuss gestohlen zu haben, ehe wir in Sichtweite gekommen sind.
»Wird schon«, wispert er aufbauend zurück, drückt meine Hand, und dann steigen wir aus.
»Da seid ihr ja!« Die Begrüßung meiner Mutter klingt aufrichtig erfreut und sofort lockert sich das von meiner Nervosität erzeugte Knäuel in meinem Magen. Noch mehr erstaunt es mich, dass sie nicht nur mich, sondern auch meinen Schatz in ihre Arme zieht, und dass mein Papa dabei keine Miene verzieht.
Vielleicht sollte ich mehr auf meine eigenen Ratschläge hören, schließlich habe ich Elias stets gebeten, nicht immer alles schon im Vorhinein zu verurteilen. Eine Lektion, die ich mir nun zu Herzen nehme. Das fällt mir deshalb leichter, da ich sicher bin, dass ein gewisser Kuschelchaot bereits ein wenig Vorarbeit geleistet hat. Immerhin weiß ich, dass Nick und Anna in den letzten Wochen einige Male hier zu Besuch waren.
»Elias. Es freut mich so sehr.« Meine Mutter mustert meinen Lover, sobald sie ihn wieder losgelassen hat. Sogar recht ungeniert, wenn man es genau nimmt, was ihn aber nicht zu stören scheint. Ganz im Gegenteil, er schenkt ihr ein hinreißendes Lächeln. »Mich auch, Frau Schwarz.«
»Sag doch bitte Therese, schließlich gehörst du jetzt praktisch zur Familie.«
Okay – das haut mich nun wirklich um, was mir wohl anzusehen ist, denn mein Vater verdreht die Augen, eher er Elias seine Rechte hinstreckt. »Und ich bin Johannes – und werde auch so genannt. Ich mag meinen Taufnamen nämlich.«
Großartig – Nicks Plappermaul hat alle verfügbaren ›Problemchen‹ unserer Familie aufs Tapet gebracht. Aber das war irgendwie zu erwarten. Wenn er liebt, dann mit ganzem Herzen, und genauso geht er auch bei diversen Hilfsprojekten vor, zu denen meine Eltern und ich nun anscheinend gehören. Nicht dass mich das stört. Aus eigener Erfahrung weiß ich ja, dass Anstöße von außen oft besser wirken.
»Freut mich.« Elias und mein Vater schütteln sich die Hände.
»Wollen wir …«, Mama sieht sich etwas hilflos um, »… nach drinnen gehen?«
»Gerne. Ich freu mich darauf, das Haus zu sehen, in dem Jonah aufgewachsen ist. Also …« Elias’ Wangen röten sich ein wenig. »Ist es okay, wenn ich ihn so nenne? Also hier?«
»Natürlich«, beeilt sich meine Mutter, ihm zu versichern. »So besteht wenigstens keine Gefahr, dass Vater und Sohn verwechselt werden.« Sie schmunzelt, wirkt von ihrem eigenen Scherz überrascht, und wahrscheinlich trifft das sogar zu.
Es muss seltsam für sie sein, plötzlich wieder so viel Sozialkontakte zu pflegen, und irgendwie fühlt sich meine Liebe zu ihr gerade unendlich an, weil ich spüre, dass sie es auch ein bisschen für mich tut. »Was hältst du davon, wenn wir ein Stück spazieren gehen, Mama? Papa könnte Elias den Hof zeigen.« Es ist eine plötzliche Eingebung, der ich folge, und Mamas Reaktion zeigt mir, es war eine gute Entscheidung.
»Das wäre schön«, antwortet sie nämlich schnell und der Glanz in ihren Augen beweist, wie gut ihr diese Idee gefällt.
Ich schicke einen bittenden Blick zu meinem Schatz. Mir ist bewusst, dass es eventuell ein wenig unangenehm für ihn sein könnte, aber mit einem Mal habe ich das dringende Bedürfnis, mit meiner Mama allein zu sein.
Wie immer beweist Elias pures Einfühlungsvermögen, denn er lächelt mich zärtlich an. Ein wortloses ›Mach nur! ‹, das tief aus seinem Herzen kommt.
»Na, dann los«, erwidert mein Vater, und was danach kommt, hätte ich niemals im Leben erwartet, denn er zwinkert Elias zu. »Trinkst du mit mir ein Bier oder ist es zu früh?«
Sein lockerer Tonfall nimmt auch meinem Schatz die letzte Befangenheit und ich fühle, wie meine Mundwinkel schon fast unnatürlich hoch wandern. Doch ich kann es nicht ändern – möchte es eigentlich auch nicht. Wie so vieles zuvor fühlt sich dieser Moment so richtig an, wie ich es mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte.
