Kapitel 20
Ihr Körper ist genauso kalt und nass wie meiner, trotzdem hilft ihre Wärme ein wenig, vielleicht ist es auch bloß der Schutz vor dem Wind.
Wie kann sie selbst nach dem Wandern, dem Sturz in den Fluss und noch mehr Wandern so gut riechen?
Das ist vermutlich ein weiteres prinzessliches Privileg.
Es regnet zwar wenigstens nicht, aber wir sind immer noch durchgefroren und nass und hilflos. Die Hügel und Felsen, die heute Morgen so hübsch aussahen, wirken jetzt, bei Einbruch der Nacht, bedrohlicher und fremder. Ich hoffe bloß, dass der Hirsch unsere einzige Erfahrung mit wilden Tieren hier draußen bleiben wird. Es gibt auch keine Wölfe mehr in Schottland, oder?
»Es tut mir leid, dass ich dich da reingezogen habe, Quint«, sagt Flora schließlich. Ich sehe sie mit großen Augen an.
»Du entschuldigst dich tatsächlich?«, frage ich und sie seufzt, ihr Körper presst sich immer noch fest an meinen.
»Ich dachte, du verdienst eine Art Erklärung. Es ist nicht gegen dich persönlich.«
»Hilft mir auch nicht weiter, wenn ich mir gerade den Arsch in der Botanik abfriere«, brumme ich. Flora verlagert das Gewicht. Als ich sie ansehe, blickt sie starr geradeaus.
Schließlich sagt sie: »Es ist kein ›Theater‹, wie du es vorhin bezeichnet hast. Nicht ganz.«
Obwohl mir die Haltung Nackenschmerzen verursacht, sehe ich sie weiter an. Als sie sich zu mir dreht, ist ihr Gesicht so nah, dass ich die blassen Sommersprossen auf ihrer Nase erkenne.
»Es war einfach von frühester Kindheit an sehr klar, dass ich nicht die Prinzessin sein würde, die die Leute gerne haben möchten. Du weißt schon, die … liebe. Mit den Verbeugungen und den Blauen Vögeln und dem ganzen Zeug. Ich bin immer zu leicht wütend geworden und habe mich schnell gelangweilt. Und irgendwann habe ich beschlossen, wenn ich schon nicht diese Art Prinzessin sein kann, werde ich eben jemand ganz anderes.«
Sie sagt das, als wäre es eine völlig normale Schlussfolgerung. Als wären den meisten Menschen die Muster bewusst, denen sie entsprechen sollen, und sie würden sich, wenn sie diese nicht erfüllen können, eben für ein anderes entscheiden.
»Das ist … verrückt«, erkläre ich ihr. Sie neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich, ihre feuchten Haare schwingen hin und her. Schon schiebt sich ihre Unterlippe vor, zwischen ihren Augenbrauen bildet sich ein tiefes V.
»Man braucht nicht irgendeinen Typ darzustellen«, fahre ich fort. Es wird immer kälter, der Wind pfeift mittlerweile richtig, wir sehen gerade wie die Heldinnen eines Brontë-Romans im Hochmoor oder so aus. »Du kannst einfach du selbst sein.«
Flora sieht mich weiter an und scheint auf etwas warten. Ich streiche mir die Haare aus den Augen. »Was ist?«
»Ach, ich habe nur auf die passende Musicaleinlage zu diesem Kommentar gewartet«, sagt sie.
Ich rücke noch ein Stück ab und sehe zum Himmel.
»Super, benimm dich wie ein Arschloch. Wieder mal, nur zu.«
Zu meiner Überraschung lacht Flora darüber, sie stützt sich auf die Hände und beobachtet mich. »Gott, du glaubst das alles wirklich, oder?«, fragt sie. »Von wegen ›Sei einfach du selbst‹. Wie außergewöhnlich.«
»Da du mit ›außergewöhnlich‹ vermutlich ›bescheuert‹ meinst, werde ich dich jetzt einfach ignorieren und versuchen, ein wenig zu schlafen.«
Es ist utopisch bei den Steinen und dem Moor um uns, und meiner Körpertemperatur, die weit unter normal ist, aber wenn ich schlafe, kann ich eine Weile verschwinden und so tun, als würde ich nicht in diesem Albtraum leben, in dem ich am Ende der Welt gestrandet bin, weil eine hochnäsige Prinzessin mit einem ausgeklügelten Plan den Aufstand gegen ihre Eltern probt (die, Hilfe, eine Königin und ein Prinz sind).
