Kapitel 8
Laut des Programms, den ich per E-Mail bekommen habe, gibt es um vier Uhr »Tee«. Da es bereits drei ist, ziehe ich meine neue Uniform an, die tatsächlich in einer Plastikhülle im Schrank auf mich gewartet hat. Sie besteht aus einem knielangen Schottenrock, einem kurzärmligen weißen Shirt, zwei unterschiedlichen Pullis, einer langärmlig, der andere ein Pullunder, auf den vorn das Gregorstoun-Wappen gestickt ist. Ich wähle letzteren. Die dunklen Strumpfhosen spare ich mir, weil es warm ist. Stattdessen ziehe ich Kniestrümpfe an und schlüpfe in schlichte schwarze Ballerinas.
An der Rückseite der Tür ist ein Spiegel angebracht, und ich nehme mir einen Moment Zeit, um mich als die neue Millie darin zu betrachten. Ein Gregorstoun-Mädchen.
Dieselben mausbraunen Haare, die lockig über meine Schulter fallen, dieselben braunen Augen. Dieselben Grübchen, stelle ich fest, als ich mich zu einem Lächeln zwinge.
Dieselbe Millie, aber an einem anderen Ort.
Seufzend öffne ich die Tür und trete auf den Flur, wo ich sofort jemanden rufen höre.
»Ich sag’s dir, Perry, sie ist auf diesem Stockwerk!«
Die Stimme um die Ecke kommt eindeutig von einer Disney-Prinzessin – süß, melodisch, dazu dieser perfekt geschliffene englische Akzent. Das Mädchen, das ich gleich sehen werde, sieht bestimmt wie eine Kreuzung aus Dornröschen und Aschenputtel aus. Vielleicht hat sie sogar ein paar Waldbewohner im Schlepptau.
Doch das Mädchen, das unvermittelt auftaucht, ist zwar tatsächlich schön, aber auch … eine Riesin.
Okay, das ist nicht ganz fair, aber sie ist locker über einsachtzig. Bei einem Blick nach unten stelle ich allerdings fest, dass sie hochhackige Stiefel trägt. Und auch wenn sie keine Ähnlichkeit mit Aschenputtel oder Dornröschen hat, sieht sie mit den langen dunklen Haaren und der glatten braunen Haut trotzdem umwerfend aus.
Um ihre bezaubernden braunen Augen bilden sich kleine Fältchen, wenn sie lächelt. »Oh, hallo!«, sagt sie fröhlich. »Ich habe dich gar nicht gesehen!«
Was daran liegen mag, dass ich ein Eichhörnchen und sie eine Giraffe ist. Ich winke verlegen ab. »Ich bin leicht zu übersehen.«
»Oh, du bist Amerikanerin!«, flötet sie und deutet ungeduldig hinter sich. »SCHAU MAL, PERRY, ICH HAB EINE AMERIKANERIN GETROFFEN!«, ruft sie so laut, dass ich zusammenzucke.
Keine Waldgeschöpfe im Schlepptau, der Junge, der ihr folgt, hat eher etwas von einem … Kaninchen.
Das ist vermutlich nicht nett, aber da ist dieser leichte Überbiss, außerdem wirkt er nervös und schreckhaft, besonders neben diesem Mädchen.
»Ich bin Sakshi.« Sie streckt mir die Hand entgegen. Ich nehme sie und bin froh, dass wenigstens eine Person hier normal zu sein scheint.
»Millie.«
Als Sakshi grinst, blitzt ein schiefer Zahn hervor, endlich etwas leicht Unvollkommenes an diesem perfekten Mädchen. Ich hatte mich schon gefragt, ob man ein Supermodel sein muss, um hier aufgenommen zu werden, und ob ich so was wie ein Fall von Barmherzigkeit bin. »Millie«, wiederholt sie. »Niedlich. Gefällt mir.«
Ich habe meinen Namen noch nie zuvor als »niedlich« betrachtet, aber da Sakshi nicht den Eindruck macht, als wolle sie mich damit aufziehen, lasse ich es einfach auf sich beruhen. »Eigentlich Amelia, aber so nennt mich niemand.«
Sie deutet mit dem Daumen auf den Typen hinter sich. »Und das ist Perry, der eigentlich ein Peregrine ist.«
»Hör bitte auf, das irgendjemandem zu erzählen.« Er beugt sich vor, um mir ebenfalls die Hand zu schütteln. Er ist locker fünfzehn Zentimeter kleiner als Sakshi, seine Haare sind leuchtend orangerot und seine milchweiße Haut ist, soweit ich sehen kann, übersät von Sommersprossen.
»Du bist also Amerikanerin«, sagt er und kommt noch ein wenig näher. Er trägt ebenfalls den Gregorstoun-Pullunder, an ihm sieht er allerdings ein wenig zu groß aus.