Mama nimmt meine Hand, kaum, dass wir hinter dem Haus angekommen sind. Das bringt mich ein wenig aus dem Tritt, aber nicht, weil es mir nicht gefällt. Es ist nur so, dass ich mich erst daran gewöhnen muss, wieder von ihr berührt zu werden. So lange musste ich darauf verzichten, wie auf so vieles.
»Woran denkst du? Du siehst plötzlich so traurig aus?«
Ihre Frage lässt mich beinahe ein weiteres Mal stolpern. Ich gestatte es mir, meine Überraschung in meine Züge zu legen. »Soll ich ehrlich sein?«, erkundige ich mich, und das meine ich tatsächlich ernst. Ich will ihr die Möglichkeit bieten, diesem Gespräch zu entkommen. Einer Unterhaltung, die so notwendig ist, und dennoch Zündstoff für eine weitere Familienkrise bietet. Nur, dass wir dem nicht entfliehen können – nicht auf lange Sicht. Nicht, wenn wir uns wirklich wiederfinden möchten.
»Ich weiß, dass wir über vieles nicht gesprochen haben, Junge. Über zu vieles! Und das tut mir leid. So sehr. Aber …« Sie unterbricht sich, blickt kurz zu Boden, nur um anschließend fast schon trotzig meinen Blick einzufangen. »Es muss sein, und das meine ich nicht negativ. Niemand zwingt mich dazu, aber ich spüre, dass wir uns sagen müssen, was in unseren Herzen los ist.« Sie macht wieder eine Pause, bleibt stehen und wendet sich mir zu. Angestrengt schluckend sieht sie mich an, doch als sie dann fortfährt, klingt sie so sanft, wie ich sie sonst nur mit einem Menschen sprechen gehört habe – mit Betty. »Also sage ich dir jetzt: Ich liebe dich, Johannes. So sehr. Und es tut mir so leid, dass ich nicht für dich da war.«
Es ist ein Wirrwarr aus Erleichterung, Überraschung und unendlicher Freude, der mich erfüllt, nachdem ich das gehört habe. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass alles gut ist, dass es vorbei ist. Das trifft im weitesten Sinne zu, und doch bliebe die Tatsache, dass diese Lösung in gewisser Weise einer Flucht entspräche – und geflohen sind wir wirklich genug!
»Ich hab immer gewusst, dass du mich liebst, Mama. Aber ich hätte es auch gerne gehört und gespürt. Dafür schäme ich mich, weil es unfair ist. Du hattest Angst, die Sorge um Lisbeth, warst traurig, und trotzdem wollte ich dich oft anschreien, wenn du mich einfach nicht gesehen hast.«
Als ich geendet habe, luge ich unsicher in ihr etwas blass gewordenes Gesicht. Zu meiner Erleichterung ist aber keine Spur von Enttäuschung oder Zorn in ihren Augen. Eine Spur von Entsetzen spiegelt sich in den grauen Iriden, die denen von Betty so sehr gleichen, auch wenn in Bettys blaue Sprenkel gewesen sind. »Du hast dich geschämt? Aber warum? Du hast nichts falsch gemacht! Gar nichts, Johannes.« Sie lässt meine Hand los, nur um sie gleich darauf mit ihren Händen zu umschließen. Sie sind eiskalt und wirken so viel zarter und kleiner als meine.
»Aber du hattest es so schwer«, kann ich nur hauchen.
»Wir hatten es schwer, mein Junge. Wir alle. Lisbeth trug die Hauptlast, obwohl sie so viel stärker war, als sie es hätte sein müssen. Mein Baby, unser Sonnenschein. Weißt du, wie oft ich mit mir und meinem Glauben gerungen habe, weil Gott ihr so ein schweres Schicksal auferlegt hat?«
»Dafür habe ich dich bewundert. Also, dass du daran festhalten konntest. Am Glauben.«
»Im Moment bin ich wieder dabei, alles zu hinterfragen, was ich mein Leben lang gelernt und geglaubt habe.« Sie nimmt eine ihrer Hände weg und zieht mich einhändig weiter.