Als ich dort auf dem verflixten felsigen Boden liege, die Weste um mich gewickelt, merke ich, wie der Ärger von Neuem in mir hochkocht. Ich weiß nicht viel über Floras Eltern, aber sie hat noch beide Elternteile, oder? Beide am Leben, beide reich, beide sorgen dafür, dass sie das Beste von allem bekommt, und zwar egal, was sie verbockt. Sie will nicht mal hier in Gregorstoun sein, wohingegen ich Monate damit verbracht habe, darüber zu lesen und mich zu informieren und mich dann für jedes nur existierende Stipendium zu bewerben. Ich denke an die Nächte, die ich vor meinem Computer verbracht und einen Bewerbungsessay nach dem anderen geschrieben habe, und mit einem Mal ist das Thema Schlaf unwichtig.
»Du bist echt das Letzte, weißt du das?«, ich setze mich kerzengerade auf und ziehe meine Jacke um mich.
Flora sitzt auf dem Rand ihrer Jacke, die Arme um die Knie geschlungen, doch nun sieht sie mich an. »Wie bitte?«
Argh, das macht mich bloß noch wütender, dieses Wiiie bitte?.
»Du. Bist. Das. Letzte«, wiederhole ich betont deutlich und zeige auf sie. »Was ist so schlimm an deinem Leben? Oh, buh-huh, du verpasst eine Modenschau. Oh nein, deine Eltern möchten dir eine gute und interessante Ausbildung bieten. Was für ein Pech, du hast noch beide, und sie sind beide um dich besorgt.«
Flora dreht sich noch weiter zu mir um, ihr Gesichtsausdruck ist seltsam.
»Du … hast nicht mehr beide Eltern?«
Hmm, das ist nicht gerade die Unterhaltung, die ich heute Nacht führen wollte.
»Nein«, erwidere ich.
Es ist still, die einzigen Geräusche kommen von dem Wind, der wieder diese Brontë-Sturmhöhe-Nummer abzieht, und dann fragt Flora. »Welchen?«
Ich weiß nicht, ob sie fragt, welchen Elternteil ich habe oder welchen ich verloren habe. Ist mir auch egal. Ich antworte bloß: »Meine Mutter starb, als ich noch klein war.«
Wieder Schweigen.
Dann. »Wie klein?«
Ich lege mich seufzend auf den Rücken und zucke zusammen, als sich ein Stein in mein Rückgrat bohrt. »Zwei.«
Danach klingt Floras Stimme verändert. »Das ist wirklich noch klein.«
»Ja.«
Mehr erzähle ich ihr nicht. Wie beschissen es ist, dass ich mich nicht mal an meine Mutter erinnern kann. Dass ich meinen Vater mehr liebe, als Worte beschreiben können, dass Anna eine tolle Stiefmutter ist, aber dass sie erst in unser Leben kam, als ich schon ein Teenager war. Dass ich denke, dass das Leben für meinen Vater einfacher gewesen wäre, wenn er nicht so lange alles gleichzeitig für mich hätte sein müssen. Über diese Dinge habe ich nicht einmal mit meinen Freunden reden können und Flora ist definitiv keine Freundin. Sie ist vielleicht nicht die absolute Feindin, aber trotzdem, solche Dinge wird sie nicht von mir erfahren. Private Dinge, wichtige Dinge.
»Es tut mir leid«, sagt sie schließlich, und als ich zu ihr hinüberblicke, hat sie sich ebenfalls ausgestreckt und schaut mich an. Und sie sieht tatsächlich mitfühlend aus. Zumindest denke ich das. Sie sieht jedenfalls anders aus und vielleicht reicht das schon bei Flora.
»Danke.« Ich rutsche verlegen hin und her, um sie anzusehen. »Ich erinnere mich nicht mehr an sie.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Es ist eine völlig unerwartete Frage, und eine Sekunde lang weiß ich nicht, was ich ihr darauf antworten soll. Seit ich alt genug war, um zu begreifen, was es bedeutet, keine Mutter zu haben, habe ich mir die Frage selbst tausendmal gestellt.
»Ich weiß es nicht«, erkläre ich ihr schließlich. »Es ist … als versuche man, etwas zu vermissen, das man nie hatte. Als ob du noch nie Eis gegessen hättest und auch niemals essen könntest, und jeder fragt dich: ›Vermisst du es nicht, Eis zu essen?‹ Bloß. Weißt du. Größer.«
»Weil das Eis deine Mutter ist«, sagt sie mit solchem Ernst, dass ich lachen muss.