»Jaa«, antworte ich und verlagere das Gewicht auf den anderen Fuß. »Aus Texas.«
Das sagt ihnen womöglich überhaupt nichts, doch als Sakshi meint, »Perry und ich sind beide aus Northampton«, wird mir bewusst, dass mir ihre Heimatstadt auch nichts sagt. Das ist ein schräger Kulturschock, auf den ich nicht gefasst war.
Doch ich nicke den beiden zu und lächle, vermutlich wird Tu einfach so als ob mein neues Motto hier werden.
»Gut, dann komm.« Als Sakshi mich zur Treppe zieht, schiebt sie ihren Arm durch meinen. »Du bist doch vermutlich auch auf dem Weg zum Mädchen-Tee.«
Ich nicke und folge Perry und ihr.
»Früher war es der Anfänger-Tee«, erklärt er, als wir die Treppe hinuntergehen. Mir fallen ein paar Porträts von streng blickenden Männern in Schottenkaro auf, außerdem einige gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien von Jungen, die in ihren Uniformen vor der Schule stehen.
»Aber jetzt veranstalten sie speziell einen nur für die Mädchen«, sagt er. Sakshi seufzt und winkt mit der freien Hand ab.
»Ja, ja, Perry, mein Gott, ich bin sicher, dass Millie schon verstanden hat, was ich mit Mädchen-Tee meinte. Sie ist Amerikanerin, nicht blöd.«
»Soll ich das als Kompliment betrachten?«, sage ich am Ende der Treppe.
Es sind noch andere Mädchen unterwegs, ein paar davon so alt wie ich, viele scheinen allerdings jünger zu sein. Als Sakshi sie mustert, wandern ihre Mundwinkel nach unten.
»Die Armen«, sagt sie. »Es gibt nicht allzu viele von uns unerschrockenen Ladys dieses Jahr, und ich denke mal, für die Jüngeren wird es noch härter sein. Ich habe sogar eine von ihnen als Zimmergenossin. Irgendein kleines pferdeähnliches Pferdemädchen.«
»Pferdemädchen?«, frage ich, aber Sakshi winkt ab.
»Von denen gibt es immer eine Handvoll. Diese Mädchen, bei denen sich alles um Pferde dreht. Aber da wir zu wenige sind, um immer zwei aus derselben Altersgruppe zusammenzulegen, müssen ein paar von uns sich die Zimmer mit einer von den Kleinen teilen, meine Wenigkeit eingeschlossen.«
Sie holt tief Luft und verschränkt die Arme. »Wie ich schon sagte, die armen Schätzchen. Ich muss bloß ein Jahr überleben. Sie haben eine Ewigkeit vor sich.«
Okay, als »Überleben« betrachte ich mein funkelnagelneues, aufregendes Leben hier nicht.
»So schlimm wird es schon nicht werden«, sage ich gelassen. »Es war immerhin unsere freie Entscheidung herzukommen, oder?«
»Bei Saks schon«, sagt Perry. »Nur mal so für die Akten oder als Inschrift auf meinem Grabstein: Ich hätte mich nie für Gregorstoun entschieden.«
Saks verdreht die Augen und beugt sich zu mir herunter. »Perry jammert über diesen Ort herum, seit er zwölf ist. Deshalb habe ich beschlossen, mir mit eigenen Augen anzuschauen, was das ganze Gedöns soll.« Sie wirft die langen dunklen Haare über eine Schulter. »Abgesehen davon – wenn das Internat gut genug für eine Prinzessin ist, dann ist es bestimmt auch gut genug für mich.«
Sie rückt noch ein wenig näher und senkt die Stimme. »Prinzessin Flora ist hier«, flüstert sie gut hörbar. »Also die Prinzessin Flora.«
»Schon klar, nicht die andere, die Billigmarke«, unke ich. »Kriegt sie ihr spezielles Turmzimmer oder so?«
Sakshi zieht die Nase kraus. »Hast du sie nicht gesehen? Angeblich wohnt sie auf deinem Stockwerk.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe keine Prinzessinnen gesichtet«, erwidere ich und dann …
Nein.
Mit trockenem Mund frage ich: »Hat einer von euch ein Telefon dabei? Könnt ihr mir mal ein Bild von ihr zeigen?«
Perry schüttelt den Kopf, doch Saks sieht sich kurz um, dann greift sie in ihren Rockbund und zieht ein rosé-goldenes iPhone heraus.
»Saks, es muss im Sekretariat bleiben – du wirst Ärger bekommen«, warnt Perry, doch Sakshi hebt bloß einen Finger und schaltet mit dem anderen das Telefon an.
»Hier ist sie«, sagt sie. »Bei einer Shoppingtour in New Town in einem echt tollen Mantel.«
Schon bevor sie das Handy in meine Richtung hält, weiß ich Bescheid, trotzdem ist es ein körperlicher Schock, Prinzessin Flora auf dem Bild wiederzuerkennen.
Meine Zimmergenossin.