Erst jetzt fällt mir auf, dass wir an der Quelle vorbeigegangen sind, von der ich eigentlich dachte, sie wäre unser Ziel. Nur scheint mir nicht der richtige Augenblick, das zu hinterfragen, viel zu sehr möchte ich wissen, was sie mit ihrer letzten Aussage meint, und wirklich spricht sie gleich weiter. Vielleicht hat meine Miene mich verraten?
»Mir ist klar, du weißt so viel besser als ich, was in der Heiligen Schrift über Homosexualität steht, oder wie unsere Glaubensmänner es interpretieren.«
Mein Magen macht einen kleinen Hüpfer, denn obwohl ich längst erwartet habe, dass sie darauf zu sprechen kommt, überrascht mich die Traurigkeit auf ihren Gesichtszügen. Es wirkt nämlich, als wäre sie mit mir betrübt, nicht wegen mir.
»Erst nachdem du mir von dir und Elias erzählt hast, wurde mir bewusst, was unsere lieben Nachbarn und auch unser Pfarrer Peters mir immer wieder zu erzählen versucht haben. Es war dein Geheimnis, doch ich denke, du hast gehofft, ich würde durch diese Rederei bemerken, was los ist. Nur, dass ich es nicht getan habe.« Ihr Blick geht zu Boden, dennoch bewegen wir uns weiter, langsamen Schrittes. Wir durchqueren jetzt den kleinen Wald, der die Südspitze unseres Hausbergs säumt.
»Ich hätte auch direkt mit dir sprechen können, aber …« Ich versuche, die richtige Formulierung zu finden. »Ich denke, es war eine Mischung aus dem Wunsch, dich nicht noch mehr zu belasten, und Feigheit, die mich davon abgehalten hat.«
Nun lacht sie, ein kurzes, aber warmes Lachen. »Wenn ein Wort nicht auf dich zutrifft, mein lieber Junge, dann ist es Feigheit. Du warst so mutig und so stark, trotzdem hättest du Unterstützung gebraucht! Und das hätte ich sehen müssen. Ich und dein Papa meine ich. Aber zuerst war ich zu sehr in meiner Angst gefangen und später in meiner Trauer. Und dein Vater … nun ja … er wusste nicht, wie er uns helfen kann, und aus dieser Unsicherheit heraus hat er sich zurückgezogen. Aber das heißt nicht, dass er uns nicht liebt, das ist mir jetzt bewusst geworden.« Ihr tiefes Seufzen klingt erleichtert. »Wie auch immer – wir können es ohnehin nicht mehr ändern … also, was wir getan oder nicht getan haben. Konzentrieren wir uns lieber auf das Jetzt und Hier.« Nun schickt sie mir ein Lächeln, das ich nur zu gerne erwidere.
Ein paar Schritte noch, dann haben wir die Anhöhe überwunden, der weitere Weg führt bergab. Mamas Griff an meiner Hand wird fester, und plötzlich weiß ich auch, warum, denn mir wird klar, wohin sie mich lenkt. Sofort steigen mir Tränen in die Augen, obwohl ich mich gleichzeitig darüber freue.
»Ich habe Pfarrer Stanislov besucht … mehrere Male in den letzten Wochen, weil Anna mir erzählt hat, er wäre viel offener als unser Pfarrer, was dieses Thema angeht. Er hält es nicht für richtig, Homosexuellen das heilige Sakrament der Ehe zugänglich zu machen. Aber er hat auch gesagt, er kann niemanden dafür verurteilen, dass er liebt , selbst wenn die Liebe einem vermeintlich Falschen entgegengebracht wird.«
Pfarrer Stanislov ist der Gottesmann der Gemeinde, in der Nick, Oliver und eben auch Anna leben. Ich war früher manchmal mit meiner Oma in dieser Kirche, doch da hatte Pfarrer Lautner noch das Glaubens-Zepter in der Hand, und dieses war ein erzkonservatives! Der neue Priester soll laut Nick kein Problem mit ihm und Oliver haben, dennoch überrascht mich diese doch sehr klare Aussage, was mir wohl auch anzusehen ist.
»Nick und Anna haben mir ebenfalls vieles erzählt und erklärt. Und nachdem ich all das abgewogen habe, kann ich nur sagen: Wer mir erklärt, du kommst in die Hölle, nur weil du so bist, wie du nun einmal bist, der soll doch selbst zum Teufel gehen.«
Nun entkommt mir ein kurzes Lachen. In mir herrscht ein, gefühlt alle paar Sekunden wechselndes Gefühlschaos. So viel prasselt auf mich ein. Unser Gespräch ist wirr, doch das waren auch die Ereignisse, die uns hierhergebracht haben. Meine Mutter ist wohl ähnlich überwältigt und aufgeregt, wie ich es vor dem heutigen Tag gewesen bin, daher lasse ich sie sprechen, egal wie durcheinander oder sprunghaft ihre Gedanken sind.