»Sozusagen.«
Flora lächelt ebenfalls, aber ein ganz anderes Lächeln. Normalerweise zieht sie dabei langsam die Lippen hoch – wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel gefressen hat. Es sieht immer aus, als habe sie es aus Soap Operas oder so gelernt. Dieses Lächeln hier ist jedoch echt und überraschend albern. Es lässt ihr ganzes Gesicht leuchten. Warum tut sie das nicht öfter?
Es steht ihr gut.
Sie stützt den Kopf auf die Hand. »Im Pub, vor dem ganzen Stress, hast du gesagt, dass du Jungen und Mädchen magst.«
Oh wow, heute Nacht scheinen wir wohl mein komplettes Privatleben auszupacken. Juhu.
Ich räuspere mich, drehe mich auf den Rücken und betrachte den Himmel. Noch ist es nicht ganz dunkel, aber lange wird es nicht mehr dauern. Wenn der letzte Rest Helligkeit am Horizont verschwunden ist, wird es dunkler sein, als ich mir überhaupt vorstellen kann.
»Jep«, antworte ich schließlich. »Chancengleichheit beim Daten.«
»Bisexuell«, erwidert sie. Ich lache zwar, aber ich werde rot.
»Auf den Punkt gebracht ja, bi. Noch irgendwas, das du über mich wissen willst? Sozialversicherungsnummer? Peinliche Narben?«
Sie sieht mich unverwandt an. »Ich dachte mir, wenn wir schon hier draußen festsitzen, können wir doch auch versuchen, uns kennenzulernen. Ich mag übrigens auch Mädchen und Jungs. Na ja, Jungs eigentlich nicht. Also« – sie atmet lange aus –, »ich habe es versucht, aber es hat nicht funktioniert.«
Okay, jetzt wird es interessant.
Ich drehe mich wieder zu ihr. »Hat nicht funktioniert?«, wiederhole ich.
Flora fährt mit einem Fingernagel ein Muster auf ihrer Jacke nach. »Sie sind einfach sehr viel … Junge, verstehst du?«
Irgendwie schon, ich nicke.
»Ist das öffentlich bekannt?«, frage ich sie. Da es mir ziemlich persönlich vorkommt, füge ich noch hinzu: »Mein Vater und meine Stiefmutter wissen Bescheid. Die meisten meiner Freunde auch. Erst dachte ich, es würde komisch oder schwierig sein, mit ihnen darüber zu reden, aber alle haben es überraschend cool aufgenommen.«
»Meine Familie ist nicht ganz so cool«, sagt Flora. »Meine Brüder wissen es und sie haben kein Problem damit. Papa zieht es vor zu ignorieren, dass seine Kinder überhaupt eine Sexualität haben, und Mummy tut, als wäre es bloß eine Phase und ich würde schon irgendwann meinen Familienverpflichtungen nachkommen. Und irgendeinen vertrottelten Duke mit dreihundert Morgen Land heiraten.«
Sie dreht sich auf den Rücken, ein Arm liegt ausgestreckt neben ihr, der andere ruht auf ihrer Brust. »Und drei oder vier königliche Kinder kriegen. Und ihnen fiese Namen geben.«
»Venetia?«, schlage ich vor. »Florisius?«
Lachend wiederholt Flora »Florisius« und sieht mich an.
»Warum erzählst du mir das?«, frage ich, sie starrt in den Himmel.
»Du hast mir etwas Persönliches erzählt, obwohl ich nicht besonders nett zu dir war«, sagt sie. »Es war einfach eine Frage der Fairness, dir auch was ähnlich Persönliches zu erzählen.«
Eine Frage der Fairness. Das klingt sehr … nach Flora.
»Ich weiß es zu schätzen«. Zu meiner Überraschung füge ich hinzu: »Doch, wirklich.«
Sie legt den Kopf schief, als ich das sage. Dann deute ich mit dem Finger auf sie: »Aber persönliche Geheimnisse zu teilen macht diesen Schwachsinn hier nicht wieder gut.«
»Stimmt, Quint.« Ich rutsche wieder näher. Ob ich schlafen kann?
Plötzlich setzt sich Flora auf und deutet mit dem Finger in den Wald. »Sind das Taschenlampen oder Gespenster?«
Ich schnelle hoch und entdecke nicht weit von uns zwei hüpfende Lichtkreise, kurz darauf höre ich das lieblichste Geräusch, das ich mir vorstellen kann – Sakshis Stimme, die gerade erklärt: »Ich habe es dir ja gesagt, dass wir unser Zelt früher hätten aufschlagen sollen.«
Ich sehe Flora an und grinse. »Da naht Rettung.«