»Ich will einen Himmel, wo meine beiden Kinder irgendwann mit mir gemeinsam die Ewigkeit feiern können. Und ich weigere mich, daran zu glauben, dass es diesen Ort nicht gibt.«
Nun muss ich sie doch zum Stehenbleiben zwingen. Sanft, aber mit Nachdruck. Sie lässt es geschehen, sieht zu mir hoch – die Augen tränennass und gleichzeitig so voller Trotz, dass sich meine Mundwinkel automatisch heben.
»Wir machen uns einfach unseren eigenen Himmel«, erkläre ich ihr leise. Die Überzeugung, die ich in meine Worte lege, glättet ihre in Falten gezogene Stirn.
»Und Lisbeth wird dort auf uns warten.«
»Auf jeden Fall.«
»Ich hab dich lieb, Junge.«
»Ich dich auch, Mama.«
Wir umarmen uns, stehen einfach da und halten uns fest, doch irgendwann macht sie sich sanft von mir los. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagt sie, lächelt dabei schüchtern, aber ihre Augen strahlen vor Freude.
»Klar«, stimme ich nur zu gerne zu, vor allem, weil in mir schon so eine Ahnung schlummert, was gleich kommen wird.
Hand in Hand gehen wir wieder weiter, werden immer schneller. Ein paar Mal stolpern wir, geben uns jedoch gegenseitig Halt.
Am Rand der weitläufigen, auf einem flachen Hang gelegenen Wiese, bleiben wir stehen. Noch dominiert das Weiß der Margeriten, doch zarte rote Farbtupfen zeigen, dass die Mohnblumen dabei sind, sich durchzusetzen. In wenigen Wochen wird hier alles im rötlichen Schimmer getaucht sein – so war es noch jedes Jahr!
Wir müssen nicht sprechen und unsere Hände bleiben verbunden, während wir langsam die ersten Schritte durch das hochgewachsene Gras machen. Fünf Mohnblumen pflücken wir. Eine für jeden von uns – Lisbeth natürlich mit eingeschlossen. Mama trägt die Blumen wie einen Schatz in ein Tuch eingeschlagen, das sie aus der Tasche ihres Kleides geholt hat. Also hat sie tatsächlich die ganze Zeit vorgehabt, hier hochzugehen. Ein Gedanke, der mich mit unbeschreiblicher Wärme erfüllt.
Auf dem Rückweg schweigen wir größtenteils, doch kurz bevor wir unsere Grundstücksgrenzen erreichen, hält Mama mich plötzlich zurück. Ihre Stirn ist gerunzelt. »Ich weiß, ich hab fünf Blumen mitgenommen, aber irgendwie möchte ich nun doch …«
Ich spüre deutlich, dass sie mit sich ringt, daher umschließe ich ihre rechte Hand mit meinen Händen, weil ich ahne, was in ihrem Kopf herumspukt. »Du möchtest heute lieber alleine Abschied von Lisbeth nehmen. Ohne Papa und Elias. Das ist es doch, was du mir sagen willst, oder?«
»Ja. «
»Was hältst du davon, wenn wir das hier zu Lisbeths Geburtstag im August wiederholen – mit Papa und Elias. Aber heute …«, ich ziehe ihre Hand an meinen Mund und drücke einen Kuss auf ihren Handrücken, »… verabschieden wir zwei uns von ihr. Allein.«
»Würde dir das etwas ausmachen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Danke.« Ihr Lächeln ist befreit und strahlend. »Ich möchte noch einmal mit euch beiden allein sein«, wispert sie. Für andere mag das wohl verrückt klingen, doch ich weiß genau, was sie meint.
Mit Tränen in den Augen, aber lächelnd gehen wir weiter, zielstrebig auf die kleine Quelle zu. Während wir sie ansteuern, kann ich Papa und Elias auf unserem Grillplatz östlich des Hauses erkennen. Sie sind in Sichtweite, blicken fragend in unsere Richtung, aber keiner der beiden macht Anstalten, zu uns zu kommen. Möglicherweise ahnen sie, dass wir für uns sein möchten – eigentlich bin ich mir sogar sicher, dass es so ist.
Da es die letzten Tage reichlich geregnet hat, sprudelt das klare Wasser nur so zwischen den dunklen Steinen hervor. Es ist ein friedliches Geräusch – ein beruhigender Gesang – was mir ein Gefühl des Friedens vermittelt. Ich bin überzeugt, Mama fühlt ähnlich. Die Wärme, die uns die Sonne auf die Haut haucht, perfektioniert dieses Empfinden noch, obwohl eine Gänsehaut über meine Arme kriecht. Dabei es ist keine Angst, die das auslöst, und auch keine andere negative Empfindung Ich stelle mir vor, es ist Bettys Anwesenheit, auf die meine Nerven reagieren – überrascht, intensiv, erfreut, ihr noch einmal nahe sein zu können.
»Spürst du sie?« Die gehauchte Frage meiner Mama bestätigt endgültig, dass ich den Moment nicht allein durchlebe. Ihre zitternden Finger schlagen das Tuch auf, sodass die roten Blüten zum Vorschein kommen. Sie sind perfekt, ähneln dem Bild auf meiner Brust auf fast schon gespenstische Weise.
Wenn ich im Himmel bin, dann pflück sie für mich ‹, höre ich die geisterhafte Stimme meiner kleinen Schwester, doch erst als ich Mamas erstauntem Blick begegne, wird mir klar, dass ich laut mitgesprochen habe.
Ihr Lächeln bleibt, aber die erste Träne perlt aus ihrem Augenwinkel und läuft langsam über ihre leicht gerötete Wange.
Ich nehme zwei der Mohnblumen aus dem Tuch, schlage den weißen Stoff wieder über den restlichen zusammen und lege das Päckchen vorsichtig zur Seite.
Mama lässt mich machen, nur ihre Augen folgen jeder meiner Bewegungen. Tränen laufen nun über ihre Wangen, trotzdem weicht ihr Lächeln nicht. Behutsam nimmt sie eine der beiden Blüten aus meiner Hand, fesselt danach meinen Blick.
Synchron wenden wir uns der Quelle zu, beugen uns hinab und übergeben die Blumen dem Wasserspiegel. Er heißt sie mit einer kurzen Drehung willkommen, doch sofort danach schwimmen sie ruhig. Das ist etwas unheimlich, da im Hintergrund mit leisem Geplätscher das Quellwasser hervorsprudelt.
Unsere Hände finden sich, während wir die Mohnblumen nicht aus den Augen lassen.
Ich lass sie dann für dich tanzen, Jonah‹, erzählt mir Betty in meinen Gedanken und für eine Sekunde bekomme ich Angst, dass es nicht funktionieren könnte, weil ich eben nicht allein hier bin. Unsere Verbundenheit war etwas Besonderes, dennoch bin ich mir sicher, wie sehr sie sich freuen würde, Mama und mich hier vereint zu sehen.
Zuerst meine ich, es ist eine Sinnestäuschung, doch dann wird die Bewegung deutlich. Die Blüten drehen sich, gegengleich, und ohne sich voneinander zu entfernen.
Nun sind auch meine Wangen nass und unsere ineinander verschlungenen Hände zittern. Die Gänsehaut auf meinen Armen breitet sich weiter aus, ein kühles Prickeln mischt sich als wunderbarer Gegenpart zu dem warmen Gefühl, das die Sonnenstrahlen auf meine Haut zaubern.
»Wir sind hier, mein Engel, und du bist bei uns. In unseren Gedanken und in unseren Herzen«, flüstert Mama feierlich.
»Ich vermiss dich«, hauche ich.
Das Quellwasser singt uns Lisbeths Antwort. Wir hören sie beide, dessen bin ich mir sicher. Für mich ist es ein: ›Das hast du großartig gemacht, Jonah ‹, und ich lache leise, obwohl meine Tränen nun in Strömen fließen. Bin glücklich und befreit, als hätte der Tanz der Mohnblumen die Schwere der Trauer verschwinden lassen.
»Sag Oma, ich vermisse sie auch«, erzähle ich Betty, die in meinen Gedanken am Rand der Quelle sitzt, zu uns hoch lächelt und mit ihren kleinen Fingern immer wieder die Blüten im Wasser anstupst.
Danach tritt Schweigen ein. Mama und ich halten uns erst an der Hand, doch irgendwann lege ich einfach einen Arm um ihre Schultern und ziehe sie an mich. Wir sind uns nah, so viel näher, als wir es die letzten Jahre gewesen sind.